Neue Terror-Vorwürfe gegen Menschenrechtsanwalt

Die Illustration zeigt die Rückansicht zweier Männer, die einen dritten Mann abführen, dessen Hände gefesselt und Augen verbunden sind.

Am 30. August verhörte die Staatsanwaltschaft für Staatssicherheit den willkürlich inhaftierten Menschenrechtsanwalt Mohamed el-Baqer in einem neu eröffneten Fall. Sie erhebt haltlose Anklagen gegen ihn – unter anderem wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation".

Appell an

Public Prosecutor

Hamada al-Sawi

Office of the Public Prosecutor

Madinat al-Rehab, Cairo

ÄGYPTEN

Sende eine Kopie an

Botschaft der Arabischen Republik Ägypten

S.E. Herrn Khaled Mohamed Galaleldin Abdelhamid

Stauffenbergstraße 6-7

10785 Berlin


Fax: 030-477 1049

E-Mail:
embassy@egyptian-embassy.de

Amnesty fordert:

  • Ich fordere Sie höflich auf, Alaa Abdel Fattah und Mohamed el-Baqer umgehend und bedingungslos freizulassen und alle Anklagen gegen die beiden Männer fallenzulassen, da sie nur wegen der friedlichen Ausübung ihrer Menschenrechtsarbeit inhaftiert sind.
  • Stellen Sie bitte sicher, dass Alaa Abdel Fattah und Mohamed el-Baqer bis zu ihrer Freilassung Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung sowie regelmäßigen Kontakt zu ihren Familien und Rechtsbeiständen erhalten.
  • Bitte sorgen Sie dafür, dass eine Untersuchung der Vorwürfe wegen Folter und anderweitigen Misshandlungen eingeleitet wird.

Sachlage

Der ägyptische Menschenrechtsanwalt Mohamed el-Baqer und der Aktivist Alaa Abdel Fattah sind seit dem 1. Oktober 2019 willkürlich im Hochsicherheitsgefängnis Tora 2 in Kairo inhaftiert. Amnesty International betrachtet sie als gewaltlose politische Gefangene, die allein wegen der friedlichen Ausübung ihrer Menschenrechte inhaftiert sind.

Mohamed el-Baqer wurde am 30. August 2020 von der Staatsanwaltschaft für Staatssicherheit (Supreme State Security Prosecution, SSSP) zu einem neuen Fall (Nr. 855/2020) verhört. Die SSSP ist eine Spezialeinheit der Staatsanwaltschaft und ist verantwortlich für die Strafverfolgung von Delikten, die die "Staatssicherheit" gefährden. Während des Verhörs wurde Mohamed el-Baqer der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" und der "Beteiligung an einer kriminellen Absprache zur Verübung eines terroristischen Verbrechens" bezichtigt. Letztere Straftat soll er verübt haben, als er im Gefängnishof Sport trieb und während er bei Anhörungen im Büro der Staatsanwaltschaft anwesend war. Laut seinen Rechtsbeiständen sind diese Anschuldigungen haltlos, weil der Angeklagte vom 10. März 2020 bis zum 22. August 2020 im Zuge der Aufhebungen der Gefängnisbesuche wegen COVID-19 von der Außenwelt abgeschnitten war. Seine Rechtsbeistände hoben außerdem hervor, dass ihm untersagt wurde, während seiner Inhaftierung überhaupt Sport zu treiben. Am Ende des Verhörs ordnete die Staatsanwaltschaft eine 15-tägige Untersuchungshaft an.

Seit dem 22. August sind Gefängnisbesuche wieder erlaubt. Bei ihrem letzten Besuch am 22. September 2020 erfuhren seine Verwandten, dass Mohamed el-Baqer an Darmkrämpfen leidet und im Gefängnis medizinisch versorgt wird. Die Angehörigen von Alaa Abdel Fattah konnten ihn seit August zweimal besuchen, das letzte Mal am 1. Oktober. Am 28. September 2020 wurde die Inhaftierung von Alaa Abdel Fattah in seiner Gegenwart um weitere 45 Tage verlängert.

Kurz nach ihrer Festnahme am 29. September 2019 verbanden die Polizist_innen auf dem Weg in das Gefängnis beiden Männern die Augen, schlugen und traten Alaa Abdel Fattah und beleidigten Mohamed el-Baqer.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Mohamed el-Baqer und Alaa Abdel Fattah sind seit dem 29. September 2019 im Zusammenhang mit einem anderen Fall (Nr. 1356/2019) inhaftiert. Auch bei diesem Fall wurden haltlose Anschuldigungen wie "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation", "Finanzieren einer terroristischen Organisation", "Verbreitung von Falschmeldungen zur Untergrabung der Staatssicherheit" und "Nutzung der Sozialen Medien zur Verübung eines Veröffentlichungsdeliktes" gegen sie erhoben. Ihre Inhaftierung steht im Kontext der größten Festnahmewelle seit dem Amtsantritt von Präsident Abdel Fattah al-Sisi im Jahr 2014.

Alaa Abdel Fattah kam am 29. März 2019 auf Bewährung frei, nachdem er wegen der Teilnahme an einem friedlichen Protest eine ungerechte fünfjährige Haftstrafe verbüßt hatte. Seine Bewährungsauflagen sahen vor, dass er über einen Zeitraum von fünf Jahren jede Nacht zwölf Stunden auf einer Polizeiwache verbringen muss. Am 29. September 2019 kehrte Alaa Abdel Fattah nicht von der Polizeiwache des Kairoer Stadtbezirks Dokki zurück, auf der er die Nacht verbringen sollte. Die Polizei sagte seiner Mutter, dass der Aktivist von Angehörigen des Geheimdiensts NSA zur Staatsanwaltschaft der Staatssicherheit gebracht worden sei. Mohamed el-Baqer betrat später an diesem Tag das SSSP-Gebäude, um den Aktivisten als Anwalt zu vertreten. Laut Angaben von Familienangehörigen und Freund_innen war der Verbleib von Alaa Abdel Fattah und Mohamed el-Baqer bis zum 1. Oktober 2019 unbekannt, als sie zum ersten Mal seit ihrer Festnahme im Hochsicherheitsgefängnis Tora 2 wieder auftauchten. Seit ihrer Inhaftierung ist es Mohamed el-Baqer und Alaa Abdel Fattah verboten, Bücher zugeschickt zu bekommen und Sport zu treiben. Auch ein Radio, Matratzen und heißes Wasser werden ihnen verweigert.

Am 20. und 21. September 2019 brachen in mehreren ägyptischen Städte Proteste aus, bei denen der Rücktritt des Präsidenten gefordert wurde. Amnesty International hat dokumentiert, wie die ägyptischen Sicherheitskräfte bei diesen Protesten zahlreiche friedliche Protestierende, Journalist_innen, Menschenrechtsanwält_innen, Menschenrechtsverteidiger_innen und politische Persönlichkeiten festnahmen, um Kritiker_innen zum Schweigen zu bringen und von weiteren Protesten abzuschrecken. Die Behörden nahmen mindestens 3.715 Personen wegen "Terrorismus"-Vorwürfen in Untersuchungshaft. Das gegen die Inhaftierten eingeleitete Ermittlungsverfahren ist das größte, das in Ägypten jemals im Zusammenhang mit Protesten geführt wurde.

Im September 2020 brachen in mehreren ägyptischen Dörfern, Städten und armen vorstädtischen Gemeinden kleine dezentrale Proteste aus, bei denen gegen den von der Regierung veranlassten Abriss von Häusern, die ohne staatliche Genehmigung gebaut worden waren, und gegen ein diesbezügliches Entschädigungsgesetz demonstriert wurde. Einige Protestierende sangen Sprechchöre gegen den Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi und warfen den Behörden die Tötung eines Mannes während einer Polizeirazzia im Gouvernement Luxor vor. Die ägyptischen Sicherheitskräfte gingen mit Tränengas, Schlagstöcken, Schrotmunition und bei mindestens einem Zwischenfall auch mit scharfer Munition gegen die Demonstrierenden vor, um die Proteste aufzulösen. Laut Informationen der Ägyptischen Kommission für Rechte und Freiheiten (Egyptian Commission for Rights and Freedoms, ECRF) und der Ägyptischen Front für Menschenrechte (Egyptian Front for Human Rights, EFHR) nahmen die ägyptischen Sicherheitskräfte vom 10. bis zum 29. September 2020 zwischen 571 und 735 Menschen in 17 verschiedenen Gouvernements fest. Sie alle wurden wegen falschen "Terrorismus"-Vorwürfen und Anklagen in Verbindung zu dem Protest in Untersuchungshaft genommen.

In den letzten Monaten umging die Staatsanwaltschaft für Staatssicherheit (SSSP) zunehmend Entscheidungen der Gerichte oder Strafverfolgungsbehörden, Inhaftierte aus der verlängerten Untersuchungshaft freizulassen, indem sie einfach neue Haftbefehle wegen ähnlicher Anklagen ausstellten. Der neu eröffnete Fall Nr. 855/2020 richtet sich nicht nur gegen Mohamed el-Baqer, sondern auch gegen andere gewaltlose politische Gefangene, die sich aufgrund ähnlicher Ermittlungen zu haltlosen "Terrorismus"-Vorwürfen in Untersuchungshaft befinden. Darunter sind zum Beispiel die Menschenrechtsverteidigerin Mahienour el-Masry sowie die Journalistinnen Solafa Magdy und Esraa Abdelfattah. Laut Informationen von Amnesty International stützen sich die von der Staatsanwaltschaft erhobenen Vorwürfe gegen sie hauptsächlich auf Ermittlungsakten des Geheimdiensts NSA. Weder die Angeklagten noch ihre Rechtsbeistände durften Einsicht in diese Akten nehmen.

Alaa Abdel Fattah ist ein bekannter politischer Aktivist und Regierungskritiker, der in den letzten Jahren mehrmals festgenommen wurde, unter anderem wegen seines Engagements bei den Protesten von 2011. Mohamed el-Baqer ist Menschenrechtsanwalt und Direktor des Adalah Center for Rights and Freedoms, das er 2014 gegründet hatte. Die Organisation beschäftigt sich mit Strafjustiz, dem Recht auf Bildung und den Rechten von Schüler_innen und Studierenden.