Amnesty Report 01. Juni 2016

Kamerun 2016

 

Die bewaffnete Gruppierung Boko Haram zerstörte das Leben Tausender Menschen im Norden von Kamerun. Sie verübte Verbrechen im Sinne des Völkerrechts, darunter rechtswidrige Tötungen, Angriffe auf zivile Einrichtungen, eignete sich das Hab und Gut anderer an und war für Plünderungen und Entführungen verantwortlich. Bei ihren Versuchen, Boko Haram zurückzudrängen, waren die Sicherheitskräfte ihrerseits für willkürliche Festnahmen, Inhaftierungen, Verschwindenlassen und außergerichtliche Hinrichtungen mutmaßlicher Mitglieder von Boko Haram verantwortlich. Hunderttausende Flüchtlinge aus Nigeria und der Zentralafrikanischen Republik lebten nach wie vor unter schlechten Bedingungen. Die Rechte auf freie Mei-nungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit waren weiterhin eingeschränkt. Menschenrechtsverteidiger wurden eingeschüchtert und schikaniert. Daran beteiligten sich auch Amtsträger der Regierung. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgeschlechtliche und Intersexuelle (LGBTI) waren weiterhin Diskriminierung, Einschüchterungsversuchen, Schikanen und anderen Übergriffen ausgesetzt. Allerdings gab es im Vergleich zu den Vorjahren weniger Festnahmen und strafrechtliche Verfol-gungen von LGBTI. Das am 23. Dezember 2014 verkündete Antiterrorgesetz schränkte nicht nur die Grundrechte und -freiheiten ein, es erweiterte auch die Straftatbestände, für die die Todesstrafe verhängt werden konnte.

Hintergrund

Als Folge der Gewalt in der Zentralafrikanischen Republik und im Südosten Kameruns sowie der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Boko Haram und den Sicherheitskräften in der Region Extrême-Nord war die Lage im ganzen Land instabil. Durch die deutliche Verstärkung der Sicher-heitskräfte in der Region Extrême-Nord wurde verhindert, dass Boko Haram die Kontrolle über kamerunischen Boden übernehmen konnte. Die Sicherheitskräfte schützten die Zivilbevölkerung in einigen Fällen nicht vor Angriffen und begingen ihrerseits Verbrechen im Sinne des Völkerrechts und Menschenrechtsverletzungen.

Menschenrechtsverstöße durch bewaffnete Gruppen

Boko Haram beging Verbrechen im Sinne des Völkerrechts und Menschenrechtsverstöße, darunter Selbstmordanschläge in Gebieten, in denen sich Zivilpersonen aufhielten, summarische Hinrichtungen, Folterungen, Geiselnahmen, Entführungen, Rekrutierung von Kindersoldaten, Plünderungen und Zerstörungen von staatlichen, privaten sowie religiösen Einrich-tungen. Diese Verbrechen waren offenbar Teil der systematischen Angriffe auf die Zivilbevölkerung im Nordosten Nigerias und der Region Extrême-Nord in Kamerun. Nach Angaben der Vereinten Nationen hat Boko Haram in Kamerun seit 2013 insgesamt 770 Zivilpersonen getötet und etwa 600 Frauen und Mädchen entführt. Durch die Angriffe von Boko Haram auf Schulen waren seit 2014 rund 35 000 Kinder von Bildungsmöglichkeiten ausgeschlossen.

Am 4. Februar 2015 griff Boko Haram die Ortschaft Fotokol an. Die Kämpfer töteten mindestens 90 Zivilpersonen sowie 19 Soldaten und setzten zahlreiche Gebäude in Brand. Am 17. April 2015 griff Boko Haram die Ortschaft Bia an und tötete mindestens 16 Zivilpersonen, darunter zwei Kinder. Mehr als 150 Häuser wurden in Brand gesteckt. In Maroua wurden zwischen dem 22. und dem 25. Juli 2015 bei drei Selbstmordanschlägen in dichtbevölkerten Vierteln mindestens 33 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt. Im Zeitraum zwischen Juli und Dezember 2015 starben bei Selbstmordanschlägen etwa 120 Zivilpersonen. Bei den Anschlägen setzte Boko Haram Mädchen ein, von denen einige erst 13 Jahre alt waren.

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen

Die Sicherheitskräfte nahmen in der Region Extrême-Nord mindestens 1000 Menschen fest, denen die Unterstützung von Boko Haram vorgeworfen wurde. Dafür wurden u. a. Gebiete abgeriegelt und durchsucht; zahlreiche Männer und Jungen wurden zusammengetrieben und festgenommen. Bei diesen Operationen gingen die Sicherheitskräfte mit unverhältnismäßiger Gewalt vor und begingen Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Festnahmen, rechtswidrige Tötungen – einschließlich der Tötung eines siebenjährigen Mädchens – und Eigentumszerstörung. Sie waren außerdem für Menschenrechtsverletzungen wie Verschwindenlassen, Todesfälle in Gewahrsam und Misshandlungen von Gefangenen verantwortlich.

Nach einer Razzia in einer Koranschule in der Stadt Guirvidig am 20. Dezember 2014 waren 84 Jungen sechs Monate lang in einem Kinderzentrum in Maroua inhaftiert, ohne dass Anklage gegen sie erhoben wurde.

Im Rahmen ihrer Operationen gegen Boko Haram nahmen die Sicherheitskräfte nach wie vor Journalisten ohne Anklageerhebung fest und inhaftierten sie. Der kamerunische Journalist Simon Ateba wurde am 28. August 2015 im Flüchtlingslager Minawao festgenommen und von kamerunischen Beamten vier Tage lang in Gewahrsam festgehalten. Er war nach Minawao gefahren, um über die Lebensumstände nigerianischer Flüchtlinge zu recherchieren. Er wurde beschuldigt, für Boko Haram zu spionieren. Ahmed Abba, Korrespondent des Senders Radio France Internationale, wurde am 30. Juli 2015 in Maroua festgenommen und über drei Monate ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten, bevor man ihn wegen "Anstiftung zum und Rechtfertigung des Terrorismus" unter Anklage stellte.

Die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen erklärte am 27. April, dass die Inhaftierung der französisch-kamerunischen Rechtsanwältin Lydienne Yen Eyoum ein Willkürakt sei.

Todesfälle in Gewahrsam

Am 27. Dezember 2014 riegelten die Sicherheitskräfte im Rahmen einer Fahndungsoperation die Ortschaften Magdeme und Doublé ab und nahmen mehr als 200 Männer und Jungen fest. In der Nacht starben mindestens 25 Männer in einer provisorischen Zelle. 45 Männer wurden am nächsten Tag ins Gefängnis von Maroua überstellt. Der Aufenthaltsort von mindestens 130 Männern und Jungen blieb ungeklärt. Es ist davon auszugehen, dass sie Opfer des Verschwindenlassens wurden, und es gibt Anhaltspunkte dafür, dass noch mehr Menschen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte gestorben sind. Die Identität der Opfer und der Ort, an dem sich ihre Leichen befinden, müssen noch durch interne Ermittlungen festgestellt werden. Dazu müssen auch wichtige Zeugen befragt werden.

Haftbedingungen

Die Haftbedingungen waren weiterhin schlecht und geprägt von chronischer Überbelegung der Gefängnisse, mangelhafter Ernährung, unzureichender medizinischer Versorgung und miserablen hygienischen Zuständen und Einrichtungen. Diese Zustände wurden durch die vielen Festnahmen vermeintlicher Boko-Haram-Anhänger zusätzlich verschlimmert. Im Gefängnis von Maroua befanden sich mehr als 1300 inhaftierte Personen, also mehr als das Dreifache der vorgesehenen Kapazität von 350 Personen. Im Zeitraum von März bis Mai 2015 starben dort mehr als 40 Insassen. Die Zahl der Gefangenen des für 2000 Personen ausgelegten Zentralgefängnisses in Yaoundé betrug ungefähr 4100. Die Hauptursachen für die Überbelegung in den Gefängnis-sen im Jahr 2015 waren neben der Vielzahl von festgenommenen mutmaßlichen Boko-Haram-Anhängern die hohe Zahl nicht angeklagter Inhaftierter und das ineffiziente Justizsystem. Als Reaktion auf diese Situation stellte die Regierung finanzielle Mittel für den Bau weiterer Zellen im Gefängnis von Maroua bereit und sicherte zu, im ganzen Land neue Gefängnisse zu bauen.

Rechte von Flüchtlingen und Migranten

Im Grenzgebiet zur Zentralafrikanischen Republik (ZAR) im Osten Kameruns lebten mindestens 180 000 Flüchtlinge aus der ZAR unter extrem schlechten Bedingungen in überfüllten Lagern. Seit der Eskalation der Gewalt im Nordosten Nigerias waren zudem Hunderttausende Menschen von dort über die Grenze nach Kamerun geflohen. Im Flüchtlingslager Minawao in der Region Extrême-Nord lebten im Dezember 2015 mehr als 50 000 Flüchtlinge, 75% von ihnen im Alter von acht bis 17 Jahren. Es gab Befürchtungen, dass die kamerunischen Streitkräfte nigerianische Staatsangehörige, die seit langer Zeit in Kamerun lebten, unter dem Vorwurf, Boko Haram zu unterstützen, nach Nigeria abschoben. Damit verstießen die Streitkräfte gegen die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen

Obwohl die Zahl der Festnahmen und strafrechtlichen Verfolgungen im Vergleich zu den Vorjahren abnahm, gaben Diskriminierung, Einschüchterungsversuche, Schikanen und Gewalt, die sich gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgeschlechtliche und Intersexuelle (LGBTI) richteten, weiterhin Anlass zu Besorgnis. Die nach wie vor bestehende Kriminalisierung einvernehmlicher sexueller Handlungen zwischen Menschen des gleichen Geschlechts führte dazu, dass Personen wegen ihrer vermeintlichen sexuellen Orientierung immer noch Repressalien ausgesetzt waren und erpresst wurden, woran sich auch die Sicherheitskräfte beteiligten. Zwei Personen waren wegen Anklagen im Zusammenhang mit ihrer sexuellen Identität weiterhin im Gefängnis. Eine der betroffenen Personen wartete auf den Beginn des Prozesses gegen sie. Am 14. Juli fand eine friedliche, von einer LGBTI-Organisation veranstaltete Demonstration zum Gedenken an den Tod von Eric Lembembe statt, der sich für die Rechte von LGBTI engagiert hatte. Die Demonstrierenden forderten eine gründliche Untersuchung seines Todes.

Menschenrechtsverteidiger

Menschenrechtsverteidiger waren nach wie vor Einschüchterungsversuchen, Repressalien und Drohungen ausgesetzt. Nachdem das Netzwerk zentralafrikanischer Menschenrechtsverteidiger (Réseau de Défenseurs des Droits Humains de l’Afrique Centrale – REDHAC) im Februar 2015 eine Erklärung zu dem mutmaßlichen Tod in Gewahrsam von mehr als 50 Menschen in Maroua veröffentlicht hatte, wurden im Fernsehen und in der Presse Morddrohungen gegen die Geschäftsführerin des Netzwerks Maximilienne Ngo Mbe und gegen seine Präsidentin Alice Nkom ausgesprochen. Maximilienne Ngo Mbe hatte wegen ihrer Menschenrechtsarbeit wiederholt Drohungen erhalten.

Der Vorsitzende der Menschrechtsorganisation Os-Civile, Alhadji Mei Ali, wurde seit Juli 2015 mehrmals von Behördenvertretern bedroht. Zuvor hatte Alhadji Mei Ali sich in einer Aktion dafür eingesetzt, die Verantwortlichen für die Ermordung eines Menschenrechtsverteidigers zur Rechenschaft zu ziehen. Der Ermordete hatte 2011 die Ernennung zweier traditi-oneller Führungspersonen angefochten.

Rechte auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Vermeintliche oder tatsächliche Gegner der Regierung durften ihr Recht, friedliche Aktivitäten oder Demonstrationen zu organisieren, nicht wahrnehmen. Am 15. September 2015 wurden fünf Mitglieder von Dynamique Citoyenne – einem Dachverband mehrerer zivilgesellschaftlicher Organisationen – festgenommen, als sie ein Seminar über die Durchführung von Wahlen und über demokratischen Wandel abhielten. Sie wurden sieben Tage ohne Anklageerhebung in Gewahrsam gehalten.

Journalisten berichteten, dass sie Selbstzensur übten, um nicht durch Kritik an der Regierung Probleme zu bekommen. Dies galt vor allem für Sicherheitsfragen. Der Nationale Medienrat belegte im Jahr 2015 mehr als 20 Medienunternehmen mit Sanktionen. Die Gewerkschaft der Journalisten legte gegen einige Entscheidungen Rechtsmittel ein. Weil sie ihre Informationsquellen nicht offenlegen wollten, drohte den Jour-nalisten Rodrigue Tongué, Felix Ebole Bola und Baba Wamé Ende des Jahres weiterhin ein Verfahren vor einem Militärgericht.

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