Amnesty Report Serbien 24. April 2024

Serbien 2023

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Verurteilte Kriegsverbrecher wurden von staatlicher Seite glorifiziert, während die strafrechtliche Aufarbeitung von Kriegsverbrechen nur sehr langsam voranschritt. Unabhängige und investigativ arbeitende Journalist*innen und Aktivist*innen wurden bedroht, diffamiert und mit Zivilklagen überzogen. Der Entwurf für ein Gesetz über interne Angelegenheiten stellte eine weitere Bedrohung für das Recht auf Versammlungsfreiheit dar. Rom*nja wurde der Zugang zu Sozialfürsorgeleistungen unverhältnismäßig oft verweigert.

Hintergrund

Serbien strebte weiterhin einen EU-Beitritt an, hegte aber gleichzeitig seine langjährigen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland. Staatsbediensteten auf allen Ebenen wurde Korruption vorgeworfen.

Im März 2023 einigten sich Serbien und der Kosovo unter EU-Vermittlung auf eine Vereinbarung über die Normalisierung ihrer diplomatischen Beziehungen und eine Verbesserung der Zusammenarbeit. Darüber hinaus stimmte Serbien zu, den Beitritt Kosovos zu internationalen und europäischen Institutionen nicht zu blockieren. Im September 2023 kam es zu Spannungen zwischen den beiden Ländern, als ein kosovarischer Polizist im Dorf Banjska im Norden des Kosovo getötet wurde, nachdem sich 30 bewaffnete Serben in einem orthodoxen Kloster verbarrikadiert hatten. Drei der serbischen Angreifer kamen ebenfalls ums Leben. Serbien und die NATO stationierten nach dem Vorfall an beiden Seiten der Grenze Soldat*innen, zogen diese im Oktober aber wieder ab. 

Im Mai 2023 kam es zu zwei separaten Amokläufen, bei denen ein Jugendlicher und ein 20-Jähriger insgesamt 17 Menschen töteten und 21 weitere verletzten. Die Öffentlichkeit reagierte schockiert, und das Bündnis "Serbien gegen Gewalt" hielt im ganzen Land Protestmärsche ab, bei denen gefordert wurde, dass die staatlichen Institutionen für die Tötungen zur Verantwortung gezogen werden. Zudem forderten sie, Fernsehsendern, die zu Gewalt aufriefen, die nationale Sendelizenz zu entziehen.

Bei den Wahlen am 17. Dezember errang die Regierungspartei SNS (Serbische Fortschrittspartei) regional und landesweit die Mehrheit. Internationale Beobachter*innen dokumentierten jedoch erhebliche Unregelmäßigkeiten. Gegen Ende des Jahres versammelten sich Zehntausende Menschen tagelang in der Hauptstadt Belgrad, um die Annullierung der Wahlergebnisse zu fordern.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Im Mai 2023 bestätigte der Internationale Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe (IRMCT) die Schuldsprüche gegen Jovica Stanišić und Franko Simatović, zwei ehemalige Mitarbeiter des serbischen Sicherheitsdiensts. Die beiden Männer waren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in Bosnien und Herzegowina verurteilt worden. Der IRMCT erhöhte das Strafmaß für beide Männer zudem von 12 auf 15 Jahre Haft. 

Die Glorifizierung verurteilter Kriegsverbrecher förderte eine Kultur der Straflosigkeit und beeinträchtigte auch 2023 weiterhin den Zugang der Opfer zu Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. 1.700 Fälle waren noch immer nicht untersucht worden.

Im Oktober hob das Berufungsgericht ein Urteil des Hohen Gerichts von Belgrad vom Februar 2023 gegen drei bosnisch-serbische Paramilitärs und einen Soldaten auf. Das Hohe Gericht hatte sie für schuldig befunden, im Februar 1993 20 Menschen, von denen die meisten die montenegrinische Staatsbürgerschaft hatten, aus Štrpci in Bosnien und Herzegowina verschleppt und ermordet zu haben.

Etwa 15.000 zivile Kriegsopfer waren nach wie vor von Entschädigungsleistungen ausgeschlossen. Die Leistungen wurden in Fällen verweigert, in denen Personen außerhalb Serbiens getötet oder verletzt worden waren oder wenn die Folgeschäden als zu gering erachtet wurden. Dies betraf Angehörige der Opfer sowie die meisten von sexualisierter Kriegsgewalt betroffenen Menschen.

Verschwindenlassen 

Im Mai 2023 erklärte sich Serbien bereit, dem Kosovo Zugang zu Archiven zu gewähren, um die Ermittlungen zum Verbleib und die Identifizierung von mehr als 1.620 Personen zu unterstützen, die weiterhin als vermisst galten. Auch als geheim eingestufte Akten wurden hierfür freigegeben.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Im April 2023 äußerten acht europäische Medienorganisationen die Befürchtung, die offene Feindseligkeit serbischer Politiker*innen gegenüber kritischen Medien, die von der Boulevardpresse noch angeheizt wurde, könnte dazu führen, dass Drohungen und Angriffe gegen unabhängige Journalist*innen zur Regel würden. Journalist*innen, die unabhängig über die Vorfälle in Banjska (siehe "Hintergrund") berichteten, wurden als Verräter*innen und Staatsfeind*innen gebrandmarkt. Medienschaffende, die zu organisiertem Verbrechen und Korruption arbeiteten, gerieten besonders oft ins Visier. Im Juli 2023 berichteten Journalist*innen-Organisationen, dass Angriffe im Internet zur Norm geworden seien. Der Unabhängige Journalist*innenverband Serbiens dokumentierte 2023 elf tätliche Angriffe auf Journalist*innen. In den wenigsten Fällen kam es dabei zu Ermittlungen gegen die Täter*innen.

Investigativjournalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen wurden zum Ziel von strategischen Gerichtsverfahren gegen öffentliche Beteiligung (SLAPP-Klagen). Im Mai 2023 wurde die gemeinnützige Organisation zur Korruptionsbekämpfung Mreža za istraživanje kriminala i korupcije (KRIK) wegen des Offenlegens der Identität von Personen, die solche SLAPP-Klagen gegen die Organisation angestrengt hatten, zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt. Die meisten der namentlich bekannt gemachten Personen standen der Regierung nahe. Im September 2023 wies das Gericht von Novi Sad eine von fünf SLAPP-Klagen ab, die gegen die Umweltaktivistin Dragana Arsić und zwei Umweltorganisationen angestrengt worden waren, nachdem diese gegen die Aktivitäten von Unternehmen im Nationalpark Fruška Gora protestiert hatten. 

Im August 2023 wurden Graffitis mit frauenfeindlichen Drohungen gegen Sofija Todorović, Programmdirektorin der Jugendinitiative für Menschenrechte, in der Nähe ihres Hauses aufgesprüht. Sie hatte zuvor ihre Unterstützung für eine UN-Mitgliedschaft des Kosovo zum Ausdruck gebracht.

Recht auf friedliche Versammlung

Im Januar 2023 begann die serbische Regierung eine Konsultation zu einem Entwurf für ein Gesetz über interne Angelegenheiten. Der Gesetzesvorschlag sah die Legalisierung des Einsatzes von biometrischer Massenüberwachung an öffentlichen Orten sowie einen größeren Ermessensspielraum für die Behörden in Bezug auf das Auflösen öffentlicher Versammlungen vor. Zudem bewilligte das Gesetz eine Reihe von Zwangsmaßnahmen gegen Protestierende, ohne genaue Bestimmungen zum Rahmen oder den Umständen zu beinhalten, unter denen diese eingesetzt werden dürfen. Behörden und Privatunternehmen griffen großflächig auf Überwachungskameras und andere Formen der Überwachung zurück.

Demonstrationen wurden engmaschig überwacht, insbesondere solche, bei denen es um Umweltthemen ging. Dabei kam es regelmäßig zum Einsatz von oftmals unnötiger und unverhältnismäßiger Gewalt gegen die Teilnehmenden. Im März 2023 ging die Bereitschaftspolizei gegen friedliche Protestierende vor, die Abholzarbeiten im Zusammenhang mit einem Städtebauprojekt in Novi Sad verhindern wollten. Für die "Überwachung" von Protesten engagierten die Behörden immer wieder private Sicherheitsfirmen, deren Mitarbeitende manchmal in Zivil gekleidet waren und ohne sichtbare Erkennungsmerkmale agierten. Dabei kam es häufig zum Einsatz rechtswidriger Gewalt.

Recht auf Privatsphäre

Im November 2023 wurde der Einsatz komplexer Spionagesoftware durch "staatlich finanzierte Angreifer*innen" gegen Mitglieder der Zivilgesellschaft aufgedeckt.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Im Laufe des Jahres 2023 wurden mindestens 27 Frauen durch Femizide getötet. In Sozialhilfezentren gab es häufig nicht genügend Sozialarbeiter*innen oder Psycholog*innen, die im Bereich häusliche Gewalt geschult waren. Die Finanzierung der 24 von NGOs geführten Notunterkünfte für Betroffene, die Therapiemöglichkeiten, einen Zufluchtsort und Rechtshilfe bereitstellten, war nicht gesichert.

Die Definition von Vergewaltigung im serbischen Strafgesetzbuch gründete auf der Anwendung von Gewalt oder Zwang und nicht auf der fehlenden Einwilligung. Dies stand im Widerspruch zu internationalen und regionalen Standards.

Journalistinnen, Menschenrechtsverteidigerinnen und Aktivistinnen wurden immer wieder mit Gewalt bedroht, sowohl im Internet als auch im öffentlichen Raum. 

Recht auf soziale Sicherheit

Das 2022 eingeführte Gesetz zur Sozialfürsorge hatte für einige Menschen ein Leben in extremer Armut ohne jeglichen Zugang zu Sozialleistungen zur Folge. Das Gesetz führte zu einer Schwächung des ohnehin schon unzureichenden Sozialhilfesystems, von dessen Leistungen weniger als die Hälfte der in extremer Armut lebenden Menschen profitierten. Rom*nja sowie Menschen mit nicht anerkannten Behinderungen waren unverhältnismäßig stark von den Folgen des Gesetzes betroffen, was ihre soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung noch weiter verstärkte. 

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Im Mai 2023 wurde die Leiche einer vermissten 18-jährigen trans Frau in Belgrad gefunden, was innerhalb der LGBTI-Gemeinschaft Angst auslöste. Im August gab Präsident Vučić bekannt, dass er dem Anfang 2021 eingebrachten Entwurf für ein Gesetz über gleichgeschlechtliche Partnerschaften niemals zustimmen werde. 

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Im März 2023 forderte die internationale Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen die EU angesichts exzessiver Gewalt und Pushbacks an der serbischen Grenze zu den EU-Ländern Ungarn und Bulgarien auf, Vorfälle an der Grenze und das Verhalten der europäischen Grenzbehörde Frontex stärker zu überprüfen. Im Juni begann die serbische Polizei damit, regelmäßig Flüchtlinge und Migrant*innen aus Behelfslagern im Norden des Landes zu räumen. Laut dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge waren bis 30. November 2023 mehr als 101.098 Personen nach Serbien eingereist, von denen jedoch nur wenige Asyl beantragt hatten.

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