Amnesty Report Großbritannien und Nordirland 24. April 2024

Großbritannien und Nordirland

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Die britische Regierung verfolgte weiterhin eine politische Linie, die gegen ihre internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen verstieß und den Menschenrechtsschutz einschränkte. Die entsprechenden Maßnahmen richteten sich insbesondere gegen Asylsuchende und andere Migrant*innen sowie gegen Protestierende. Neue Gesetze höhlten die Rechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit weiter aus. Eine Untersuchung stellte institutionellen Rassismus und andere Formen der Diskriminierung bei der Polizei fest. In Nordirland waren Schwangerschaftsabbrüche zwar entkriminalisiert, doch war es nach wie vor schwierig, den Eingriff vornehmen zu lassen. Im Rest des Vereinigten Königreichs waren Schwangerschaftsabbrüche abgesehen von den gesetzlich geregelten Ausnahmen weiterhin strafbar. Ein neues Gesetz sah vor, die Untersuchung und strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen, die während des Nordirlandkonflikts verübt worden waren, einzustellen. Verschiedene Berufsbranchen wurden gesetzlich verpflichtet, während eines Streiks ein Mindestmaß an Dienstleistungen sicherzustellen. 

Hintergrund

Im März 2023 nahm der UN-Menschenrechtsrat den Abschlussbericht der Allgemeinen Regelmäßigen Überprüfung des Vereinigten Königreichs (UPR-Prozess) an. Ein 2022 vorgelegter Gesetzentwurf (Bill of Rights Bill), der die wichtigste britische Menschenrechtsgesetzgebung (Human Rights Act) ersetzen sollte, wurde offiziell zurückgezogen. Dennoch blieb der Human Rights Act unter Beschuss, indem seine Anwendung auf andere Gesetze peu à peu eingeschränkt wurde und die Regierung sich abwertend über ihn äußerte. Es gab zunehmend hitzige politische Debatten darüber, ob das Land aus der Europäischen Menschenrechtskonvention austreten solle. Im Gegensatz dazu begann die schottische Regierung mit einer öffentlichen Konsultation über ein neues schottisches Menschenrechtsgesetz, um den Menschenrechtsschutz in Schottland auszuweiten. 

Recht auf eine gesunde Umwelt

Im September 2023 kündigte die britische Regierung an, sie werde wichtige Maßnahmen verschieben oder nicht umsetzen, die dazu beitragen sollten, das Ziel von Netto-Null-Emissionen bis 2050 zu erreichen. Ein geplantes Verkaufsverbot für neue Benzin- und Dieselfahrzeuge wurde von 2030 auf 2035 verschoben. Die Abschaffung von Flüssiggasthermen für Wohngebäude wurde von 2026 auf 2035 verschoben. Die Vorgabe für Vermieter*innen, Wohngebäude bis 2028 besser zu dämmen, wurde gestrichen. Im November kündigte die Regierung ein neues Gesetz an, das es Energiekonzernen erlaubt, sich jährlich um neue Öl- und Gasbohrlizenzen zu bewerben. Demnach sollen die Ausschreibungen so lange stattfinden, wie der Import fossiler Brennstoffe im jeweiligen Jahr die inländische Produktion zu übersteigen droht und die Kohlenstoffemissionen aus der neuen inländischen Förderung geringer sind als die aus importierten Brennstoffen. Die Regierung behauptete weiterhin, sie werde das Ziel der Netto-Null-Emissionen bis 2050 erreichen, wohingegen NGOs bezweifelten, dass dies mit den bisherigen politischen Maßnahmen zu schaffen sei.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Im Mai 2023 verabschiedete das Parlament ein Gesetz über die öffentliche Ordnung (Public Order Act) und setzte damit das harte Vorgehen gegen friedliche Proteste fort, das mit dem 2022 verabschiedeten Polizeigesetz (Police, Crime, Sentencing and Courts Act) begonnen hatte. Das Gesetz über die öffentliche Ordnung kriminalisierte verschiedene Formen friedlichen Protests wie z. B. das Anketten an Gebäude oder Gegenstände (lock-ons) und erteilte der Polizei weitere Befugnisse für Personenkontrollen. Zudem führte es die Möglichkeit ein, Personen die Teilnahme an Demonstrationen zu verbieten (protest banning orders) und einstweilige Verfügungen gegen friedliche Protestierende zu verhängen. 

Im Juni 2023 wurden zusätzliche Regelungen verabschiedet (Public Order Act 1986 [Serious Disruption to the Life of the Community] Regulations 2023), die die Befugnisse der Polizei erweiterten, Auflagen für Protestveranstaltungen zu verhängen, und bei Verstößen auch Gefängnisstrafen möglich machten. Die Auflagen umfassten alles, was die Polizei für erforderlich hielt, um eine "schwere Beeinträchtigung" zu verhindern. Diese war definiert als eine Behinderung, die "mehr als nur eine geringfügige Beeinträchtigung alltäglicher Aktivitäten" darstellt.

Bei der Krönung von König Charles III. im Mai 2023 wurden zahlreiche friedliche Demonstrierende festgenommen, einige davon präventiv. In den meisten Fällen wurden die Anklagen anschließend wieder fallen gelassen. 

Menschen, die friedlich für den Schutz der Umwelt protestierten, mussten das gesamte Jahr über mit Festnahme, Strafverfolgung und Inhaftierung rechnen. In einigen Fällen hinderten Richter*innen die Angeklagten daran, sich zu ihrer Verteidigung vor Gericht auf den Klimawandel oder andere Umweltbelange zu berufen. Ignorierten sie die entsprechenden Anordnungen, konnten sie wegen Missachtung des Gerichts angeklagt und zu einer Haftstrafe verurteilt werden. 

Nach den Angriffen der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 und der anschließenden israelischen Bombardierung und Bodeninvasion des Gazastreifens kam es in Großbritannien regelmäßig zu großen friedlichen Protesten, die einen Waffenstillstand forderten. Die Innenministerin und andere Kabinettsmitglieder bezeichneten die Demonstrationen als "Hassmärsche" und übten Druck auf die Polizei aus, die Proteste zu verbieten. Nachdem die Polizeiführung erklärte, sie habe keine rechtliche Handhabe für ein Verbot, stellte die Regierung weitere Gesetze in Aussicht, um die Befugnisse der Polizei, gegen gewaltlose Proteste vorzugehen, zu erweitern.

Die Behörden entzogen einigen Menschen, die sich mit einem befristeten Visum in Großbritannien aufhielten, die Aufenthaltserlaubnis, weil sie sich an propalästinensischen Demonstrationen beteiligt hatten. 

Unverantwortliche Rüstungsexporte

Im Juni 2023 wies das Hohe Gericht in London eine Klage der Organisation CAAT (Campaign Against Arms Trade) ab, die gefordert hatte, die Waffenlieferungen an Saudi-Arabien angesichts des anhaltenden Konflikts im Jemen nicht fortzusetzen. Nach Ansicht des Gerichts hatte die Regierung nicht "irrational" gehandelt, als sie die Lieferverträge verlängerte.

NGOs äußerten sich besorgt über die fortlaufende Lieferung von Kampfflugzeugteilen an Israel. Im Dezember 2023 beantragten zwei NGOs eine gerichtliche Überprüfung der Ausfuhrgenehmigungen für Militärausrüstung, die von der israelischen Armee im Gazastreifen eingesetzt werden könnte. Das Verfahren war Ende des Jahres noch anhängig. 

Diskriminierung

Im Januar 2023 verhinderte die britische Regierung das Inkrafttreten des vom schottischen Parlament verabschiedeten Gesetzes zur Geschlechtsanerkennung (Gender Recognition Reform Act). Die schottische Regierung legte vor dem höchsten Zivilgericht (Court of Session) Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein, verlor das Verfahren aber im Dezember. 

Im Februar 2023 veröffentlichte die britische Regierung den Bericht von William Shawcross, der das staatliche Programm zur Bekämpfung von Radikalisierung (Prevent) überprüft hatte. Der Bericht enthielt zahlreiche Empfehlungen und forderte u. a., das Prevent-Programm solle sich stärker der Bekämpfung des "gewaltfreien islamistischen Extremismus" widmen, wohingegen das Vorgehen gegen die "extreme Rechte" eingeschränkt werden solle. Recherchen von Amnesty International zu Prevent ergaben, dass das Programm diskriminierend war und die Gedanken- und Meinungsfreiheit beeinträchtigte.

Im März 2023 wurde der Bericht von Louise Casey veröffentlicht, die im Auftrag der Regierung die Verhaltensstandards und die interne Arbeitskultur der für den Großraum London zuständigen Polizei (Metropolitan Police) überprüft hatte. Der Bericht stellte institutionellen Rassismus, Sexismus, Homofeindlichkeit und zahlreiche weitere Probleme in der Behörde fest. Im Mai räumte der scheidende schottische Polizeipräsident in einer Rede ein, dass es im Polizeiapparat institutionellen Rassismus, Sexismus, Frauenfeindlichkeit und Diskriminierung gebe.

Die Kinderbeauftragte für England und Wales und die Polizeibehörde von Nordirland veröffentlichten im März bzw. Juni 2023 Erkenntnisse über polizeiliche Leibesvisitationen von Minderjährigen, bei denen sich diese nackt ausziehen mussten. Der Bericht der Kinderbeauftragten wies auf zahlreiche Probleme hin. So wurden z. B. Schwarze Minderjährige bis zu sechsmal häufiger einer solchen Leibesvisitation unterzogen als andere Minderjährige. 

Nach dem 7. Oktober 2023 nahmen Berichte über antisemitische und islamfeindliche Hassverbrechen drastisch zu. Nach Angaben der Metropolitan Police wurden vom 1. Oktober bis 13. November 779 antisemitische Straftaten registriert, was einem Anstieg von 1.200 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum entsprach. Außerdem wurden 343 islamfeindliche Straftaten angezeigt, was einen Anstieg um 236 Prozent bedeutete.

Sexuelle und reproduktive Rechte

In Nordirland waren Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert. Im Rest des Vereinigten Königreichs (England, Wales und Schottland) waren Schwangerschaftsabbrüche weiterhin strafbar, abgesehen von den gesetzlich geregelten Ausnahmen, über deren Vorliegen Ärzt*innen im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden hatten. Im Jahr 2023 standen in Großbritannien sechs Frauen wegen illegaler Schwangerschaftsabbrüche unter Anklage. Im Juli 2023 verurteilte ein Berufungsgericht eine Frau zu 14 Monaten Haft auf Bewährung, nachdem sie sich schuldig bekannt hatte, per Abtreibungspille einen Schwangerschaftsabbruch nach der gesetzlich erlaubten Frist vorgenommen zu haben.

In Nordirland gab es trotz der Entkriminalisierung Hindernisse beim Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen. Die Gründe dafür waren u. a. zahlreiche Versäumnisse der nordirischen Regierung, unterfinanzierte und unterbesetzte Dienste sowie Fehlinformationen und Tabus rund um das Thema. Zudem gab es Ärzt*innen, die sich aus Gewissensgründen weigerten, Abbrüche vorzunehmen.

Straflosigkeit

Im September 2023 trat das Gesetz zur Bewältigung des Konflikterbes in Nordirland (Northern Ireland Troubles [Legacy and Reconciliation] Bill) in Kraft. Es kam faktisch einer Amnestie gleich, da es vorsah, alle Untersuchungen und Ermittlungen zu Tötungen und anderen Menschenrechtsverletzungen im Konfliktzeitraum 1966-1998 einzustellen. Stattdessen sollte eine abgespeckte Überprüfung durch eine neue Unabhängige Kommission für Versöhnung und Informationsgewinnung (Independent Commission for Reconciliation and Information Recovery) erfolgen. Das Gesetz wurde von Überlebenden, politischen Parteien in Nordirland, der irischen Regierung und einer Reihe internationaler Menschenrechtsbeobachter*innen heftig kritisiert. Betroffene und ihre Familien legten Rechtsmittel gegen das Gesetz ein. Im Dezember kündigte die irische Regierung eine Klage gegen Großbritannien vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an, da die Bestimmungen des Gesetzes ihrer Ansicht nach gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstießen.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Im Juni 2023 trat das "Gesetz gegen illegale Migration" (Illegal Migration Act) in Kraft. Das Gesetz und die damit verbundenen Äußerungen der Regierung standen im Widerspruch zur Genfer Flüchtlingskonvention und zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Personen, die ohne die erforderliche Erlaubnis ins Land gekommen waren, durften demnach keinen Asylantrag stellen, sondern sollten abgeschoben werden und eine lebenslange Einreisesperre erhalten. Das Gesetz untermauerte damit eine bereits bestehende Regelung, wonach Menschen, die über Länder eingereist waren, die als sicher galten, kein Recht auf Asyl hatten. Dies traf auf die Mehrzahl der Asylsuchenden im Land zu.

Im November entschied der Oberste Gerichtshof, dass das Vorhaben der Regierung, Asylsuchende nach Ruanda abzuschieben, rechtswidrig sei. Als Reaktion darauf unterzeichnete die Regierung einen neuen Vertrag mit der ruandischen Regierung und brachte im Parlament ein Gesetz ein, das die Gerichte verpflichten würde, Ruanda als sicheren Drittstaat zu betrachten. Damit würden weite Teile des Human Rights Act und andere rechtliche Instrumente zum Schutz der Menschenrechte ausgehebelt und die Eingriffsmöglichkeiten von Gerichten erheblich beschränkt. Ende 2023 war der Gesetzgebungsprozess noch nicht abgeschlossen.

Im September 2023 wurden die Ergebnisse einer von der Regierung in Auftrag gegebenen Untersuchung von Misshandlungen im Abschiebezentrum Brook House veröffentlicht. Der Bericht stellte fest, dass die Misshandlung von Inhaftierten dort an der Tagesordnung war. So sei es innerhalb von fünf Monaten zu 19 Fällen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung durch das Personal gekommen. Dennoch sah das neue "Gesetz gegen illegale Migration" weitere Befugnisse vor, um Personen wegen ihrer Einwanderungsabsicht zu inhaftieren, ohne dass es eine wirksame gerichtliche Kontrolle gab.

Die Äußerungen der Regierung und der Medien über Migrant*innen wurden 2023 immer feindseliger. Im September nahm die Innenministerin insbesondere schwule und weibliche Flüchtlinge sowie Opfer des Menschenhandels ins Visier. Schutzmaßnahmen für unbegleitete Minderjährige sowie für Migrant*innen, die Menschenhandel überlebt hatten, wurden durch das "Gesetz gegen illegale Migration" reduziert oder ganz abgeschafft. Gleichzeitig wurden die Visagebühren drastisch erhöht, wodurch sich die schwierige finanzielle Situation von Migrant*innen in Großbritannien noch verschärfte.

Arbeitnehmer*innenrechte

Als Reaktion auf ausgedehnte Streiks von Staatsbediensteten in Schulen, Universitäten, Krankenhäusern und bei der Bahn verabschiedete das Parlament im Juli 2023 ein Gesetz über das Mindestmaß an Dienstleistungen bei Streiks (Strikes [Minimum Service Levels] Act), das möglicherweise gegen das Recht auf Vereinigungsfreiheit verstieß. Das Gesetz gab den Regierungsmitgliedern weitreichende Befugnisse zur Festlegung des Dienstleistungsniveaus, das während eines Streiks in einer Reihe von breit definierten Branchen wie Gesundheit, Bildung und Verkehr aufrechterhalten werden muss. Beschäftigte, die sich nicht an entsprechende Arbeitsanweisungen halten, verlieren ihren Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung. Zudem müssen die Gewerkschaften dafür sorgen, dass die in der Arbeitsanweisung benannten Gewerkschaftsmitglieder nicht streiken, andernfalls drohen ihnen hohe Geldstrafen. 

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