Amnesty Report Griechenland 07. April 2021

Griechenland 2020

Aufnahme bei Nacht: Im Hintergrund schlagen meterhohe Flammen in den Himmel, dunkler Rauch, im Vordergrund sieht man nur die Silhouette einer Person

Berichtszeitraum: 1. Januar 2020 bis 31. Dezember 2020

Die Sparmaßnahmen des vergangenen Jahrzehnts erschwerten 2020 weiterhin den Zugang zu einer bezahlbaren Gesundheitsversorgung. Nach wie vor wurden Vorwürfe über Folter und andere Misshandlungen sowie exzessive Gewaltanwendung durch die Polizei erhoben. Es gab Berichte über weitere Push-Backs von Geflüchteten und Migrant_innen an Land und auf See. Im Oktober befand ein Gericht in Athen die rechtsextreme Partei Goldene Morgenröte in einem historischen Urteil für schuldig, eine kriminelle Organisation zu sein. Das Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos wurde durch Brände zerstört.

Hintergrund

Im Oktober 2020 wies der Internationale Währungsfonds darauf hin, dass die Corona-Pandemie die bescheidene wirtschaftliche Erholung Griechenlands unterbrochen habe. Das BIP sei in den ersten sechs Monaten des Jahres um 7,9% geschrumpft.

Recht auf Gesundheit

Eine im April 2020 veröffentlichte Studie kam zu dem Schluss, dass die in den vorherigen zehn Jahren beschlossenen Sparmaßnahmen den Zugang zu einer bezahlbaren Gesundheitsversorgung in Griechenland noch weiter erschwert haben. Infolgedessen wurde es für viele Menschen schwieriger, die Kosten für medizinische Versorgung aufzubringen und Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem zu erhalten. Die verheerenden Auswirkungen dieser Maßnahmen, von denen die Ärmsten und am stärksten Ausgegrenzten in unverhältnismäßiger Weise betroffen waren, sowie die Art und Weise ihrer Umsetzung verletzten das Recht auf den höchsten verfügbaren Gesundheitsstandard. Viele Herausforderungen, mit denen das Gesundheitspersonal bereits konfrontiert war, wie z.B. die schwierige Situation aufgrund des Personalmangels, wurden durch Covid-19 noch verschärft.

Folter und andere Misshandlungen

Es wurden auch 2020 wieder Vorfälle von Misshandlungen und exzessiver sowie anderer rechtswidriger Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte gemeldet. Unter den Betroffenen befanden sich Personen, die in Solidarität mit Geflüchteten protestiert hatten. Auch Geflüchtete und Migrant_innen sowie Menschen, die sich auf öffentlichen Plätzen versammelten, als die Behörden damit begannen, die Corona-Beschränkungen zu lockern, zählten zu den Betroffenen.

Im Mai 2020 sprach ein Gericht in Athen dem Journalisten Manolis Kypreos eine Entschädigung zu, da es den griechischen Staat für dessen schwere Verletzung verantwortlich machte. Ein Polizeibeamter hatte im Jahr 2011 eine Blendgranate auf den Journalisten geworfen. Die Behörden entschieden im Oktober 2020, gegen das Urteil Rechtsmittel einzulegen. Die Entscheidung löste Bedenken darüber aus, welche Auswirkungen dies auf das Recht von Manolis Kypreos auf einen wirksamen Rechtsbehelf haben würde.

Ebenfalls im Oktober 2020 begann ein Strafgericht in Athen mit der Verhandlung eines Falles gegen zwei Zivilisten und vier Polizisten, die wegen des Todes des LGBTI-Aktivisten Zak Kostopoulos im September 2018 angeklagt waren.

Rechte von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migrant_innen

Die Anzahl der auf dem Land- und Seeweg ankommenden Flüchtlinge ging im Laufe des Jahres stark zurück: 2020 wurden insgesamt 15.669 Ankünfte verzeichnet, im Vergleich zu 74.613 im Jahr 2019.

Im Mai 2020 wurden durch Änderungen der Asyl- und Migrationsgesetze die verfahrensrechtlichen und materiellen Schutzmaßnahmen für Einzelpersonen weiter eingeschränkt. Die Änderungen weiteten die Inhaftierungsmöglichkeiten bei Asyl- und Rückführungsverfahren aus und sahen die Schaffung neuer Einrichtungen vor, die mit einem System des kontrollierten Ein- und Auszugs die offenen Lager ersetzen sollten.

Die Regierung gab an, dass die gesunkenen Ankunftszahlen eine Folge ihrer migrationspolitischen Maßnahmen seien, doch Covid-19 und das härtere Vorgehen bei der Kontrolle der Grenzen hatten ebenfalls Einfluss auf die Zahlen. In zahlreichen Fällen begleiteten Berichte über Push-Backs und Gewalt die schärferen Grenzkontrollen.

 

Push-Backs

Nachdem die Türkei am 27. Februar 2020 angekündigt hatte, Asylsuchende und Migrant_innen nicht mehr an der Einreise in die EU zu hindern, versuchten Zehntausende von Menschen nahe des türkisch-griechischen Grenzflusses Evros die Grenze nach Griechenland zu überqueren. Griechenland reagierte mit der Entsendung von Grenztruppen, die Tränengas, Wasserwerfer und Plastikgeschosse gegen die Personen einsetzten, die den Versuch unternahmen, die Grenze zu überqueren. Menschen vor Ort berichteten über eine Reihe von Übergriffen durch griechische Grenztruppen, darunter exzessive Gewaltanwendung, Schläge, den Einsatz von scharfer Munition, rechtswidrige Festnahmen und systematische Zurückdrängung in die Türkei, was zum Tod von mindestens zwei Männern und dem Verschwinden einer Frau führte. Die griechischen Behörden leugneten wiederholt, derartige Praktiken angewandt zu haben.

Zu den Maßnahmen, die Griechenland zur Bewältigung der Situation an seinen Grenzen ergriff, gehörten die am 2. März 2020 erfolgte Aussetzung der Asylanträge für einen Monat und die willkürliche Festnahme der meisten Geflüchteten und Migrant_innen, die auf dem Seeweg ankamen.

Im selben Monat lobte die EU-Kommission Griechenland als "Schutzschild" Europas und mobilisierte zusätzliche Gelder zur Unterstützung des griechischen Migrationsverfahrens; zusätzliche Mittel wurden auch von der EU-Grenz- und Küstenwache FRONTEX eingesetzt.

NGOs und andere Akteur_innen dokumentierten 2020 zudem zahlreiche mutmaßlich von griechischen Sicherheitsbehörden durchgeführte Push-Back-Vorfälle sowie Praktiken auf See, die Geflüchtete und Migrant_innen in Gefahr brachten.

Nach entsprechenden Vorwürfen nahm FRONTEX 2020 interne Untersuchungen zur eigenen Beteiligung an Pushbacks in der Ägäis auf.

Situation auf den ägäischen Inseln

Trotz der rückläufigen Anzahl ankommender Geflüchteter erreichte die Überbelegung in den fünf von der EU geförderten "Hotspots" auf den ägäischen Inseln im März ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit beherbergte das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos, das eine Kapazität von 3.000 Menschen hat, fast 20.000 Personen. Die Lagerbewohner_innen kämpften weiterhin mit unhygienischen Bedingungen, unzureichender medizinischer Versorgung, Sicherheitsmängeln und Gewalt, einschließlich geschlechtsspezifischer Gewalt.

Zwischen dem 8. und 10. September zerstörten aufeinanderfolgende Brände das Flüchtlingslager Moria, sodass die mindestens 12.000 Bewohner_innen tagelang im Freien auf einer von der Polizei abgesperrten Straße schlafen mussten, ohne einen angemessenen Zugang zu Unterkünften, sanitären Einrichtungen und Nahrung zu haben. Bis zum 17. Dezember konnten 553 unbegleitete Minderjährige von Griechenland in andere europäische Länder umgesiedelt werden, 406 davon allein aus Lesbos. Andere Bewohner_innen des Flüchtlingslagers Moria wurden in ein neues provisorisches Zeltlager verlegt, in dem Bedingungen herrschten, die NGOs und das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) kritisierten. Die EU-Kommission bildete eine Taskforce, um die Situation auf Lesbos in Zusammenarbeit mit den griechischen Behörden in den Griff zu bekommen.

Reaktion auf Covid-19 in Asylunterkünften

Als Reaktion auf Covid-19 schränkte Griechenland die Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden innerhalb und außerhalb der Aufnahmelager ein. In vielen Einrichtungen kam es das ganze Jahr über zur wiederholten und diskriminierenden Anordnung solcher Maßnahmen. Unter anderem wurden in den überfüllten Lagern auf Lesbos und Samos Covid-19-Ausbrüche registriert und Personen unter Quarantäne gestellt. Die schwierigen Lebensbedingungen führten dazu, dass bei der Durchführung von Quarantäne-Maßnahmen die Grundrechte der Menschen nicht immer gewahrt wurden.

Lage auf dem Festland

Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge wurden 2020 in zunehmender Zahl auf das griechische Festland gebracht. Bis 30. November waren es 13.500 Personen.

Ab Juni mussten Tausende von Menschen, die den internationalen Schutzstatus erhalten hatten, die Aufnahmeeinrichtungen in Griechenland verlassen, nachdem eine Gesetzesänderung die Unterstützungszahlungen für die Unterbringung verringert hatte. Medien und NGOs dokumentierten, dass viele von ihnen auf dem Festland Schwierigkeiten beim Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen hatten und in Athen im Freien schliefen.

Kriminalisierung der Solidarität

Im April und September 2020 schränkten neue Vorschriften die Möglichkeiten von NGOs stark ein, zu Migrations- und Asylfragen zu arbeiten. Während die Strafverfahren gegen die Seenotretter_innen Sarah Mardini und Séan Binder anhängig blieben, wurden im Oktober Strafanzeigen gegen 33 NGO-Mitglieder angekündigt. Die unabhängige Flüchtlingsunterkunft PIKPA wurde geschlossen und ihre Bewohner_innen wurden in eine andere Einrichtung auf Lesbos verlegt.

Trotz der im April erfolgten offiziellen Einführung eines neuen Verfahrens, das den Zugang von Asylsuchenden zur öffentlichen Gesundheitsversorgung sicherstellen soll, sahen sich die Betroffenen weiterhin mit Schwierigkeiten konfrontiert.

Diskriminierung

In einem im Oktober gefällten, bahnbrechenden Urteil befand ein Athener Gericht die politische Führung der rechten Partei Goldene Morgenröte für schuldig, eine kriminelle Organisation zu betreiben. Mitglieder der Goldenen Morgenröte begingen eine Reihe von Gewaltverbrechen, darunter Angriffe auf Flüchtlinge, Migrant_innen, Gewerkschafter_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen. 43 Parteimitglieder, darunter elf ehemalige Parlamentsabgeordnete, wurden wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung schuldig gesprochen. Giorgos Roupakias, Mitglied der Goldenen Morgenröte, wurde der im Jahr 2013 erfolgten Ermordung des antifaschistischen Sängers Pavlos Fyssas für schuldig befunden, und 15 weitere Angeklagte wurden als Mittäter verurteilt. Das Gericht verurteilte darüber hinaus fünf Personen wegen versuchten Mordes an einem ägyptischen Fischer und vier Angeklagte wegen des tätlichen Angriffs auf Gewerkschafter der Kommunistischen Partei Griechenlands.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Im Juli 2020 äußerten NGOs, Gewerkschaften und politische Parteien ernsthafte Bedenken über einen umstrittenen Gesetzentwurf zur Regulierung öffentlicher Versammlungen. Das Gesetz trat am 11. Juli in Kraft und enthielt eine Bestimmung, die die Organisator_innen einer Versammlung bei Verstößen gegen die gesetzlichen Bestimmungen persönlich haftbar macht.

Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen

Nach wie vor kam es zu schweren Verletzungen der Rechte von Kriegsdienstverweigernden, einschließlich wiederholter Strafverfolgung, Geldstrafen und Prozessen vor Militärgerichten. Im Oktober 2020 wurde ein 45-jähriger Kriegsdienstverweigerer von einem Militärgericht aus verfahrenstechnischen Gründen freigesprochen. Sein Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer war im Jahr 2004 vom Verteidigungsminister abgelehnt worden.

Die Verfahren zur Prüfung von Anträgen auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer waren für fast 15 Monate ausgesetzt. Der Ausschuss, der mit der Prüfung solcher Anträge beauftragt war, nahm nach seiner Reformierung erst im Juli 2020 seine Arbeit wieder auf. Ein Rechtsmittel gegen eine 2019 erfolgte Verlängerung der Dauer des Zivildienstes vor dem Obersten Verwaltungsgericht war Ende 2020 noch anhängig.

Recht auf Bildung

Der Gefängnisinsasse und Universitätsstudent Vasilis Dimakis trat im April und Mai 2020 in einen Hunger- und Durststreik, um dagegen zu protestieren, dass ihn seine Verlegung in das Grevena-Gefängnis und anschließend in eine Isolationszelle der Frauenabteilung des Korydallos-Gefängnisses daran hinderte, sein Studium fortzusetzen. Ende Mai beendete Vasilis Dimakis seinen Streik, da der zivilgesellschaftliche Druck zu seiner Unterstützung Wirkung zeigte und er in seine ursprüngliche Zelle im Korydallos-Gefängnis zurückgebracht wurde. Dort konnte er sein Studium fortsetzen.

Grausame, unmenschliche oder erniedrigende Strafen

In einem am 9. April 2020 veröffentlichten Bericht wies das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe auf systemische Mängel in den griechischen Gefängnissen hin. Am selben Tag starb eine Gefangene im Eleonas-Gefängnis; Mitgefangene berichteten, dass sie keine angemessene medizinische Versorgung erhalten hatte. Gefängnisinsass_innen im ganzen Land teilten der Initiative für Häftlingsrechte mit, dass ihnen keine persönliche Schutzausrüstung gegen Covid-19 zur Verfügung gestellt worden sei.

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