Amnesty Report Georgien 28. März 2023

Georgien 2022

Ein Mann mit erhobenen Armen vor einer Polizeikette

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Das Recht auf freie Meinungsäußerung geriet 2022 noch stärker unter Druck. Oppositionelle wurden weiterhin Opfer selektiver Rechtsanwendung und politisch motivierter strafrechtlicher Verfolgung. Neue Gesetze weiteten die staatlichen Überwachungsbefugnisse aus und untergruben die Unabhängigkeit der Justiz und offizieller Kontrollinstanzen. Frauen und Mädchen waren nach wie vor Diskriminierung und einem hohen Maß an Gewalt ausgesetzt. Es war weiterhin besorgniserregend, dass Folter und andere Misshandlungen weder in den Gebieten unter Regierungskontrolle noch in den abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien/Zchinwali gründlich untersucht wurden.

Hintergrund

Georgien befand sich nach wie vor in einer tiefgreifenden politischen Krise. Die Europäische Kommission entschied deshalb im Juni 2022, dem Land erst dann den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu verleihen, wenn es zwölf vorrangige Reformen umgesetzt hat, die u. a. die demokratische Regierungsführung, die Unabhängigkeit der Justiz und die Achtung der Menschenrechte betreffen.

Die großangelegte russische Militärinvasion in die Ukraine hatte zur Folge, dass mehr als 100.000 Personen aus Russland nach Georgien kamen und damit die Geldüberweisungen aus Russland sprunghaft anstiegen. Dies trug zum Wirtschaftswachstum Georgiens bei, führte aber auch zu höheren Lebenshaltungskosten und verstärkte wirtschaftliche Ungleichheiten. Viele junge Menschen verließen Georgien, weil sie kaum Aussichten auf eine Arbeitsstelle hatten.

Im März 2022 äußerte sich der Europäische Ausschuss für soziale Rechte besorgt darüber, dass die Regierung nicht die notwendigen Maßnahmen ergriff, um die Umweltverschmutzung zu bekämpfen, für sauberes Trinkwasser zu sorgen und die soziale Absicherung aller Arbeitnehmer*innen sowie deren unterhaltsberechtigter Angehöriger zu gewährleisten.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die zunehmend aggressive Rhetorik staatlicher Stellen sowie Verleumdungsklagen gegen kritische Journalist*innen hatten eine abschreckende Wirkung, was die Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit betraf. Hinzu kam, dass Verbrechen, die an Journalist*innen verübt wurden, nicht gründlich untersucht wurden. Die NGO Reporter ohne Grenzen stufte Georgien im Mai 2022 in ihrer Rangliste der Pressefreiheit von Platz 60 auf Platz 89 herab. Sie begründete dies u. a. damit, dass Staatsbedienstete Einfluss auf die Arbeit der Medien nahmen und damit die Meinungsfreiheit untergruben und dass Journalist*innen immer stärker angefeindet wurden. Beide Tendenzen waren das gesamte Jahr über zu beobachten.

Am 4. April 2022 verurteilte das Stadtgericht Tiflis sechs Männer zu Freiheitsstrafen von jeweils fünf Jahren wegen gewaltsamer Angriffe auf Journalist*innen während der Pride-Parade in Tiflis im Juli 2021, die zum Tod des Kameramanns Lekso Lashkarava geführt hatten. Diejenigen, die die Angriffe der gewaltbereiten Menschenmenge mutmaßlich organisiert hatten, wurden nicht strafrechtlich belangt.

Ein ehemaliger hochrangiger Geheimdienstmitarbeiter schrieb im Juli 2022 in einem Brief aus der Untersuchungshaft, die Entführung und Verschleppung des aserbaidschanischen Journalisten Afgan Mukhtarli nach Aserbaidschan im Jahr 2017 sei durch den Geheimdienst erfolgt. Im Oktober erklärte Afgan Mukhtarli im regierungskritischen georgischen Fernsehsender Pirveli TV, er habe auf Fotos einen hochrangigen georgischen Geheimdienstmitarbeiter als einen seiner Entführer wiedererkannt. Die Entführung wurde nicht gründlich untersucht, und Ende 2022 war noch niemand diesbezüglich angeklagt worden.

Recht auf Privatsphäre

Am 6. September 2022 überstimmte das Parlament ein Veto der Staatspräsidentin und verabschiedete eine umstrittene Änderung der Strafprozessordnung, die verdeckte Ermittlungen betraf. Die Neuregelung verlieh den Strafverfolgungsbehörden mehr Befugnisse, indem sie den Umfang und die Dauer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen ausweitete und die zeitlich unbegrenzte Überwachung einer Person ohne deren Benachrichtigung erlaubte.

Oppositionelle, kritische Medien und NGOs wurden nach wie vor verdeckt überwacht. Im Juli 2022 veröffentlichten regierungsnahe Medien einen heimlich aufgenommenen Mitschnitt einer Redaktionskonferenz des regierungskritischen Fernsehsenders Mtavari. Im September gelangte weiteres Material an die Öffentlichkeit, darunter Audioaufnahmen und Fotos, die Details aus dem Privatleben von Journalist*innen, Mitgliedern oppositioneller Parteien und Aktivist*innen preisgaben, was vermuten ließ, dass der Geheimdienst die betreffenden Personen ausspioniert hatte. Ein neu geschaffener Sonderermittlungsdienst begann mit einer Untersuchung möglicher "unerlaubter Mitschnitte und Lauschangriffe auf private Kommunikation", doch wurden bis zum Jahresende keine Ergebnisse veröffentlicht.

Unfaire Gerichtsverfahren

Die wachsende Einflussnahme der Regierung auf die Justiz, die selektive Anwendung des Rechts und die politisch motivierte Verfolgung von Oppositionellen und kritischen Medien gaben weiterhin Anlass zur Sorge.

Im Januar 2022 wurden die führenden Vertreter der Oppositionspartei Lelo, Mamuka Khazaradze und Badri Japaridze, sowie der Gründer von Pirveli TV, Avtandil Tsereteli, wegen politisch motivierter Betrugsvorwürfe zu sieben Jahren Haft verurteilt. Sie blieben aber auf freiem Fuß, weil die Tat zum Zeitpunkt des Urteils bereits verjährt war. Badri Japaridze verlor jedoch aufgrund des Schuldspruchs sein parlamentarisches Mandat.

Der Prozess gegen den ehemaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili wurde fortgesetzt, obwohl sich dessen Gesundheitszustand permanent verschlechterte. Trotz ärztlicher Gutachten, die eine "Vergiftung durch Schwermetalle" für möglich hielten und von einem "deutlich erhöhten Sterberisiko" sprachen, hatte ein Gericht in Tiflis Ende 2022 dem Antrag seiner Rechtsbeistände auf Haftverschonung aus gesundheitlichen Gründen noch nicht stattgegeben. Im März 2022 ließ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerden über die Verletzung von Saakaschwilis Recht auf ein faires Verfahren zu. Im Mai wurde Nika Gvaramia, der Direktor des Fernsehsenders Mtavari, wegen konstruierter Vorwürfe des Machtmissbrauchs zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil im November.

Im Juni 2022 kritisierte die Venedig-Kommission des Europarats die Geschwindigkeit und den Umfang der 2021 vorgenommenen Änderungen des Verfassungsgesetzes über ordentliche Gerichte. Diese wirkten sich möglicherweise abschreckend auf die Meinungsfreiheit von Richter*innen und die richterliche Unabhängigkeit aus und hätten offenbar zum Ziel, Richter*innen "zu kontrollieren und zum Schweigen zu bringen". Im April 2022 fochten fünf Richter*innen das neue Gesetz vor dem Verfassungsgericht an, weil es ihrer Ansicht nach gegen den verfassungsmäßigen Schutz der Meinungsfreiheit verstieß.

Folter und andere Misshandlungen

Am 12. Januar 2022 wurde die Behörde zur Untersuchung von Verstößen durch die Polizei aufgelöst und durch zwei neue Agenturen ersetzt. Stimmen aus der Zivilgesellschaft kritisierten, die Entscheidung zugunsten von Agenturen, die weniger effektiv und weniger unabhängig seien, schwäche die staatlichen Möglichkeiten, Fälle von Folter und anderen Misshandlungen, Todesfälle in Gewahrsam und weitere von der Polizei verübte Menschenrechtsverletzungen wirksam zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Rechte von Frauen und Mädchen

Im Zeitraum Januar bis September 2022 berichteten die Medien über 14 Morde und 23 versuchte Morde an Frauen. Es bestand die Sorge, dass Femizide und andere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt weiter zunehmen könnten. Die Behörden ergriffen weiterhin keine ausreichenden Maßnahmen, um die Säuglings- und Müttersterblichkeit zu senken. Auch die wirtschaftliche Benachteiligung von Frauen war nach wie vor alarmierend: Im März 2022 schätzte die Weltbank, dass 50 Prozent der Frauen in Georgien aufgrund häuslicher Aufgaben von der Erwerbsarbeit ferngehalten wurden, während dies nur auf 5 Prozent der Männer zutraf, und dass Frauen weiterhin rund 16 Prozent weniger verdienten als Männer.

Abchasien und Südossetien/Zchinwali

Die Menschenrechtslage in den beiden abtrünnigen Regionen Georgiens verschlechterte sich 2022 in mehreren Bereichen, u. a. bezüglich des Rechts auf Meinungsfreiheit. Menschenrechtsverletzungen, die in den Vorjahren verübt worden waren, blieben weiterhin straflos.

Folter und andere Misshandlungen

In Südossetien/Zchinwali starb am 31. August 2022 Gennady Kulaev infolge von Verletzungen, die man ihm im Jahr 2020 durch Schläge und andere Misshandlungen in der Haft zugefügt hatte. Weder sein Fall noch der von Inal Dzhabiev, der im Jahr 2020 aufgrund von Folter in der Haft gestorben war, wurden gründlich untersucht.

Auch zum Tod von Anri Ateiba in abchasischer Haft im Jahr 2021 gab es keine gründliche Untersuchung. Irakli Bebua, der inhaftiert worden war, weil er 2020 die abchasische Flagge verbrannt hatte, wurde Berichten zufolge eine angemessene medizinische Behandlung seiner chronischen Krankheiten verweigert.

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