Amnesty Report Bolivien 07. April 2021

Bolivien 2020

Ein Haus mit Transparenten und Plakaten in La Paz. Davor stehen zwei Frauen mit Sonnenschirmen.

Kulturzentrum mit eigener Radiostation: Das Haus der Frauenorganisation Mujeres Creando in der bolivianischen Hauptstadt La Paz.

Die soziale, wirtschaftliche, politische und menschenrechtliche Krise in Bolivien, die nach den Wahlen vom 20. Oktober 2019 begann, setzte sich im Jahr 2020 fort. Sie verschärfte sich noch durch die Corona-Pandemie, die im Land besorgniserregende Dimensionen annahm. Dabei waren Angehörige vulnerabler Bevölkerungsgruppen überdurchschnittlich stark betroffen. Menschenrechtsverteidiger_innen und Aktivist_innen, die sich für die Rechte der indigenen Bevölkerung einsetzten, Journalist_innen und tatsächliche oder vermeintliche politische Gegner_innen wurden weiterhin bedroht und schikaniert.

Hintergrund

Nachdem die Präsidentschaftswahl wegen Sicherheitsbedenken aufgrund der Corona-Pandemie zweimal verschoben worden war, einigten sich die Plurinationale Legislative Versammlung, die Interimsregierung und das Oberste Wahlgericht (Tribunal Supremo Electoral – TSE) am 13. August 2020 darauf, die Wahl am 18. Oktober 2020 abzuhalten. Nach Bekanntgabe der zweiten Terminverschiebung am 23. Juli nahmen landesweite Demonstrationen zu: Es wurden Straßensperren errichtet, obwohl sich sowohl die Behörden als auch die allgemeine Bevölkerung darüber beschwerten, dass durch die Blockaden mehrere Gemeinden von der Versorgung mit zentralen Gütern abgeschnitten waren, die für die Bewältigung der Corona-Pandemie benötigt wurden. Es gab auch Berichte über Gewalttätigkeiten einiger Demonstrierender sowie zwischen verschiedenen Gruppen von Demonstrant_innen, bei denen die Sicherheitskräfte eingriffen. So wurde am frühen Morgen des 14. August ein Sprengstoffattentat auf das Büro der zentralen Arbeitergewerkschaft Boliviens (Central Obrera Boliviana – COB) in La Paz gemeldet. Die COB hatte bei den Demonstrationen eine zentrale Rolle gespielt.

Bolivien meldete die ersten Corona-Fälle im März 2020, woraufhin die Interimspräsidentin am 12. März den landesweiten Notstand ausrief. Mithilfe von Dekreten und nachfolgend verabschiedeten Gesetzen wurden neben anderen wirtschaftlichen und sozialen Vorkehrungen zusätzliche Quarantänemaßnahmen und obligatorische Ausgangssperren eingeführt, um die Pandemie zu bewältigen. Bis zum 31. Dezember 2020 meldete das Gesundheitsministerium insgesamt 160.124 bestätigte Corona-Fälle sowie 9.165 Todesfälle im Zusammenhang mit dem Virus.

Am 18. Oktober 2020 fanden Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftswahlen sowie Parlamentswahlen statt. Am 8. November trat Luis Arce, der Kandidat der Partei Movimiento Al Socialismo, das Amt des Präsidenten an.

Exzessive Gewaltanwendung 

Im Zuge der Krise nach den Wahlen im Oktober 2019 wurden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verübt. Die Nationalpolizei und die Streitkräfte wendeten exzessive und unnötige Gewalt an, um Demonstrationen zu unterbinden. Dabei starben mindestens 35 Menschen und 833 wurden verletzt. Diese Menschenrechtsverletzungen wurden weder angemessen untersucht, noch wurden die dafür Verantwortlichen vor Gericht gestellt. Somit herrschte Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen.

Straflosigkeit

Am 23. Januar 2020 verkündete die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (IAKMR), dass sie mit der Interimsregierung die Vereinbarung getroffen habe, eine Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Expert_innen (Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes – GIEI) zu gründen, um die zwischen dem 1. September und dem 31. Dezember 2019 begangenen Gewalttaten und Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Die Regierung zweifelte jedoch die Unabhängigkeit zweier von der IAKMR ernannter Mitglieder der GIEI öffentlich an. Am 28. April gab die IAKMR bekannt, dass der Expert_innenkreis durch ein fünftes Mitglied erweitert werden würde, "um die GIEI zu stärken". Außerdem hieß es, dass die Gruppe bald ihre Arbeit aufnehmen würde. Am 23. November 2020 wurde die GIEI eingesetzt. Sie gab am 22. Dezember bekannt, dass sie die "Vorphase" ihrer Arbeit abgeschlossen habe, die Treffen mit Opfer- und Zeugengruppen sowie mit Organisationen der Zivilgesellschaft umfasste.

Menschenrechtsverteidiger_innen

Menschenrechtsverteidiger_innen, unter ihnen Waldo Albarracín, wurden weiterhin bedroht und schikaniert. Ermittlungen zu Angriffen auf Menschenrechtler_innen wurden verzögert. Zudem erhielten sie keinen angemessenen Schutz von den Behörden, durch den sichergestellt wäre, dass sie ihre legitime Tätigkeit ungehindert ausüben können.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Journalist_innen und anderen zivilen Berichterstatter_innen zufolge wurde das Recht auf freie Meinungsäußerung durch Drohungen, Angriffe und Versuche, die nationalen und internationalen Medien zum Schweigen zu bringen, unverhältnismäßig stark eingeschränkt. Die Übergangsregierung schürte durch ihre öffentlichen Erklärungen und Vorschriften ein Klima der Angst und Zensur. Sie schikanierte und bedrohte politische Gegner_innen und Menschen, die als solche angesehen wurden, sprach öffentliche Drohungen aus und beschuldigte politische Führer_innen der Verbreitung von "Falschinformationen" und Journalist_innen der "Aufwiegelung". Außerdem bezichtigte sie mehrere Personen, einer "Bewegung zur Destabilisierung und Falschinformation" anzugehören und einen "virtuellen Krieg" gegen sie zu führen.

Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie erließ die Regierung verschiedene Verordnungen, die zahlreiche Bedenken aufwarfen, so z. B. die Dekrete 4199 und 4200 sowie 4231, eine modifizierte Fassung ersterer. Einige Artikel dieser Dekrete verletzten das Recht auf freie Meinungsäußerung. So enthielten sie z. B. den neu geschaffenen Straftatbestand Gefährdung der öffentlichen Gesundheit durch "Verbreitung von Falschinformationen" über Covid-19 oder "Auslösen von Verunsicherung in der Bevölkerung". Diese Dekrete wurden zwar später wieder aufgehoben, haben aber – neben Strafverfolgungsmaßnahmen und Inhaftierungen – zu einer weiteren Intensivierung der Schikane gegen tatsächliche oder vermeintliche politische Gegner_innen beigetragen.

 Rechte indigener Bevölkerungsgruppen

Indigene Bevölkerungsgruppen wurden überdurchschnittlich stark von der Pandemie beeinträchtigt. Ihr Recht auf Beteiligung an der Entscheidungsfindung in Angelegenheiten, die ihre Rechte betreffen, wurde weiterhin durch die Erteilung von Lizenzen für Wirtschaftsprojekte auf Gemeindeland ohne ihre freie, vorherige und informierte Zustimmung untergraben. Laut dem Büro der Ombudsperson wurden im Kontext der Pandemie keine gesundheitspolitischen Maßnahmen ergriffen, um die indigene Bevölkerung zu schützen. Außerdem habe man in den sozialen Medien eine Zunahme stigmatisierender rassistischer Inhalte registriert.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen

Am 3. Juli 2020 hob die Zweite Verfassungskammer des zuständigen Gerichts auf Ebene des Departamento (Tribunal Departamental De Justicia – TDJ) von La Paz eine Entscheidung des Nationalen Standesamts auf, mit der die Eintragung einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft verweigert worden war. Die Kammer wies das Standesamt an, sein Regelwerk so zu überarbeiten, dass es den internationalen Menschenrechtsstandards entspricht. Das Standesamt kam dieser Anordnung jedoch nicht nach. Stattdessen beantragte es beim Plurinationalen Verfassungsgericht Boliviens (Tribunal Constitucional Plurinacional – TCP), das Urteil nicht rechtskräftig werden zu lassen. Dieses Gesuch war Ende des Jahres noch anhängig. Am 9. Dezember kam das Standesamt der Anordnung der Kammer nach und erließ einen neuen Beschluss, der es zwei Männern ermöglichte, als erstes gleichgeschlechtliches Paar seine Lebensgemeinschaft eintragen zu lassen.

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