Amnesty Report Argentinien 04. Juli 2021

Argentinien 2020

Zwei Frauen umarmen sich mit Masken im Vordergrund. Hinter ihnen befinden sich viele weitere Demonstrantinnen.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2020 bis 31. Dezember 2020

Die Corona-Pandemie verschärfte die anhaltende Wirtschaftskrise des Landes. Während der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus kam es zu einem Anstieg geschlechtsspezifischer Gewalt. Indigene Bevölkerungsgruppen waren unverhältnismäßig stark von der Pandemie betroffen. Berichten zufolge kam es zu Fällen des Verschwindenlassens und exzessiver Gewaltanwendung durch die Polizei. Schwangerschaftsabbrüche innerhalb der ersten 14 Schwangerschaftswochen wurden für straffrei erklärt und legalisiert.

Hintergrund

Argentinien steckte weiterhin in einer tiefgreifenden Wirtschafts- und Sozialkrise. Im Juni 2020 lebten nach offiziellen Angaben 40,9 Prozent der Bevölkerung in Armut, und die Arbeitslosenquote betrug 13,1 Prozent. Die Rückzahlung der Schulden Argentiniens und die Frage, ob der Staat während der Pandemie und der Erholungsphase seiner Pflicht zum Schutz der wirtschaftlichen und sozialen Rechte nachkommen würde, gaben Anlass zu Besorgnis.

Im März 2020 wurde per Notstandserlass Nr. 297/20 ein landesweiter Lockdown mit Einschränkungen der Bewegungsfreiheit verhängt, um die Ausbreitung von Covid-19 einzudämmen.

Aufgrund strikter Kontrollen der Mobilität zwischen den Provinzen des Landes saßen Hunderte von Menschen ohne Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung und Hygieneeinrichtungen in anderen Provinzen fest. In einigen Fällen gelang es nicht, Familien wieder zusammenzuführen. Im November wies der Oberste Gerichtshof (Corte Suprema Nacional) die Regierung der Provinz Formosa an, 8.300 außerhalb der Provinz gestrandeten Personen nach einem achtmonatigen Einreiseverbot zu erlauben, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Die vollständige Umsetzung des Urteils stand noch aus.

Die vom Ministerium für Sicherheit genehmigte neue Polizeirichtlinie, die während des Gesundheitsnotstands den Einsatz von Open-Source Intelligence Tools (OSINT) – Informationsbeschaffung aus frei zugänglichen Quellen – vorsieht, löste Besorgnis hinsichtlich einer möglichen Online-Massenüberwachung aus.

Das Gesundheitspersonal sowie Arbeitskräfte in anderen systemrelevanten Bereichen spielten eine ausschlaggebende Rolle im Kampf gegen Covid-19. Bis zum 18. Dezember 2020 hatten sich 64.958 Angehörige des Gesundheitspersonals mit dem Corona-Virus infiziert.

Frauenrechte

Die Pandemie verschärfte und verdeutlichte die bestehenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Statistische Daten zeigten, dass unbezahlte Haus- und Pflegearbeit im Fall einer Vergütung 16 Prozent des BIP ausmachen würde. Frauen verrichteten über 75 Prozent der Haus- und Pflegearbeit in Argentinien.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Während der Pandemie wurde ein Anstieg der Gewalt gegen Frauen beobachtet. Bis November 2020 waren die Notrufe bei Beratungsstellen um durchschnittlich mindestens 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr angestiegen.

Angaben zivilgesellschaftlicher Monitoring-Gruppen zufolge wurden im Jahr 2020 mindestens 298 Femizide verübt.

Mit der Intensivierung der Online-Aktivitäten während der Lockdown-Maßnahmen erlebten Frauen zunehmend Gewaltandrohungen und Schikane in den sozialen Medien, insbesondere wenn sie sich für die Verteidigung der Frauenrechte einsetzten.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Im Dezember 2020 traf der Kongress eine historische Entscheidung, indem er Schwangerschaftsabbrüche innerhalb der ersten 14 Wochen der Schwangerschaft für straffrei erklärte und legalisierte. Ab der 15. Woche darf ein Abbruch vorgenommen werden, wenn das Leben oder die Gesundheit der schwangeren Person in Gefahr ist oder wenn die Schwangerschaft eine Folge von Vergewaltigung ist. Das Tausend-Tage-Programm (Programa de los Mil Días), das die umfassende Betreuung von Müttern und Neugeborenen während der ersten Lebensjahre stärken soll, wurde vom Senat im Dezember einstimmig angenommen.

Offiziellen Daten zufolge bringt in Argentinien im Durchschnitt alle vier Stunden ein Mädchen unter 15 Jahren ein Kind zur Welt. Die meisten dieser Minderjährigen werden gezwungen, Schwangerschaften auszutragen, die das Ergebnis sexueller Gewalt sind.

Während der Pandemie war der Zugang zu legalen Schwangerschaftsabbrüchen erschwert. Hinzu kam, dass die empfängnisverhütende Behandlung von Frauen und Mädchen in Gesundheitseinrichtungen aus Angst vor Covid-19 unterbrochen wurde.

Rechte indigener Bevölkerungsgruppen

Die Landrechte indigener Gemeinschaften wurden noch immer nicht legal anerkannt, obwohl ihr Recht auf die angestammten Territorien in der Verfassung verankert ist.

Privatpersonen und Sicherheitskräfte drangen weiterhin rechtswidrig in die angestammten Territorien der indigenen Gemeinschaften ein. Die Gemeinschaften waren Gewalt, Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit und Nahrungsmittelversorgung, unzureichendem Zugang zu sauberem Wasser und mangelhaften hygienischen und sanitären Bedingungen ausgesetzt.

Bedenken wurden laut wegen der Auswirkungen von Covid-19 auf die indigenen Gemeinschaften, die nach wie vor Hindernisse beim Zugang zu Sozialleistungen überwinden müssen.

Während der Pandemie erklärte die Zentralregierung den Bergbau zu einem systemrelevanten Wirtschaftssektor. Anlass zur Besorgnis gaben weiterhin Projekte zur möglichen Lithiumgewinnung, die auf dem Land indigener Gemeinschaften ohne umfassende Untersuchungen der möglichen Auswirkungen auf die dort vorhandenen natürlichen Ressourcen vorgenommen wurden. Auch die freie, vorherige und informierte Zustimmung der betroffenen indigenen Gemeinschaften wurde nicht eingeholt. In der Salzwüste Salinas Grandes forderten die indigenen Gemeinschaften weiterhin Informationen über die möglichen Auswirkungen des Lithium-Abbaus auf ihre Wasserquellen.

Straflosigkeit

Die Verfahren vor ordentlichen Zivilgerichten wegen der unter dem Militärregime (1976–83) verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden fortgeführt. Zwischen 2006 und Dezember 2020 wurden 250 Urteile gefällt, womit die Gesamtzahl der Verurteilungen auf 1.013 und die der Freisprüche auf 164 anstieg.

Im September 2020 befand die Interamerikanische Menschenrechtskommission im Zusammenhang mit dem im Juli 1994 auf das Jüdische Gemeindezentrum (Asociación Mutual Israelita Argentina – AMIA) in Buenos Aires verübten Bombenanschlag, dass der argentinische Staat für die Verletzung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Opfer sowie für Vertuschungsaktionen, die zu Straflosigkeit führten, verantwortlich sei.

Die Ermittlungen zum Verschwinden und zum Tod von Santiago Maldonado waren Ende 2020 noch nicht abgeschlossen. Sein Leichnam war im Jahr 2017 in einem Fluss auf dem Territorium der Mapuche in der Provinz Chubut aufgefunden worden – 78 Tage nach der Abriegelung des Gebiets durch die Sicherheitskräfte.

Exzessive Gewaltanwendung und Verschwindenlassen

Im Zusammenhang mit der Durchsetzung des Covid-19-Lockdowns kam es zu zahlreichen Fällen von exzessiver Gewaltanwendung. Im Mai 2020 töteten Polizist_innen Luis Espinoza in der Provinz Tucumán; seine Leiche wurde erst eine Woche später entdeckt.

Ebenfalls im Mai drangen Sicherheitskräfte gewaltsam in die Häuser von Angehörigen der indigenen Bevölkerungsgruppe der Qom in Fontana in der Provinz Chacó ein und nahmen drei Männer und ein 16-jähriges Mädchen in Gewahrsam. Die Festgenommenen berichteten, dass sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden; das Mädchen wurde sexuell missbraucht.

Facundo Astudillo Castro, der Ende April 2020 als vermisst gemeldet worden war, wurde 107 Tage später tot aufgefunden. Er war zuletzt an einem Polizeikontrollpunkt in der Provinz Buenos Aires gesehen worden. Die Autopsie ergab, dass er erstickt war. Widersprüche in den Polizeiberichten und andere Indizien ließen vermuten, dass die Polizei von Buenos Aires für sein Verschwindenlassen und seinen Tod verantwortlich sein könnte.

Sorge bereitete weiterhin das Fehlen einer institutionellen staatlichen Politik zur effektiven Suche nach vermissten Personen und zur wirksamen Untersuchung von Fällen des Verschwindenlassens.

Rechte von Migrant_innen, Flüchtlingen und Asylsuchenden

Die Notstands- und Dringlichkeitsverordnung 70/2017, mit der das Einwanderungsgesetz geändert und regressive Maßnahmen eingeführt worden waren, die die Rechte von Migrant_innen drastisch einschränkten, blieb weiterhin in Kraft, obwohl mehrere internationale Menschenrechtsorganisationen die Verordnung als verfassungswidrig eingestuft hatten.

Migrant_innen, Flüchtlinge und Asylsuchende stießen bei den Verfahren zur Legalisierung ihres Aufenthaltsstatus und beim Zugang zu Sozialhilfeprogrammen auf Hindernisse. Aufgrund ihres eingeschränkten Zugangs zum regulären Arbeitsmarkt und zu angemessenen Wohnungen gehörten sie zu den von der Corona-Krise am stärksten betroffenen Gruppen. Die Schließung der Grenzen wirkte sich auch auf das argentinische Programm des Gemeinschafts-Sponsoring zur Aufnahme von syrischen Flüchtlingen (Programa Siria) aus, bei dem aus drei Personen bestehende Gruppen bestimmte syrische Flüchtlinge und ihre Familienangehörigen sponsern können. Das Resettlement von neun syrischen Flüchtlingsfamilien, denen die Einreise nach Argentinien bereits genehmigt worden war, wurde gestoppt und neue Anträge auf Gemeinschafts-Sponsoring wurden ausgesetzt.

Klimaschutz

Argentinien ratifizierte das Regionale Abkommen über den Zugang zu Informationen, Teilhabe und Gerechtigkeit in Umweltangelegenheiten in Lateinamerika und der Karibik (Escazú-Abkommen).

Eine Fläche von mehr als 120.000 Hektar in elf Provinzen war von Waldbränden betroffen, die in vielen Fällen mit der Abholzung von Wäldern in Verbindung standen.

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