Amnesty Journal Vereinigte Staaten von Amerika 05. Februar 2021

"Das soziale Grundvertrauen wiederfinden"

Eine Frau mit blondem halblangen Haar hält den Kopf leicht schräg und blickt in die Kamera.

Die Politologin Cathryn Clüver Ashbrook forscht an der Harvard Kennedy School in Cambridge (Massachusetts, USA).

Hate Speech, Rassismus und eine gespaltene Gesellschaft. Der ehemalige US-Präsident Trump hat viele Probleme hinterlassen, der sich eine neue Menschenrechtspolitik stellen muss. Ein Gespräch mit der deutsch-amerikanischen Politologin Cathryn Clüver Ashbrook.

Interview: Tobias Oellig

US-Präsident Trump und die Menschenrechte, das war eine problematische Beziehung.  Was wird sich unter Joe Biden ändern?

Donald Trump hat noch vor der Vereidigung Joe Bidens in historischem Ausmaß Menschen hinrichten lassen. Biden kündigte bereits im Wahlkampf an, das werde es unter ihm nicht geben. Er plant Reformen hinsichtlich des Gefängnissystems und der föderalen Todesstrafe, aber auch in Bezug auf die Migrationspolitik.

Was wir in den vergangenen vier Jahren gesehen haben, waren Grausamkeiten. Die Trennung von eingewanderten Kindern und Eltern, Kinder in Käfigen – etwas Menschenunwürdigeres gibt es kaum. Die jetzige Regierung will schnell aufräumen, weil sie sonst nicht glaubhaft auf Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten hinweisen kann. Die Mehrheitsverhältnisse im Kongress könnten ihr dabei helfen, Gesetze zu beschließen.

Haben Trumps Hate Speech und seine Lügen die politische Rhetorik in den USA für immer verändert?

Ein neues Phänomen war, dass er seine einfache Hasssprache über viele Kanäle verbreiten konnte. Nicht nur über Fox News, sondern auch über neue Kanäle wie OANN und Newsmax konnte er den rechten Rand und Verschwörungstheoretiker offensiv bedienen. Es gab kein Gesetz, das ihm Einhalt geboten hätte. Die Biden-Regierung will das ändern. Dafür benötigt sie aber sehr klare Mehrheiten im Kongress. Insbesondere im Senat ist das eine Frage der überparteilichen Verhandlung. Doch wer schneidet sich gerne von Möglichkeiten ab, die ihn – notfalls mit Falschinformation – wieder an die Macht bringen könnten?

War die Sperre von Trumps Twitter-Konten der richtige Schritt, um die politische Situation zu beruhigen? Die Bundeskanzlerin hatte sich ja dagegen ausgesprochen.

Um den 6. Januar herum, also dem Tag der Erstürmung des Kapitols, war die Situation so dramatisch, dass die Sperre zunächst der richtige Schritt war. Aber er kam zu spät und war zu unkoordiniert. Wahrscheinlich waren YouTube und Facebook froh, dass Twitter den Anfang machte – aber das ist ja keine Lösung.

Merkel hat sich kritisch zu der Sperre geäußert, weil sie in das Recht auf Meinungsfreiheit eingreift. Und auf die regulatorischen Kräfte der Bundesnetzagentur verwiesen. Aber in Ermangelung einer vergleichbaren Instanz in den USA ist ein wenig "Corporate Responsibilty", bei dem Unternehmen ihr Rückgrat entdecken, sicher nicht schlecht.

War die Erstürmung des Kapitols nur ein Vorgeschmack auf eine weitere Radikalisierung extremer Gruppen?

Wir dürfen nicht vergessen, dass die USA ein Land sind, das von "Lone Wolf Terrorist Attacks" geprägt worden ist. Ich denke dabei zum Beispiel an den Bombenanschlag von Timothy McVeigh auf ein Gebäude der US-Bundesregierung in Oklahoma City 1995. Wenn man sich anschaut, dass vor der Erstürmung des Kapitols Rohrbomben vor den Parteizentralen abgelegt wurden, wird klar: Es braucht nur wenige Menschen, die sich koordinieren, und schon könnte es an vielen Stellen im Land brennen. Das Land muss jetzt beweisen, dass es dieser Bewegung mehrere Schritte voraus ist und gewalttätige Radikalisierte aufspüren und bestrafen kann.

Über 74 Millionen haben Donald Trump gewählt. Wie kann Biden diese enttäuschten Wähler und jene, die das System zerstören wollen, zurückgewinnen?

Zum Beispiel mit dem Signal eines wirtschaftlichen Aufschwungs. Wir haben eine Generation, die befürchtet, dass es ihren Kindern schlechter gehen wird als ihr. Das widerspricht dem Bild des amerikanischen Traums. Bei den Enttäuschten zieht das Narrativ, dass daran Minderheiten schuld seien. Das entspricht nich der Realität, zeigt aber, wie viele Amerikaner den Einwanderungsstopp und auch die unmenschlichen Praktiken an den Grenzen mitgetragen haben.

Zuerst einmal muss die Funktionalität des Systems wieder hergestellt werden. Die Leute müssen das soziale Grundvertrauen wiederfinden. Die Chancen des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs müssen wieder gegeben sein. Das ist seit 2009 für einen großen Teil der Bevölkerung in weite Ferne gerückt – während Milliardäre wie Jeff Bezos unreguliert und ungehemmt in ganz Sphären des Profits vorgedrungen sind. Die große Einkommensschere zu schließen ist keine Aufgabe von vier Jahren, sondern von Generationen.

Werden die USA ein zerrissenes Land bleiben – oder wie können sie sich neu erfinden?

Die US-Demokratie hat unglaubliche Errungenschaften vorzuweisen, was Minderheitenrechte betrifft. Bei den Rechten von transgeschlechtlichen Menschen ist sie zum Beispiel sehr viel weiter als Europa. Gleichzeitig sind Teile der Gesellschaft Werten verhaftet, die auf Ungleichheit beruhen. Das Land wurde aufgebaut durch Sklaverei, und noch immer beharren viele auf Privilegien, die mit Hautfarbe und Gruppenzugehörigkeit zu tun haben.

Während einerseits die Rechte für Minderheiten erweitert werden, so wie es in einer funktionierenden Demokratie der Fall sein sollte, gibt es einen großen Bevölkerungsteil, der diese Umbrüche als bedrohlich empfindet.

Cathryn
Clüver Ashbrook
US-amerikanische Politologin

Wie kann der systematische Rassismus überwunden werden?

Zunächst, indem man sich darüber bewusst wird, dass das ganze Land davon durchdrungen ist. Und wie komplex die soziologischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge sind. Die Corona-Pandemie hat das noch einmal verdeutlicht: In ländlichen Landstrichen, in denen kaum Weiße leben, wurden die Krankenhäuser systematisch kaputtgespart, sodass es dort keine gute medizinische Versorgung mehr gibt. Und viele Vorerkrankungen, die den Verlauf einer Corona-Infektion verschlimmern können, wie Diabetes, Herz- und Gefäßkrankheiten, sind in Minderheiten-Gemeinschaften weit verbreitet.

Im Sommer 2020 war die Hoffnung groß, als sich immer mehr Menschen den Protesten um Black Lives Matter anschlossen.

Die Frage ist: Wie schafft man es, dass nicht nur die Betroffenen, sondern ein ganzes Land begreift, dass diese Ungerechtigkeiten historisch gewachsen sind? Man kann durchaus zuversichtlich sein: Anders als in den 1960er Jahren gingen auch Tausende weiße Amerikaner auf die Straße – über Wochen. Aber die Spaltung des Landes spielt langfristig nach wie vor eine große Rolle: Ein Teil der Gesellschaft sieht die Entwicklung zu einer vielfältigen, progressiven Nation als positiv an, ein Teil betrachtet dies als den Untergang der USA. Das ist ein ganzheitliches Problem, das viele Bereiche betrifft. Und es erfordert langfristige Prozesse, die in den kommenden vier Jahren nur angestoßen werden können. Aber anfangen muss man damit.

Cathryn Clüver Ashbrook ist Politologin an der Harvard Kennedy School in Cambridge/Massachusetts. Die Deutsch-Amerikanerin wurde 1976 in Wiesbaden geboren und wuchs in Berlin und Wiesbaden auf.

Tobias Oellig ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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