Afghanische Künstlerinnen: Sing ihren Song
Die Freundschaft von Asia Mehrabi (li.) und Sohayla Asghary entstand in Deutschland.
© Christian Wickler
Asia Mehrabi komponiert und singt, Sohayla Asghary dichtet. Die beiden Freundinnen stammen aus Afghanistan und geben den Frauen in ihrer alten Heimat eine Stimme.
Von Cornelia Wegerhoff
Der Song beginnt mit leisen Tönen, melancholisch, nur von den Klängen eines Klaviers begleitet. Das Musikvideo zeigt derweil ein Tonstudio, ein Mikrofon in Großaufnahme und schließlich Asia Mehrabi. Als der Trommelschlag einer Tabla, Gitarre und Flöte einsetzen, beginnt sie mit warmen Timbre auf Paschtu zu singen: über die Schönheit einer Frau, ihre Gewänder "aus Tau und Seide", ihre korallenfarbenen Lippen und ihr Gesicht, das "vom Licht der Berge erleuchtet ist". Doch den poetischen Worten folgt Ernüchterung. Was soll sie mit all dem anfangen, fragt die Ich-Erzählerin des vertonten Gedichts verzweifelt. Wer werde ihre Schönheit preisen? "Mein Mann lag letzte Nacht im Bett einer anderen und sieht mich nicht an, seit er sich eine zweite Frau genommen hat."
Asia Mehrabi hat ihre Pop-Ballade zum Thema Polygamie auf ihrem Youtube-Kanal hochgeladen, zusammen mit einer Widmung: "Für die Frauen meiner Heimat, deren Ehemänner die Liebe und die Rechte ihres gemeinsamen Lebens mit einer zweiten Frau teilen, und die all dies im Namen der afghanischen Tradition und der Scharia ertragen, ohne einen Seufzer auszustoßen."
Nicht trauern, sondern sich wehren
Die gebürtige Afghanin lebt in Köln. Sie komponiert und arrangiert die Musik zu Gedichten, die andere afghanische Frauen verfasst haben. In diesem Fall stammt der Text von Parveen Malal, einer prominenten Paschtu-Dichterin, die in Großbritannien im Exil lebt. Die Frauen in Afghanistan können nicht öffentlich kritisieren, dass sich dort immer mehr Männer ganz legal eine zweite, dritte oder gar vierte Frau nehmen, sagt Asia Mehrabi. Das werde als eine persönliche Angelegenheit der Betroffenen betrachtet, sagt die 50-Jährige. "Dabei ist es eine gesellschaftliche Schande." Polygamie sei in Afghanistan in allen Schichten üblich und nehme nicht erst zu, seitdem die Taliban 2021 an die Macht zurückkehrten. Absurderweise sei nicht diese Praxis das Tabuthema, sondern "Der Schrei der ersten Frau", so der Originaltitel des Gedichts. Asia Mehrabi hat ihr Lied "Gestohlene Liebe" genannt.
Die Frauen sollten nicht trauern, sondern sich zur Wehr setzen, fordert die Dichterin Sohayla Asghary. In ihrem Wohnzimmer in Siegen schenkt sie der Sängerin Asia Mehrabi eine Tasse Safrantee ein und reicht Gebäck. Die beiden beginnen zu diskutieren. Nach Ansicht von Asghary sollten Frauen nicht zu sehr als leidendes Opfer dargestellt werden, lieber als Heldin. "Ja, ich würde mir auch wünschen, dass sie aufsteht und ihrem Mann sagt: 'Zur Hölle mit dir!' Aber so läuft es eben nicht", entgegnet Asia Mehrabi. Würde sich die Frau zur Wehr setzen, wäre das ein "Skandal". Sie sei realistisch und wolle das Leid und den Schmerz der Betroffenen ernst nehmen. Sohayla Asghary nickt und lächelt. Die enge Freundschaft der beiden kann Meinungsverschiedenheiten aushalten.
TV-Karriere mit jähem Ende
Sohayla Asghary stammt auch aus Afghanistan und gibt den Frauen dort ebenfalls eine Stimme. Sie schreibe wunderbare Liebesgedichte, aus weiblicher Sicht, schwärmt Asia Mehrabi, die mehrere Gedichte der Freundin vertont hat. "Vater" lautet der Titel eines Gedichts über eine Tochter, die sich ihren Bräutigam selbst ausgesucht hat. Die ersten Zeilen lauten: "Halte deine Hand zurück – schlag mich nicht! Ich bin ein Mensch, nicht geschaffen für Schläge. Ich bin dein Kind – nicht da, um beschimpft zu werden. Du hast mich mit Liebe großgezogen – obwohl ich ein Mädchen bin und kein Junge. Ich bin Teil deines Wesens, deiner Existenz, auch wenn ich bald in ein anderes Haus gehe."
Die 62-jährige Sohayla Asghary ist eine erfahrene Journalistin. Nach einem Talentscouting in ihrer Mädchenschule in Kabul wurde sie bereits mit 16 Jahren Sprecherin im afghanischen Staatsfernshen, präsentierte ein Jahr später bereits die 20-Uhr-Hauptnachrichten und studierte später noch gleichzeitig. Als die Mudschaheddin 1992 an die Macht kamen, nahm Ashgarys Karriere ein jähes Ende. "Die kannten natürlich mein Gesicht", erinnert sie sich. Nachdem man sie auf der Straße bedroht hatte, floh sie gemeinsam mit ihrem Mann und ihren Kindern nach Deutschland und arbeitete später für die Deutsche Welle.
Asia Mehrabi kannte Sohayla Asghary zunächst nur aus dem afghanischen Fernsehen. 2009 fasste sie sich ein Herz und schrieb die bekannte Journalistin auf Facebook an. Auf diese Weise fanden sich zwei Künstlerinnen und Seelenverwandte. "Sohayla hat mich dazu ermutigt, meine Musik öffentlich zu machen und zu singen", erzählt Asia Mehrabi, die inzwischen unter anderem beim Beethoven-Fest in Bonn und bei einem Festival des Goethe-Instituts in Berlin aufgetreten ist. Ihre Familie verschweigt allerdings zumeist, dass sie Musikerin ist und Konzerte gibt. Zwar würden die Menschen in Afghanistan gern Frauen singen hören, sagt sie, doch hätten Sängerinnen einen zweifelhaften Ruf. Und für die radikal-islamistischen Taliban ist Musik "haram", also Sünde, und offiziell verboten. In Kabul, wo früher gern in Cafés musiziert wurde und aus vielen Autoradios Pop erklang, sei es nun merkwürdig still, berichtet Sohayla Asghary. Viele Künstler*innen seien geflohen. Zuhause werde aber heimlich Musik gehört, auch die von Asia Mehrabi. Regelmäßig würden ihr Afghaninnen Textnachrichten und neue Gedichte zur Vertonung schicken.
35 Jahre lang Angst um den Vater
Die Musikerin, die in Kandahar geboren wurde und in Kabul aufwuchs, erlebte bereits in jungen Jahren, was Angst und Terror bedeuten. Sie war fünf Jahre alt, als ihr Vater, der als Beamter für das frühere Schah-Regime gearbeitet hatte, festgenommen und verschleppt wurde. Die Familie floh nach Pakistan und wusste 35 Jahre lang nicht, ob der Vater noch lebte oder tot war. Erst 2013 wurde seine Ermordung offiziell bestätigt. Asia Mehrabi lebte da bereits in Deutschland und war mit einem Afghanen verheiratet, der hier aufgewachsen war. Sie lernte Deutsch, ging noch einmal zur Schule. Heute steht sie als Schulbegleiterin Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf zur Seite. Der Gedanke daran, dass die Taliban afghanischen Mädchen den Schulbesuch und jungen Frauen den Zutritt zu den Universitäten verweigern, quäle sie täglich, erzählt Asia Mehrabi.
"Ich und du" heißt ein Gedicht, das sie vor Kurzem selbst verfasst hat. Es beginnt mit den Zeilen "Ich und du – auf dem Dach eines Hauses, zerbrochen, kein Frieden, keine Ruhe in uns". Und später: "Ich und du – nicht dies, nicht das, wie andere es wollen. Ich und du – kein Spielzeug in fremden Händen. Ich und du – nicht die dritte, vierte, fünfte Frau …". Vielleicht wird ein neuer Song daraus.
Mehr zur Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan findest Du hier.
Cornelia Wegerhoff ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.