Völkerrechtsexpertin Kalika Mehta: "Recht allein kann keinen politischen Wandel bringen"
Die andere Seite der Krise: Die Bewegung Pacific Islands Students Fighting Climate Change hat 2025 das Klimagutachtendes Internationalen Gerichtshofs erstritten.
© Lina Selg / Hollandse Hoogte / laif
Viele sehen das Völkerrecht wegen seiner Missachtung in der Krise. Die Völkerrechtsexpertin Kalika Mehta erklärt, wie ein kritischer Ansatz die Menschenrechte stärken kann.
Interview: Beate Streicher
Viele Staaten agieren derzeit autoritär. Ist das Völkerrecht in der Krise?
Es ist keine Krise des Völkerrechts an sich – wenn wir von einer Krise sprechen wollen, dann besteht diese im weltweiten Autoritarismus selbst. Mächtige Staaten haben das Völkerrecht immer selektiv genutzt. Der Unterschied ist vielleicht, dass sie heute offener mit dieser Tatsache umgehen. Das Völkerrecht wurde von Anfang an dazu verwendet, politische und wirtschaftliche Machtinteressen zu legitimieren – angefangen beim Kolonialismus. Ein neueres Beispiel kommt aus den frühen 2000er Jahren: Damals wurde zwar der Internationale Strafgerichtshof geschaffen, zugleich wurde aber das Völkerrecht im "Krieg gegen den Terror" völlig missachtet. Solange Staaten kontrollieren, wann und wie das Völkerrecht gilt, bleibt diese Inkonsistenz bestehen. Interessant ist aber, dass das Völkerrecht noch nie so präsent war wie jetzt. Seine Begriffe gehören heute zur Alltagssprache: Ist das Völkermord? War dieser Gewalteinsatz legal? Erlaubt die UN-Charta das? Aus Sicht der Zivilgesellschaft ist es also womöglich das Gegenteil einer Krise. Und nicht nur große Organisationen wie Amnesty, sondern auch kleine Gruppen in Indien, Myanmar, Palästina, Libyen, Sudan und anderswo wenden sich verstärkt an völkerrechtliche Institutionen, um ihre Anliegen voranzubringen.
Wie nutzen zivilgesellschaftliche Organisationen das Völkerrecht und die Menschenrechte?
Die meisten Organisationen wissen, dass das Völkerrecht oft mehr verspricht als es hält – das erzeugt Frustration. Gleichzeitig gibt es hoffentlich ein Bewusstsein dafür, dass Menschenrechte ein begrenztes Konzept sind: Sie stellen westliche Ideen als universell dar und sind in kolonialen Strukturen verwurzelt. Historisch haben sie zwischen verschiedenen Opfern unterschieden. Doch trotz dieser Probleme können die Menschenrechte strategisch als Mittel des Widerstands dienen.
Was ist dabei zu beachten?
Wichtig ist, nicht dieselben Strukturen zu reproduzieren, also die Opfer aus dem Globalen Süden als passiv und hilfsbedürftig darzustellen. Gängige Gerechtigkeitsmodelle sind oft "top-down". Die Zivilgesellschaft kann dem mit "bottom-up"-Ansätzen begegnen, indem sie ausgeschlossene Stimmen einbindet und ihnen eine Plattform gibt, anstatt nur für sie zu sprechen. Ein Beispiel sind People’s Tribunals wie das Frauengericht für das ehemalige Jugoslawien, das die Stimmen von Überlebenden sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt verstärkte – als alternatives Gerechtigkeitsmodell. Ähnliche Initiativen entstehen heute für Gaza und Afghanistan. Auch Klima- und Umweltbewegungen nutzen das Völkerrecht strategisch.
Völkerrechtsexpertin Kalika Mehta
© Natalja Root
Zu den kritischen Ansätzen zum Völkerrecht gehören auch die sogenannten TWAIL. Was versteht man darunter?
TWAIL, Third World Approaches to International Law, sind Teil einer größeren postkolonialen Kritik am Völkerrecht. Sie befassen sich mit den Erfahrungen und der Marginalisierung ehemals kolonialisierter Menschen und Communities und fragen, wie ihre Anliegen im Völkerrecht berücksichtigt werden, oder vielmehr, wie sie unberücksichtigt bleiben. TWAIL untersucht nicht nur das Buchstabenrecht, sondern auch die Praxis und Institutionen – im Bewusstsein, dass koloniale Machtverhältnisse tief in den Strukturen des Völkerrechts verankert sind.
Versuchen autoritäre Kräfte, diese kritischen Ansätze zu untergraben?
Ja, und es zeigt, wie wirksam diese Kritiken geworden sind. Es gibt vermehrt Versuche, sie zu delegitimieren, nicht nur in den USA, sondern in vielen autoritären Kontexten. Ein gängiger Trick ist, sie als wenig komplex darzustellen. Dabei ist ihre Kritik sehr differenziert. In TWAIL etwa ist "Third World" ein politischer, kein geografischer Begriff. Es wird anerkannt, dass es mehrere gleichzeitige "Dritte" und "Erste" Welten gibt. Auch im Globalen Süden gibt es politische und wirtschaftliche Eliten – die Kritik richtet sich nicht gegen Regionen, sondern gegen Machtverhältnisse. Zudem unterscheidet TWAIL zwischen Staaten und Bevölkerungen der "Dritten Welt". Wir müssen die Nuancen und Ziele der kritischen Ansätze betonen, um gegen ihre Delegitimierung anzukommen. Sie stellen das Konzept der Menschenrechte nicht per se infrage – sie wollen es stärken und inklusiver gestalten. Sie fragen: Wessen Rechte? Welche? Wer definiert sie? Wessen Stimmen zählen?
Was kann das Völkerrecht in seiner heutigen Form leisten?
Das ist eine zentrale Frage, die wir immer wieder stellen sollten. Viele meinen, es gebe ein gemeinsames Verständnis darüber, was Völkerrecht leisten kann. Doch je nachdem, wer gefragt wird, gibt es sehr unterschiedliche Antworten. Manche betonen seine diskursive Kraft, wie es internationale Politik beeinflusst und staatliches Verhalten bewertet. Es gilt als wichtiges Instrument zur Normsetzung. Andere sind frustriert über sein Versagen bezüglich konkreter Veränderungen, denn Gewalt besteht fort, Zivilist*innen werden angegriffen, es herrscht Straflosigkeit. Ich selbst sehe mich irgendwo in der Mitte. Wir müssen realistisch mit den Grenzen des Völkerrechts umgehen. Es ist staatenzentriert. Mächtige Staaten bestimmen, wann und wie es zur Anwendung kommt. Es ist kein neutrales Regelwerk – es bewegt sich innerhalb kapitalistischer, patriarchaler, kolonialer Strukturen. Gleichzeitig kann es strategisch nützlich sein. Wenn Staaten völkerrechtliche Verpflichtungen eingehen, entsteht ein Rahmen, um sie zur Rechenschaft zu ziehen. Es ist das einzige rechtliche Werkzeug, das uns zur Verfügung steht. Recht allein kann keinen politischen Wandel bringen, aber es kann eine Rolle spielen.
Wie lässt sich dieses Werkzeug weiterentwickeln?
Zivilgesellschaft, Aktivist*innen und Wissenschaft müssen das Völkerrecht weiter nutzen, um autoritäre Praktiken herauszufordern und zugleich ehrlich über seine Grenzen sprechen. Ich glaube an mehr zivilgesellschaftliche Beteiligung, nicht nur in der politischen Arbeit, sondern auch in der Gestaltung des Völkerrechts selbst. Sie kann eine Brücke schlagen zwischen den am stärksten Betroffenen, den Marginalisierten und den Machtzentren. Doch auch die Zivilgesellschaft steht nicht außerhalb der Systeme, die wir kritisieren, und hat ihre eigenen Probleme. Dennoch kann sie dazu beitragen, das Völkerrecht weniger staatenzentriert, partizipativer und inklusiver zu machen.
Kalika Mehta ist Postdoktorandin am Centre for Reflexive Globalisation and the Law: Colonial Legacies and their Implications in the Twenty-first Century der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie befasst sich mit dem Völkerstrafrecht und internationalem Menschenrechtsschutz, insbesondere mit kritischen Ansätzen.
Beate Streicher ist Expertin für Polizei und Menschenrechte bei Amnesty International in Deutschland.