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"Sag Bescheid, wenn er tot ist"
Zensiertes Grauen. Ausstellung in Washington im Juli 2015.
Vor sechs Jahren schmuggelte der syrische Militärfotograf mit dem Decknamen Caesar Tausende Bilder aus Gefängnissen des Assad-Regimes ins Ausland. Angehörige der zu Tode Gefolterten kämpfen nun um Gerechtigkeit.
Von Hannah El-Hitami
Auf dem Foto, das in Maryam al-Hallaqs Wohnzimmer hängt, lächelt Ayham selbstbewusst in die Kamera. In Holz gerahmt hängt das Bild ihres Sohnes über dem Sofa in ihrer Berliner Einzimmerwohnung. Das Foto entstand 2011 bei einer friedlichen Demonstration in Damaskus – bevor das Regime begann, auf Demonstrierende zu schießen und Zehntausende festzunehmen.
Ein anderes Bild von al-Hallaqs Sohn ging später um die Welt: Es zeigt den Leichnam des 25-Jährigen, die Augen halb geschlossen, auf der Stirn einen Klebstreifen mit der Nummer 320. Die Aufnahme zählt zu den mehr als 28.000 Fotos von toten Gefangenen, die der frühere Militärfotograf mit dem Decknamen Caesar 2013 aus Syrien herausschmuggelte – veröffentlicht wurden sie Anfang 2014.
Weil der Anblick der darauf abgebildeten 6.786 Gefangenen, die durch brutale Folter und miserable Haftbedingungen getötet wurden, so grauenhaft ist, werden die meisten nur zensiert gezeigt. Es sind Zeugnisse einer menschenverachtenden Folter-Maschinerie, die auch als wichtigste Beweismittel bei der internationalen Strafverfolgung des Regimes von Präsident Baschar al-Assad dienen.
"Als ich Ayhams Foto sah, war ich erleichtert", sagt Maryam al-Hallaq. "Er war zwar tot, aber immerhin wies er nicht so heftige Spuren von Folter auf wie viele andere." Al-Hallaq ist Mitbegründerin der Caesar Families Association (CFA), einem Zusammenschluss von Syrerinnen und Syrern, die ihre toten Angehörigen auf den Caesar-Fotos wiederentdeckten. Bis dahin hatten sie monate- oder jahrelang nichts über den Verbleib ihrer Ehemänner, Geschwister oder Söhne gewusst. So erging es auch al-Hallaq, deren Sohn im November 2012 an der Universität Damaskus von regimetreuen Studierenden festgenommen und in einem Raum der Fakultät für Humanmedizin gefoltert wurde. Danach wurde er in das Gefangenenlager Nummer 215 des Militärgeheimdienstes gebracht, das als "Abteilung des Todes" bekannt ist.
Nach drei Monaten ohne Lebenszeichen erzählte ein freigelassener Mitgefangener Maryam al-Hallaq, ihr Sohn sei nach fünf Tagen in Haft gestorben, während sein Kopf auf dem Schoß des Mitgefangenen lag. "Sag Bescheid, wenn er tot ist", hätten die Wärter ihm befohlen, als er um medizinische Hilfe bat. Ayhams Familie hielt eine Trauerfeier ab, doch wurde die Gewissheit über seinen Tod infrage gestellt, als ein anderer Mitgefangener berichtete, Ayham sei noch am Leben.
"Eineinhalb Jahre lang habe ich versucht, herauszufinden, ob er lebt oder tot ist", erzählt al-Hallaq. Bei allen Behörden habe sie nachgefragt, von allen sei sie beleidigt und gedemütigt worden, bis man ihr endlich eine Sterbeurkunde ausgehändigt habe. Todesursache: Herzstillstand. Danach versuchte sie, herauszufinden, wo man ihren Sohn begraben hatte. "Ich wollte genau wissen, was passiert war", sagt sie. "Obwohl ich die Sterbeurkunde hatte, hoffte ich immer noch, dass er noch am Leben sei."
Diese Hoffnung wurde 2015 endgültig zerstört, als sie über Facebook auf die Caesar-Fotos aufmerksam wurde. "Ich habe bestimmt zehnmal versucht, mir die Fotos anzusehen, aber sie waren so schrecklich, dass ich es nicht konnte", sagt al-Hallaq. Ein Bekannter habe sie darüber informiert, dass Ayham unter den fotografierten Toten sei. Endlich hatte die Suche der Mutter nach ihrem Sohn ein Ende – und ihr Kampf um Gerechtigkeit begann.
Heute lebt Maryam al-Hallaq in Berlin. Syrien verließ sie Ende 2014, nachdem ihr Haus in Ghouta zerstört und das Haus ihres Bruders vom Geheimdienst beschlagnahmt worden war. Zunächst flüchtete sie zu ihrer Schwester nach Beirut. Nach Deutschland kam sie 2017, als sie hörte, dass Syrerinnen und Syrer von hier aus gegen die syrischen Sicherheitskräfte klagen konnten. Am Bundesgerichtshof in Karlsruhe sammelt das Referat für Völkerstrafrecht seit 2011 Hinweise auf Kriegsverbrechen des Assad-Regimes. Unterstützt wird es von syrischen Menschenrechtlern und den Anwälten des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin. Sie sammeln die Aussagen von ehemaligen Gefangenen und von Angehörigen der Folteropfer. Diese spielen eine wichtige Rolle, um Opfer zu identifizieren und Beweise zu unterfüttern.
Dass sich die deutsche Justiz mit Verbrechen beschäftigt, die auf syrischem Boden verübt wurden, ermöglicht seit 2002 das Völkerstrafrecht. Dieses wird bei schweren Menschenrechtsverletzungen wie Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen der Aggression, wie zum Beispiel die Annektion eines Gebietes, angewendet.
Das auch als Weltrechtsprinzip bezeichnete Völkerstrafrecht basiert auf der Annahme, dass bestimmte Verbrechen so schwer wiegen, dass sie die gesamte Weltgemeinschaft betreffen und über Staatsgrenzen hinaus wirken. Die Verfahren können vor dem Internationalen Strafgerichtshof stattfinden, was im Falle Syriens jedoch seit Jahren durch das Veto von Russland und China im UN-Sicherheitsrat blockiert wird. Es bleiben also noch nationale Gerichte in Ländern wie Deutschland, in denen das Weltrechtsprinzip gilt: Weder Täter noch Opfer müssen deutsche Staatsbürger sein, damit die Bundesanwaltschaft aktiv wird.
Durch die Zusammenarbeit mit dem ECCHR lernte al-Hallaq andere Menschen kennen, deren Familienmitglieder auf den Caesar-Fotos zu sehen waren. Sie taten sich zusammen, gründeten im Februar 2018 die Caesar Families Association, unterstützen sich gegenseitig finanziell und emotional.
Und sie reisen durch Europa, um Politikerinnen und Politiker für ihre Sache zu gewinnen. "Wir verlangen keine politische Positionierung, sondern nur eine menschliche gegenüber den Gefangenen", betont al-Hallaq. Jeden Tag werde in Syrien jemand festgenommen, jeden Tag sterbe jemand im Gefängnis. Die CFA ist gegen eine Normalisierung der staatlichen Beziehungen zum Assad-Regime und gegen eine europäische Finanzierung des Wiederaufbaus in Syrien. "Solange es keine friedliche Lösung gibt, darf der Wiederaufbau nicht beginnen", sagt al-Hallaq. "Wie können wir Gebäude in Damaskus wieder aufbauen, wenn weiter Menschen eingesperrt sind? Wie kann man etwas Neues auf Leichen bauen?"
Dass es ihr eines Tages möglich sein wird, den Leichnam ihres Sohnes angemessen zu bestatten, glaubt al-Hallaq nicht, auch ihre Rückkehr nach Syrien hält sie für ausgeschlossen. Selbst wenn sie persönlich es nicht erleben sollte, kann sie sich eine Zukunft für Syrien ohne Gerechtigkeit nicht vorstellen. "Wir können einander nur verzeihen, wenn die Täter zur Rechenschaft gezogen werden", sagt sie. Einen ersten Erfolg gibt es bereits: Im Oktober hat die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe Anklage gegen zwei ehemalige Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes erhoben. Der Prozess soll im im Frühjahr 2020 in Koblenz beginnen. "Die Täter müssen wissen, dass sie für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden", sagt al-Hallaq. "Vielleicht nicht jetzt, nicht heute, aber eines Tages werden sie sich verantworten müssen."