Armenien: Die Freiheit, nach vorn zu schauen
Kultur der glänzenden Oberfläche: Nairi Hadodo gibt die Kardashian in einer Szene des Stücks "Kim"
© Martin Müller / Imago
Die Performerin Nairi Hadodo taucht in ihrem Stück "Kim" in die armenische Geschichte der Kardashian-Familie ein – und in ihre eigene.
Von Ulrich Gutmair
Kim Kardashian ist eine Popikone und eine äußerst erfolgreiche Unternehmerin, die ihre Unterwäschekollektionen und Kosmetikreihen weltweit verkauft. In Unterwäsche aus dem Haus Kardashian ist auch Nairi Hadodo in dem von ihr geschriebenen Stück "Kim" zu sehen, das sich dem Phänomen der US-amerikanischen Celebrity aus verschiedenen Perspektiven nähert. Nairi Hadodo brachte "Kim" in Basel und Berlin auf die Bühne. Über eine Stunde lang spricht, rappt und tanzt die drahtig-muskulöse Performerin ganz allein. Ihre Energie und Präsenz füllen mühelos den Raum.
Wer sich nicht so sehr für US-Popkultur interessiert und die Realityshow "Keeping Up with the Kardashians" nicht kennt, erfährt in diesem Theaterstück en passant Details über die Biografie Kardashians. Kims Vater Robert machte als Anwalt Karriere und verteidigte erfolgreich den des Mordes angeklagten Sportler O. J. Simpson. Roberts Großvater Tatos hatte den Genozid an den Armenier*innen überlebt. Er war in die USA ausgewandert, hatte dort eine Armenierin geheiratet und als Müllsammler in Los Angeles sein Geld verdient. Sein Sohn Arthur baute ein millionenschweres Müllentsorgungsunternehmen auf und legte damit den Grundstein für eine bemerkenswerte, sehr amerikanische Aufstiegsgeschichte.
Verdrängter Völkermord
Popkultur ist eine Kultur der glänzenden Oberflächen, und doch lässt sich das Unbewusste und Verdrängte nie ganz versiegeln. Nairi Hadodo fasziniert die Ironie, die darin liegt: Anhand der Figur der Kim Kardashian zeigt sie, wie nahe Schmutz und Sauberkeit – hier der Müll der Wegwerfgesellschaft, dort deren Obsession mit Sauberkeit – beieinander liegen. "Der Urgroßvater schaufelt den Müll der anderen weg. Drei Generationen später kommt Kim mit den cleansten Cremes auf den Markt", sagt Hadodo.
Verdrängt wurde lange auch der Völkermord an den Armenier*innen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Herrschaftsbereich des russischen Zaren und der Osmanen lebten. Im Osmanischen Reich stellten die Armenier*innen nach den Griech*innen die zweitgrößte christliche Minderheit. Die osmanische Regierung war für die Massaker und Todesmärsche in den Jahren 1915 und 1916 verantwortlich, bei denen nach Schätzungen mindestens 300.000, möglicherweise mehr als 1,5 Millionen Menschen starben. Doch bereits in den Jahrzehnten zuvor waren zwischen 80.000 und 300.000 Armenier*innen getötet worden.
Nairi Hadodo kennt die Geschichte dieses Genozids gut. Sie ist in Düsseldorf aufgewachsen, Erzählungen über den Völkermord begleiteten sie seit ihrer Kindheit – ebenso wie dessen Leugnung. Ihre armenische Mutter stammt aus Teheran, ihr aramäischer Vater wurde im Südosten der heutigen Türkei geboren. Die Aramäer*innen, die auch als Chaldäer*innen oder syrische Christ*innen bekannt sind, wurden als christliche Minderheit im osmanischen Reich ebenfalls Opfer des Genozids. "Die Überlebenden des Völkermords haben türkische Nachnamen bekommen. Wir wussten aber immer, dass wir auf aramäischer Seite Hadodo hießen. Wir haben als Familie entschieden, dass wir kollektiv die Namensänderung beantragen." Seit Nairi 18 Jahre alt ist, heißt sie Hadodo, den türkischen Nachnamen legte sie ab. "Ich war die erste, die schon als Kind gesagt hat: Ich ändere diesen Namen. Ich habe keine Sekunde damit gefremdelt."
Nicht gesehen werden
Hadodo wurde 1995 geboren. Für die deutsche Mehrheitsgesellschaft galt ein schwarzhaariges Kind wie sie schlicht als Türkin. "Und das in einem Land, das Mittäter beim Völkermord war", sagt sie. Hadodo erinnert sich daran, wie sie in der Schule vom Genozid an den Armenier*innen erzählte und "große verwirrte Augen" sie anschauten. Zum Teil wurde sie auch von deutschen Mitschüler*innen beschuldigt, Dinge zu verdrehen oder gar zu leugnen. Das armenische Erbe habe daher viel damit zu tun, nicht gesehen zu werden.
Das kollektive Trauma liege unter anderem darin, dass vielerorts immer noch nicht anerkannt werde, was passiert sei. Sie erklärt dies mit einem Vergleich: "Wenn man einem Vergewaltigungsopfer sein Leben lang sagt, es ist nicht passiert, kann das Opfer auch nicht an den Punkt kommen zu sagen: Ich lasse die Wut raus, ich lasse zu, dass es passiert ist. Wenn du immer um diesen ersten Schritt ringen musst, dann kann das eine Kultur brechen. Das ist ein potentes Mittel, um Völker kleinzuhalten." Wer nicht als Opfer anerkannt werde, könne sich auch nicht in die Freiheit begeben, nach vorn schauen.
Hadodos Vater, ein Architekt, kam meist erst abends nach Hause, die Mutter sprach mit den Kindern Armenisch. Erst in der Schule lernte Hadodo Deutsch. Die Familie war in der armenischen Gemeinde in Düsseldorf aktiv. Besonders gläubig sei ihre Familie nie gewesen. Die Eltern unterstützten die Kirche, damit die armenische Gesellschaft wachsen könne. Die Gemeinde unterhielt einen Jugendtreff, und Hadodos Mutter organisierte Sprachunterricht für die Kinder. "Armenisch zu sein hat in Deutschland viel mit der Kirche zu tun, weil die Religion eine Widerstandsbewegung war", erklärt sie. Für eine Gruppe, die wegen ihrer Religion Opfer eines Genozids wurde, sei es eine politische Geste, sich dazu zu bekennen. "Dann ist man aus Prinzip Christ."
Rolle der Kirche
Die Rolle der Kirche wird auch im heutigen Armenien kontrovers diskutiert. Regierungschef Nikol Paschinjan hat dort stark an Zustimmung verloren, weil er zuließ, dass Aserbaidschan vor knapp zwei Jahren die Region Bergkarabach, armenisches Kernland, militärisch übernahm. Die mehr als 100.000 Einwohner*innen mussten nach Armenien fliehen. "Viele Armenier haben das Gefühl, dass ihre Seele verkauft wird", erklärt Hadodo die Proteste im Land.
Vor Kurzem ließ Paschinjan Erzbischof Bagrat Galstanjan festnehmen, weil dieser angeblich an einem Putschplan beteiligt war. "Der Regierungschef kommt aus einer kommunistischen Prägung, sein Feindbild ist die Kirche." In Zeiten, in denen die armenische Identität bedroht sei, die Kirche anzugreifen, statt die Grenzen zu schützen, wo die omnipräsente aserbaidschanische Armee auch schon auf armenische Zivilist*innen geschossen habe – das lasse die Leute fragen: "Was ist die Agenda der Regierung?"
Ihre armenische Herkunft hat Hadodo als Mensch, Schauspielerin und Dramatikerin stark geprägt. Sie sieht sich aber nicht als Opfer, weil ihr das Aufwachsen in Deutschland Emanzipation ermöglicht habe. Als Jugendliche hörte sie Metal, legte sich eine vom Punk inspirierte "Uniform" zu. "Ich wollte kundtun, dass ich dagegen war, wie viele Dinge laufen. Ich kam aus einem patriarchal geprägten Haushalt. Ich wollte mich abgrenzen und sagen: Ihr müsst damit umgehen."
Mit 18 saß sie im Philosophieseminar und las feministische Klassiker. Sie studierte Kunst in Düsseldorf, bevor sie an der Folkwang Universität der Künste in Bochum ihr Schauspielstudium aufnahm. Jetzt steht sie mit dem ersten eigenen Stück auf der Bühne, in der sich ihre Geschichte widerspiegelt.
Am Ende unseres Gesprächs in Berlin-Kreuzberg, wo sie inzwischen lebt, sagt sie noch etwas, das man wohl als Motto ihrer Auseinandersetzung mit der Welt begreifen kann: "Neugier ist etwas, das man schützen muss."
Weitere Infos auf dem Insta-Account von Nairi Hadodo und zu den Vorstellungen von "Kim" in Berlin.
Ulrich Gutmair ist Redakteur und Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.