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Flüchtlingsboot und WTC-Balkon

Der Kunsthistoriker Michael Diers untersucht in seinem Essay "Gegen den Strich" Formen politischer Kunst.
Interview: Brigitte Werneburg
Was macht Kunst für Sie politisch?
Politische Kunst ist ein Etikett, das allzu oft diffamierend benutzt wird. Man unterstellt vielfach, es handele sich nicht um Kunst, sondern um Didaktik, Agitation oder gar Propaganda. Aber das ist nicht die Idee einer Kunst, die ich als politisch verstehe. Diese Kunst ist autonom, weil sie den Vorstellungen der Künstler*innen entspricht, die mit ihren Werken in die Gesellschaft zurückwirken möchten. Mit dem Begriff "Formen" ziele ich auf die ästhetische Seite. Die von mir angeführten Beispiele zeichnen sich dadurch aus, dass neue ästhetische Formen für politische Ideen und Konzepte gefunden wurden.
Sie nennen den Schweizer Künstler Christoph Büchel, der auf der Biennale von Venedig im Jahr 2019 ein im Mittelmeer gesunkenes Flüchtlingsboot ausgestellt hat. Was war seine Botschaft?
Mit dem Flüchtlingsschiff, das auf Anordnung der italienischen Regierung gehoben wurde, war das bis dahin größte Bootsunglück von Migrant*innen auf dem Mittelmeer verbunden. Indem Büchel das Schiff kommentarlos ausstellte, konnte sich jeder seine eigenen (politischen) Gedanken machen, sobald er den verrosteten Kahn als Flüchtlingsboot erkannt hatte. Das Schiff wurde zum Denkanstoß und zum Katalysator einer Debatte.
Die Neue Zürcher Zeitung behauptete, Büchel habe das Boot mithilfe seiner Galerie gekauft und das Unglück Schwarzer Menschen vermarktet …
Die Galerie hat das Schiff nicht erworben, es gehört weiterhin dem sizilianischen "Komitee vom 18. April". Im Gegenteil, es gab Versicherungsprobleme beim Rücktransport, für die Christoph Büchel privat aufkommen sollte. Als Schweizer Künstler arbeitete er damals mit der Schweizer Galerie Hauser & Wirth zusammen, die zu den Top Ten der internationalen Galerien gehört. Das Haus hat sich inzwischen von Büchel getrennt. Seine Positionen passten offenbar nicht mehr ins Konzept.

"Gegen den Strich": Michael Diers, emiritierter Professor für Kunstgeschichte
© privat
Sie erwähnen auch eine Aktion der österreichischen Künstlergruppe Gelatin, die im Jahr 2000 im 91. Stock des World Trade Centers in New York kurzzeitig einen kleinen Holzbalkon errichtete. Eine Ausstellung dazu wurde ausgerechnet am 11. September 2001 eröffnet. Aber das war Zufall. Was war an der Aktion politisch?
Die Gelatin-Aktion wurde rückblickend aufgrund der Angriffe auf das World Trade Center am 11. September 2001 stark politisiert. Man warf den Künstlern vor, gewollt oder ungewollt, die Anleitung für die terroristischen Attacken geliefert zu haben, indem sie die Aufmerksamkeit auf die Türme gelenkt und damit den Attentätern eine Maßgabe geliefert hätten. Das ist völlig absurd. Selbstverständlich haben sie gegen Sicherheitsauflagen verstoßen, die in einem solchen Wolkenkratzer gelten, und dadurch anarchisch agiert. Im Widerstand gegen das nach außen vollständig abgedichtete Haus, haben sie sich die Freiheit genommen, für wenige Minuten einen winzigen Balkon zu errichten. Neben dem Spaß haben sie für ihre Kunst eine neue, ungewöhnliche Bühne geschaffen. Das lässt sich entfernt als politische Haltung verstehen. Politisch waren aber insbesondere die Reaktionen der Öffentlichkeit und der Behörden.
Ist Ihr Essayband über Kunstwerke, die ihre Haltung zur Welt eher über ihre Form als über ihr Sujet definieren, auch eine Art Anleitung für das Lesen zeitgenössischer Kunstwerke?
Die Idee zu dieser Sammlung von Werkmonografien ist aus dem Umstand erwachsen, dass ich keine klassischen Bücher schreiben kann, sondern nur Aufsätze. Nach rund 25 Seiten ist für mich bereits alles Wesentliche zum Thema gesagt. Folglich greife ich auf die Form des Essays zurück. Ich muss es schaffen, meine Gedanken im Rahmen des genannten Umfangs klarzulegen. Und ja, es geht auch um ein methodisches Problem. Es geht darum, die in Betracht stehenden Werke jeweils intensiv zu betrachten und sie in exemplarischen Analysen vorzustellen. Zunächst beschreibe ich ausführlich, was ich sehe und verstehe. Im Anschluss diskutiere ich die künstlerisch formulierten Gedankengänge, reformuliere sie gegebenenfalls und kommentiere sie kritisch. Das geht nur im Detail.
Haben die von Ihnen erwähnten Beispiele etwas Gemeinsames?
Vielleicht liegt im Stichwort "Provokation" ein gemeinsamer Nenner. Das ist leider ein recht abgestandener Begriff, steht er doch oft für Provokation um der Provokation willen. Dennoch vergibt die Kunst in meinen Augen häufig die Chance, zu stören und zu verstören. Es gibt zu viel Kunst, die einfach nur schön sein möchte, in Form von Dekoration oder gar Kitsch. Aber das ist kaum ihre zentrale Aufgabe.
Sie kritisieren, dass Kunstwerke durch politische Kontroversen nicht mehr die nötige Aufmerksamkeit bekommen. Als Beispiel nennen Sie das Stoffbild "People’s Justice" der Gruppe Taring Padi, das wegen des Vorwurfs der Verwendung antisemitischer Stereotypen aus der documenta 15 entfernt wurde. Sie vergleichen das Werk mit einer Darstellung des Jüngsten Gerichts aus dem 12. Jahrhundert in Venedig. Doch gibt es auch in der mittelalterlichen Kunst antisemitische Darstellungen. Wie beurteilen Sie diese?
Ein berühmt-berüchtigtes Beispiel judenfeindlicher christlicher Kunst ist die Darstellung der "Judensau". Um ein solches Relief aus dem frühen 14. Jahrhundert an der Wittenberger Stadtkirche gibt es seit Jahren Streit. Soll es entfernt werden, weil dadurch jüdische Gläubige ausgegrenzt und verletzt werden? Oder ist es als historisches Dokument zu erachten? Die Kirche hat vor Jahren eine erklärende Kommentartafel angebracht, aber das reicht den Kritiker*innen nicht. Sollen nun aber sämtliche Antijudaismen aus den Kirchen und Museen entfernt werden? Das Christentum (und seine Kunst) ist voll von ideologischen Verblendungen und Vorurteilen. Wie aber steht es um das Geschichtsbewusstsein? Man kann die Geschichte nicht korrigieren, nicht in ihrer Grausamkeit, nicht in ihrem Antisemitismus und Rassismus. Ich muss mich damit vielmehr aus der historischen Distanz kritisch auseinandersetzen. Das gilt auch für die Kunst des indonesischen Kollektivs Taring Padi. Sein Banner "People’s Justice" war, als es in Kassel entrollt wurde, bereits zwei Jahrzehnte alt. Als Historienbild kommentiert es das totalitäre Suharto-Regime und seine Überwindung.
Verschwindet die geschichtliche Dimension aus der Kunstkritik?
In unserer Gesellschaft scheint es derzeit offenbar nur die Möglichkeit zu geben, umstrittene Kunstwerke ganz aus der Öffentlichkeit oder in den "safe space" des Museums zu entsorgen. Dort werden dann die Kontexte ausführlich und didaktisch erläutert. Allerdings wandelt sich dadurch der Charakter der Objekte: Ihr Kunstcharakter schwindet. Aktuell scheint die Gesellschaft nach Konfliktstoff geradezu zu suchen. Und leider gibt die Kunst unfreiwillig dafür häufig den Sündenbock ab.
Michael Diers ist emeritierter Professor für Kunstgeschichte in Hamburg und Berlin. "Gegen den Strich. Die Kunst und ihre politischen Formen" erschien 2023 bei Hatje Cantz.
Brigitte Werneburg ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.