Rohingya in Myanmar: "Absolut desaströs"
Vielen bleibt nur die Flucht: Rohingya auf dem Weg nach Indonesien, Ulee Lheue Beach, Januar 2025
© Cek Mad / AFP / Getty Images
Die Rohingya-Bevölkerung in Myanmar erlebt derzeit eine weitere Welle der Gewalt. Nach Bangladesch geflohene Rohingya wissen nicht, ob sie zurückkehren können und wollen.
Von Oliver Schulz
Angesichts der zahlreichen globalen Krisen gerät eine der aktuell größten humanitären Katastrophen immer mehr in den Hintergrund: die Lage der Rohingya im Bürgerkriegsland Myanmar wie auch im Nachbarland Bangladesch, wohin viele von ihnen geflüchtet sind.
"Die Menschenrechtslage in Myanmar ist seit dem Militärputsch im Februar 2021 absolut desaströs", sagt Theresa Bergmann, Asien-Expertin von Amnesty in Deutschland: "Die Junta hat seither mehr als 6.000 Menschen getötet und mehr als 20.000 Menschen willkürlich inhaftiert, es gibt mehr als drei Millionen Binnenvertriebene, und mehr als ein Drittel der Bevölkerung benötigt humanitäre Hilfe. Außerdem fliegt das Militär weiterhin großflächig Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung. Davon ist insbesondere die Rohingya-Bevölkerung betroffen: Sie erlebt derzeit die schlimmste Welle der Gewalt seit 2017 und steht im Bundesstaat Rakhine im Kreuzfeuer des Konflikts zwischen der Armee und der bewaffneten Gruppe der Arakan Army."
Kriegsverbrechen und Genozid in Rakhine halten an
Im Januar dieses Jahres wurden bei einem Luftangriff der Armee auf das von der Arakan Army kontrollierte Fischerdorf Kyauk Ni Maw mindestens 40 Zivilpersonen getötet und 500 Häuser niedergebrannt. Die meisten Opfer waren Rohingya. Die Auseinandersetzungen zwischen der Militärjunta und der Arakan Army, der vor allem buddhistische Arakanesen angehören, haben dazu geführt, dass seit dem vergangenen Jahr abermals Zehntausende Rohingya geflohen sind – obwohl die Grenze zum Nachbarland Bangladesch offiziell geschlossen ist.
"Die Kriegsverbrechen und der Genozid im Bundesstaat Rakhine durch das Militär und die Arakan Army halten an", sagt Tun Khin, Aktivist und Präsident der Burmese Rohingya Organisation in Großbritannien. "Die Menschen fliehen verstärkt über das Meer, um zu vermeiden, an der Landgrenze zurückgewiesen zu werden." Nach Angaben der Vereinten Nationen flohen 2024 mehr als 8.000 Rohingya allein auf dem Seeweg nach Bangladesch, ein Anstieg von 80 Prozent gegenüber 2023. Mindestens 650, fast die Hälfte davon Kinder, kamen bei der Überfahrt ums Leben.
In den Lagern in Bangladesch wird die Situation unterdessen immer schwieriger. Wer es zuletzt über die Grenze schaffte, ist dort oft auf die Unterstützung von Verwandten angewiesen. Berichten zufolge konnten sich viele Menschen, die zuletzt dort ankamen, nicht beim UN-Flüchtlingshilfswerk registrieren lassen. Aus Angst vor Abschiebung trauen sie sich nicht, sich frei zu bewegen, und bekommen deshalb keine Mahlzeiten und werden selbst in Notfällen nicht medizinisch versorgt.
Mohammed Salim Khan lebt im Flüchtlingslager Kutupalong nahe der Küstenstadt Cox’s Bazar im südlichen Bangladesch. Mit knapp einer Million Bewohner*innen ist es das größte Flüchtlingslager weltweit. Der 32-Jährige ist dort geboren: "Meine Eltern wurden 1991 im Zuge einer früheren Welle der Gewalt in Myanmar zu Flüchtlingen." Sie lebten in Buthidaung, einer Stadt im Bundesstaat Rakhine, erzählt er. "Auch meine Frau und meine drei Kinder sind in Kutupalong geboren." Khan arbeitet als Fotograf und als Ausbilder bei der Feuerwehr und der Wasserrettung in verschiedenen Camps.
Die Lebensbedingungen sind sehr hart. "Wir wohnen in zerbrechlichen Unterkünften aus Bambus und Plastikplanen, dicht an dicht. Es gibt kaum Platz, keine Privatsphäre. Sauberes Wasser ist schwer zu finden, grundlegende Dinge wie Toiletten und medizinische Versorgung sind nicht immer vorhanden. Manchmal gehen wir hungrig zu Bett. Unsere Kinder träumen davon, zur Schule zu gehen, doch die Bildungsmöglichkeiten sind sehr begrenzt."
Zwischen den Fronten
Was eine Rückkehr nach Myanmar angeht, ist Mohammed Salim Khan skeptisch: "Viele der Flüchtlinge hier sahen ihre Häuser brennen, sahen Familienmitglieder sterben und flohen nur mit dem, was sie am Leib trugen. Die meisten Menschen hier glauben, dass eine Rückkehr noch nicht sicher ist. Voraussetzung dafür wären Gerechtigkeit für das, was wir erlitten haben, und die Anerkennung unserer Rechte. Doch bisher hat Myanmar keine Bereitschaft gezeigt, uns in Würde und Sicherheit willkommen zu heißen, geschweige denn uns die Staatsbürgerschaft zu gewähren, die uns zusteht." Deshalb habe er Angst, zur Rückkehr nach Myanmar gezwungen zu werden. Andererseits habe er in Bangladesch kein Recht auf Arbeit und keine Bewegungsfreiheit. "Oft fühlen wir uns gefangen – wir sind vergessene Menschen, die ohne Hoffnung darauf warten, zurückzukehren."
Und die Sicherheitslage verschärft sich. Denn sowohl die Junta als auch die Arakan Army versuchen, Rohingya als Kämpfer*innen zu rekrutieren – nicht nur in Myanmar, sondern auch in den Lagern in Bangladesch. Einige Rohingya-Gruppen haben sich mit der Militärregierung in Myanmar verbündet. So soll die Junta ein informelles "Friedensabkommen" mit der bewaffneten Rohingya Solidarity Organization (RSO) getroffen haben. Mohammed Salim Khan sagt, außer von der RSO, die in Myanmar wie in Bangladesch agiert, fürchte er Übergriffe der Arakan Rohingya Salvation Army und der Arakan Rohingya Army, die vor allem im Bundesstaat Rakhine in Myanmar aktiv sind. Die Rohingya sind zwischen die Fronten geraten.
Volker Türk, UN-Hochkommissar für Menschenrechte, bezeichnet die Situation in Myanmar als untragbar: "Es ist von entscheidender Bedeutung, dass der Zugang für humanitäre Hilfe erleichtert wird, um den gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu helfen, insbesondere den Rohingya im Norden von Rakhine, die immer wieder den Kämpfen zwischen bewaffneten Rohingya-Gruppen und der Arakan Army ausgesetzt sind. Zivilistinnen und Zivilisten aller Gemeinschaften müssen geschützt werden und dürfen nicht von den Konfliktparteien als Zielscheibe genutzt werden, sei es durch Gewalt, Zwangsrekrutierung oder die Verweigerung von humanitärer Hilfe."
Es sei auch wichtig, daran zu erinnern, dass die Rohingya bereits unter "schrecklicher Gewalt gelitten haben", sagt Türk: "In seiner Entscheidung vom Januar 2020 über vorläufige Maßnahmen hat der Internationale Gerichtshof explizite Schritte seitens Myanmars gefordert, um Rohingya vor eventuellen Angriffen zu schützen, die Völkermordgefahren bergen." Im November 2024 beantragte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs einen Haftbefehl gegen Juntachef Min Aung Hlaing wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zusammenhang mit der Deportation und Verfolgung der Rohingya in den Jahren 2016 und 2017. Und ein Gericht in Buenos Aires erließ im Februar dieses Jahres Haftbefehle gegen ihn sowie 24 weitere Militärs Myanmars.
Tun Khin begrüßt diese Schritte. Doch reichten sie bei Weitem nicht aus: "Es muss eine Schutzzone eingerichtet werden, eine Art Staat für die Rohingya, in Myanmar." Zudem müsse die Junta dort sanktioniert werden, insbesondere was militärische Ausrüstung betreffe. "Wenn nicht, werden die Menschen weiter fliehen." Bangladesch allein sei mit den Folgen überfordert.
Oliver Schulz ist freier Autor und Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.
Weitere Infos zur Lage der Rohingya findest du hier, zum Amnesty-Report zu Myanmar geht es hier.