Amnesty Journal Kanada 19. Juni 2024

Kriminalisiert, weil sie ihr Land schützen

Eine Gruppe von kanadischen Indigenen stehen mit einem Regenschirm draußen auf der Straße vor einer Strommasten-Leitung.

Seit Jahrzehnten wehren sich Indigene in Nordamerika gegen den Bau neuer Gas- und Ölpipelines auf ihrem Land. Trotz aller Proteste und Warnungen wird weiter gebaut und gefördert.

Von Marianne Kersten

In den USA fordern Indigene der Anishinaabe Nation seit Jahrzehnten die Stilllegung der 71 Jahre alten Ölpipeline 5 des kanadischen Großkonzerns Enbridge Energy. Sie verursachte in der Vergangenheit mehr als 30 Ölunfälle, bei denen über eine Million Liter Giftstoffe in die Umwelt gelangten. 

In Kanada betont die Regierung zwar die guten Beziehungen zu den indigenen Völkern, genehmigt und finanziert aber gleichzeitig umweltzerstörende Megaprojekte zur Weiterleitung von Rohstoffen, die zudem ohne die vorgeschriebene "freie, vorherige und informierte Zustimmung" indigener Gemeinschaften durchgeführt werden. Dabei werden Wälder zerstört, die ­indigene Lebensweise eingeschränkt und Menschenrechtsverletzungen in Kauf genommen.

Permanente Überwachung

Zum Schutz ihres Territoriums wehren sich die Hereditary Chiefs der Wet’suwet’en in der kanadischen Provinz British Columbia gegen den Bau der Flüssiggas-Pipeline Coastal GasLink des kanadischen Unternehmens TC Energy, die durch ihr angestammtes Land verläuft und inzwischen weitgehend abgeschlossen ist. Um Proteste der Indigenen und ihrer Unterstützer*innen zu erschweren und den Pipelinebau durchzusetzen, beantragte die Firma eine einstweilige Verfügung beim Supreme Court of British Columbia, die im Jahr 2019 auch gewährt wurde. 

Damit wurde die Fortsetzung des Baus ohne die Zustimmung der Wet’suwet’en möglich. Zudem enthält die Verfügung Vollstreckungsklauseln, wonach Personen, die sich den Baustellen nähern oder  Straßen blockieren, in Haft genommen werden können. Für die Wet’suwet’en bedeutet die Verfügung eine Beschränkung ihrer Rechte auf territoriale Selbstverwaltung und ihrer Versammlungs- und Bewegungsfreiheit. "Die Verfügung ist in meinen Augen ein juristisches Mittel für die Regierung und die Industrie, um uns zu ignorieren, zu vertreiben oder zu kriminalisieren", sagte Freda Huson, weibliches Oberhaupt der Wet’suwet’en.

Die Verfügung ist in meinen Augen ein juristisches Mittel für die Regierung und die Industrie, um uns zu ignorieren, zu vertreiben oder zu kriminalisieren.

Freda
Huson
Oberhaupt der Wet’suwet’en

Außerdem werden die Wet’suwet’en von der permanent anwesenden kanadischen Polizei und Sicherheitskräften des Pipeline-Unternehmens rechtswidrig überwacht, rassistisch diskriminiert und eingeschüchtert. Bei vier groß angelegten Razzien zwischen 2019 und 2023 ging die Polizei mit unverhältnismäßiger Härte vor und rechtfertigte dies mit der einstweiligen Verfügung. Sie war mit Hubschraubern, Scharfschützen und Hundestaffeln vor Ort, drang gewaltsam in Häuser ein und schüchterte unbewaffnete und friedliche Protestierende ein. Es kam zu rassistischen und sexualisierten Beleidigungen und aggressiven Übergriffen durch maskierte Beamt*innen, die sich weigerten, sich auszuweisen. 

An Händen und Füßen gefesselt

Mehr als 75 Personen wurden während der Razzien willkürlich inhaftiert. Entgegen internationaler Menschenrechtsstandards befanden sich einige von ihnen mehrere Tage lang in Gewahrsam, bevor sie einen Haftrichter zu sehen bekamen. Die Landrechtsverteidiger*innen wurden in der Haft unzureichend versorgt und hatten nur eingeschränkte Möglichkeiten, einen Rechtsbeistand zu konsultieren. Die Indigenen unter ihnen wurden rassistisch diskriminiert: Anders als die Nicht-Indigenen wurden sie an Händen und Füßen gefesselt und mussten in langen Unterhosen im Gerichtssaal erscheinen. 

Im Januar 2024 sprach der Supreme Court of British Columbia drei Personen wegen Missachtung der einstweiligen Verfügung schuldig. Ihnen drohen 30 Tage Haft. Trotz des Schuldspruchs dauert das Verfahren an, da das Gericht nun Beschwerden wegen Menschenrechtsverletzungen während der Polizeirazzien, der Festnahmen und in der Haft prüft. 

Amnesty International hat den Schuldspruch scharf kritisiert. "In einer Zeit, in der indigene Landverteidiger*innen auf dem gesamten amerikanischen Kontinent in beispielloser Gefahr sind, weil sie ihre Territorien gegen Rohstoffprojekte verteidigen, sollte Kanada sie schützen, anstatt sie strafrechtlich zu verfolgen", sagte Ana Piquer, Direktorin für Nord- und Südamerika bei Amnesty International.

Die Autorin ist Mitglied der Themenkoordinationsgruppe Menschenrechte und indigene ­Völker von Amnesty Deutschland.

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