Amnesty Journal Italien 21. Februar 2025

Böse Jungs singen vor

Ein mittelalter Mann mit Glatze steht mit ein paar jugendlichen Männern zusammen und diskutiert.

Geschichten vom Fallen und Wiederaufstehen: Letzte Besprechung mit Don Claudio Burgio vor dem Auftritt

In Mailand werden aus straffälligen Jugendlichen die Stars von morgen. Mit seinem Musiklabel Kayros Music bietet ihnen Pfarrer Don Claudio Burgio Alternativen zur Gewalt.

Aus Mailand Nicoló Lanfranchi (Text und Fotos)

Um einen Tisch sitzen drei junge Männer, jeder hat ein Blatt Papier vor sich. Manche schreiben konzentriert ein Wort nach dem anderen, andere hastig, stoßweise, einer schreibt in arabischer Schrift. Aus einem Handy schallt ein einfacher Trap-Beat, zu dem die Köpfe im Takt nicken.

Einmal pro Woche übt die Sängerin Priscilla mit den Jugendlichen Schreiben und (Sprech)Gesang: "Für mich ist das Blatt Papier ein Psychologe. Indem die ­Jugendlichen einen Reim nach dem an­deren aufschreiben, bringen sie bewusst nach außen, was sie zuvor in ihrem Unterbewussten verborgen haben", sagt sie. "Danach arbeiten wir am Reimschema, an der Melodie – und schließlich muss noch alles in den Takt gebracht werden."

Wie ein Familienersatz

Der Workshop findet in einem Zentrum des Vereins "Kayros" (griechisch für "der günstige Augenblick") in Vimodrone statt, einem Vorort von Mailand. Gründer des Vereins ist der katholische Geistliche Don Claudio Burgio, der auch Gefängnispfarrer in der Mailänder Justizvollzugsanstalt "Cesare Beccaria" ist. In zwei großen Gemeindehäusern in Vimodrone sind 50 straffällig gewordene junge Männer zwischen zwölf und 25 Jahren untergebracht, die unter Aufsicht des Jugendgerichts, der Sozialbehörden und der Polizei stehen. Sie bewohnen Zweierzimmer, die sie nach einer erfolgreichen Probezeit tagsüber verlassen können. In Mailand betreibt Kayros zudem betreute Wohnungen für junge Erwachsene, die auf dem Weg zur sozialen und beruflichen Autonomie begleitet werden. Vor ­allem für die Jüngeren sind die Kayros-Häuser nicht nur ein Ersatz fürs Gefängnis, sondern auch Familienersatz.

Zusammen mit einem Team von rund 30 Mitarbeiter*innen kümmert sich Don Claudio um die jungen Männer. Fünf Bücher hat der 55-Jährige bereits über seine Arbeit mit Jugendlichen in Schwierigkeiten geschrieben. Der Titel des ersten, "Es gibt keine bösen Jungen", ziert in hohen Lettern den Eingang zum Zentrum. Herkömmliche Gefängnisse lehnt Don Claudio Burgio ab: "Wir dürfen diese Jugendlichen nicht wegsperren, sondern müssen sie erziehen", ist er überzeugt. Das heißt für ihn vor allem: Erziehung zur Verantwortung, zur Mithilfe etwa in der Küche, aber auch zur Eigenverantwortung. Mit väterlichem Blick verfolgt er, wie die Jugendlichen beim Workshop ihren Mut ­zusammennehmen und ihre Texte zum Beat singen. "Musik ist neben Sport ein bewährtes Mittel, um die Jugendlichen zu erreichen", sagt er. Die meisten seien bei ihrer Ankunft apathisch oder verroht. Musik sei für viele die einzige Möglichkeit, sich auszudrücken.

Konzept aus US-amerikanischen Gefängnissen

Im Zentrum gibt es ein kleines, aber gut ausgestattetes Tonstudio. Die Aufnahmen der jungen Männer werden über ein eigenes Musiklabel vertrieben. "Kayros Music" entstand 2023 aus einer Zusammenarbeit mit der Plattenfirma Universal und hat aktuell acht Musiker unter Vertrag. Das Zentrum hat bereits ein paar Promis hervorgebracht, Künstler wie "Baby Gang", "Simba La Rue" oder "Sacky" sind in der italienischen Trap-Szene sehr bekannt. Jenseits des kommerziellen ­Erfolgs sind sie auch Identifikationsfiguren für andere junge Männer aus problematischen Familien und Wohngegenden, die Schwierigkeiten mit der Schule, den Behörden und dem Gesetz haben. Die Texte handeln von Wut und Gewalt, Freundschaft und Verrat, Luxusautos und Familie, Drogen und Alkohol – den widersprüchlichen Gefühlswelten von Jugendlichen, die auf der Straße groß geworden sind.

Vielleicht gibt ihnen die Musik ein Stück ihrer verlorenen Kindheit zurück.

Anas
Erzieher
Ein junger Mann steht in einer Gesangskabine vor einem Mikrofon, er hat einen Kopfhörer auf.

William, 19 Jahre, ist als "Willy Boy" bei Kayros Music unter Vertrag.

Musik als Bewährungshelferin: Don Claudio und sein Team griffen damit ein Konzept auf, das in US-amerikanischen Gefängnissen seit Längerem erfolgreich praktiziert wird. "Es geht nicht darum, Kriminalität zu rechtfertigen oder zu verherrlichen", betont der Gefängnispfarrer, "sondern darum, Alternativen zur Gewalt aufzuzeigen, Träume und Wünsche zu formulieren." Don Claudio und seine Mitarbeiter*innen kennen die Lebensrealität derer, die schließlich im Gefängnis landen, aus eigener Anschauung. Oft sind es Einwandererkinder der zweiten oder dritten Generation, die in tristen Vororten aufgewachsen sind, in heruntergekommenen Sozialbauten oder verlassenen und illegal besetzten Häusern. "Der Grad der Vernachlässigung ist enorm. Es gibt nicht einmal Spielplätze, nur Beton", berichtet der Geistliche. "Und ab und zu ­explodiert dann mal was."

Im Nebenzimmer nimmt Anas mit zwei Nachwuchsmusikern die neuesten Tracks auf. Anas kam selbst mit 14 Jahren ins Jugendgefängnis und wurde von Don Claudio musikalisch gefördert. Heute gehört er zum erzieherischen Team von Kayros und leitet das Plattenlabel. Er stellt die zwei jungen Männer am Mikrofon vor: "Simo ist 18, aus San Siro, seine Mutter ist seit sieben Jahren im Gefängnis. Willy Boy kommt aus Bergamo. Er ist 19 und in Heimen aufgewachsen, sein Vater hat gerade eine Gefängnisstrafe von zwölf Jahren abgesessen. Beide mussten sich von klein auf allein durchschlagen. Vielleicht gibt ihnen die Musik ein Stück ihrer verlorenen Kindheit zurück."

Ein mittelalter Mann steht hinter einem Jungen und hält diesem Tomaten vor die Augen, der Junge lächelt

Küchenfaxen: Erzieher Davide mit Amr, 17, der mit zwölf als unbegleiteter Flüchtling aus Ägypten kam.

Alle öffnen sich auf der Bühne

In der Küche bereitet Davide während­dessen für die Jugendlichen das Mittagessen zu. Der 49-Jährige hat 24 Jahre seines Lebens in Gefängnissen verbracht. Im Zentrum habe er wieder angefangen zu leben, sagt er. Beim Gemüseschneiden bekommt er Hilfe von Amr, der als Zwölfjähriger Ägypten verließ und allein die gefährliche Reise über das Mittelmeer ­antrat. Jetzt ist er 17 und trägt auf seiner Haut Tattoos und Narben – Zeichen seiner Aufenthalte in diversen Jugendhaftanstalten.

"Es gibt keine bösen Jungs" ist auch der Titel eines Theaterstücks, das Don Claudio und seine Schützlinge entwickelthaben. Der Untertitel lautet "Geschichten vom Fallen und Wiederaufstehen". Bei der Uraufführung in einem Mailänder Vorort ist der Zuschauerraum bis auf den letzten Platz besetzt. Als die Lichter aus­gehen, lässt Don Claudio seine Jungs einzeln auf die Bühne treten. Sie erzählen von ihrem Weg, der sie schließlich zu ­Kayros führte. So zum Beispiel Mario, der freiwillig zu Don Claudio kam, weil er Hilfe brauchte. Jetzt hilft er den Jüngeren dabei, sich in der Gemeinschaft zurechtzufinden. Oder der kochende Sozialarbeiter Davide, der von den Selbstzweifeln erzählt, mit denen er nach 24 Jahren Haft wieder unter Menschen trat. Alle öffnen sich auf der Bühne, teilen intime Momente aus ihrem Leben.

Ein mittelalter Mann blickt durch die Tür eines Aufnahmestudios, über der leuchten Lettern: "Live on air".

Hier wird über Wut und Gewalt, Freundschaft und Verrat gesungen: Don Claudio im Aufnahmestudio von Kayros Music

Es geht um Kindheiten ohne Wärme und Sicherheit, um offene Wunden und Fehltritte, die sie erst ins Gefängnis und dann zu Kayros führten. Don Claudio hat sie alle angenommen, wie sie sind. Auf der Bühne stellt er ihnen noch einmal die wichtigsten Fragen: Woher kommst du? Was ist passiert? Was hast du hier gelernt? Was willst du sagen? Die jungen Männer antworten, sprechend, singend oder rappend, mit den Worten, die sie bei Priscilla im Workshop entwickelt haben. Sie wollen eine neue Chance, eine Möglichkeit, die über das Etikett "böser Junge" hinausgeht.

Aus dem Italienischen übersetzt von Nina Apin. Nicoló Lanfranchi ist freier Journalist, Fotograf und Filmemacher. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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