Amnesty Journal Indien 12. Oktober 2020

In den Slums von Mumbai

Drei in hellblauen Schutzanzügen gekleidete Menschen mit Mundnasenschutzmasken Corona-Pandemie: Mitarbeiter des Gesundheitswesens untersuchen Menschen in den Slums von Mumbai (23. August 2020).laufen durch eine enge Gasse in einem Slum in Mumbai, wo Bewohnerinnen und Bewohner in traditioneller indischer Kleidung sitzen und stehen.

Ein halbes Jahr nach dem Corona-Lockdown kehrt Normalität in Mumbai ein. Das gilt auch für die informellen Siedlungen der indischen Metropole. Doch Normalität heißt: Die großen Probleme bleiben.

Aus Mumbai Natalie Mayroth, Mitarbeit: Mayur Yewle

Saroj sitzt am Straßenrand anstatt an der Nähmaschine und verkauft Zwiebeln und Kartoffeln. Nichts zu tun, kommt für sie als Mutter nicht infrage, denn sie trägt mit ihrem Lohn zum Familieneinkommen bei. Die Textilindustrie in ihrer Nachbarschaft, einem Vorortslum von Mumbai, ist seit dem Corona-Lockdown Ende März weitgehend stillgelegt. Viele, die plötzlich ihren Job verloren, verließen die Stadt, weil sie ohne Einkommen ihre Miete nicht mehr stemmen konnten.

Doch Sarojs Familie blieb, sie ist hier Zuhause. Wie sie lebt fast die Hälfte der Bevölkerung Mumbais in informellen Siedlungen, Slums oder alten Fischerdörfern. Ihre Siedlung liegt an einer lauten Hauptstraße, die sich in kleine Gassen verzweigt.

Lebensmittelversorgung normalisiert sich

Viele der kleinen Fabriken, die Kleidung herstellen, und der Großhändler, die sie verkaufen, sind noch geschlossen. Hier und da haben aber auch neue Unternehmen aufgemacht. "Viele der vor Arbeiterinnen und Arbeiter sind aber wieder zurückgekommen", erzählt der Sozialarbeiter Aniket Gamare. Auch wenn längst nicht alle wieder ihre alte Stelle antreten können. Einige heuern zunächst als Bauarbeiter an oder suchen sich andere Gelegenheitsjobs, um über die Runden zu kommen.

"Politiker haben in unserer Gegend Essen verteilt", berichtet Gamare. Sonst bekommen Kinder aus benachteiligten Familien in der Schule ein kostenloses Mittagessen, wenn sie nicht wegen Corona ausfällt. Insgesamt habe sich die Lebensmittelversorgung und das Leben aber wieder einigermaßen normalisiert, sagt Gamare.

Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter sind allerdings eine besonders gefährdete Gruppe, stellt Anand Jagtap fest, der seit mehr als 25 Jahren im öffentlichen Dienst der Stadt im Bereich der Wasser- und Abwasserversorgung in den Slums von Mumbai arbeitet, um die zu verbessern. Unter ihnen gebe es eine sehr starke Fluktuation, sie seien deshalb schwer zu erreichen und ihre Bereitschaft, Risiken einzugehen, sei hoch.

Eine Toilette für 100 Personen

Im Osten und Westen Mumbais tauchen immer wieder neue informelle Siedlungen auf, die alleinstehende Wanderarbeiter anziehen – ohne ausreichende Wasserversorgung, was in Zeiten der Pandemie besonders problematisch ist. "Neue Slums haben in der Versorgung nicht die gleiche Priorität wie bereits anerkannte Siedlungen", erklärt Jagtap. Auch Abstandhalten ist in der indischen Metropole kaum möglich, denn etwa die Hälfte der Bevölkerung Mumbais lebt auf gerade mal acht Prozent der Stadtfläche. Mancherorts müssen sich mehr als 100 Menschen eine Toilette teilen.

Die Anzahl der Corona-Infektionen in Indien liegt mittlerweile bei über sieben Millionen (Stand: Oktober 2020), mehr als 100.000 Menschen sind an Covid-19 gestorben. Dennoch sind in Mumbai viele Menschen die Pandemie leid. Sie setzen ihre Masken nicht mehr richtig auf oder tragen erst gar keine. Immer öfter tauchen große Warnplakate im Stadtbild auf, die vor Häusern warnen, in denen Corona-Infektionen bekannt wurden. Nach Angaben der Behörden haben 45 Prozent der Slum-Bevölkerung Mumbais bereits Antikörper gegen Covid-19 entwickelt. Außerhalb der Slums gilt das für weniger als 20 Prozent der Bevölkerung.

Natalie Mayroth ist freie Journalistin und Indien-Korrespondentin der taz.

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