Amnesty Journal Deutschland 02. September 2022

Lieder aus der fremden Heimat

Eine türkische Frau mittleren Alters sitzt in einem Wohnzimmer auf einem Sofa und hält eine gerahmte goldene Schallplatte in den Händen auf ihrem Schoß; sie trägt Halsketten, einen Blazer und ist geschminkt, hinter ihr steht ein Sessel und ein Beistelltisch mit einer Lampe.

Regisseur Cem Kaja hat mit "Liebe, D-Mark und Tod" eine spektakuläre Musikdokumentation über 60 Jahre türkischer Migration gedreht.

Von Jürgen Kiontke

Wenn es einen besonderen Star gibt unter den vielen Stars in Cem Kayas rasanter Musikdokumentation "Aşk, Mark ve Ölüm" – zu deutsch: Liebe, D-Mark und Tod –, dann ist es wohl Derdiyoklar Ali. Per Kamera sind wir mitten in einem seiner wilden Konzerte. Seine E-Gitarre trägt er lässig wie Frank Zappa, zieht, schleift sie über die Bühne, spielt mal auf dem Boden, mal hinter den Ohren … Ein explosives Gitarrensolo jagt das andere; locker eingestreut die Gesangsfetzen auf Türkisch, Kurdisch und Arabisch.

Nicht minder eindrucksvoll, aber von völlig anderer Basis, dem Schlager, aus­gehend, ist der Gesang Yüksel Özkasaps, unter Türk*innen in Deutschland als "Nachtigall von Köln" bekannt, unter Deutschen, wie Gitarrist Ali auch, gar nicht. Dabei hat Özkasap goldene Schallplatten gesammelt – und das, obwohl der Großteil ihrer Arbeit auf Kassetten in türkischen Supermärkten über den Tresen ging. Asyk Metin Türköz? Veröffentlichte über 70 Singles! Ismet Topcu? Psychedelik-Meister auf der Langhalslaute Saz!

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Sie alle begannen in den späten 1960er Jahren mit Karrieren, die dem offiziellen Musikbetrieb verborgen blieben. Wie rund 3.000 anderen Künstler*innen ist ihnen gemein, dass sie als "Gastarbeiter*innen" nach Deutschland kamen, in Autowerken und weiteren Industriebetrieben am Band standen, bis sich eine andere Zukunft auftat.

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Rassismus, Heimweh, Arbeitsalltag

Die türkischen Musiker*innen traten zunächst recht bieder auf Hochzeiten auf, trauten sich mit dem Aufkommen der Rockmusik aber bald mehr zu. Ein neuer Stil entstand: "Gurbetçi-Lieder", Lieder aus der Fremde; eine originär in Deutschland gespielte Musik, deren Texte meist von den Härten der Migration, von Rassismus, Heimweh und Arbeitsalltag ("Statt Fleisch und Knochen habe ich nur noch Sägemehl im Körper") reichte.

Und im Herkunftsland Türkei? Zu Zeiten der Militärdiktatur wurden die Werke der Künstler*innen von Geheimdienst und Polizei als Protestform eingestuft – mit durchaus ernsten Folgen, wenn sie auf Familienbesuch kamen und im Gefängnis landeten.

Aber der Film bleibt nicht in der Vergangenheit stehen. Mit der Wiedervereinigung erlebte die Musik mit türkischen Wurzeln in Deutschland abermals einen Politisierungsschub, dem sich auch der einfache Hochzeitssänger nicht entziehen konnte – vor dem Hintergrund rassistischer Anschläge wie jenem in Solingen 1993, bei dem fünf Menschen starben. Musik und Texte wurden härter und ­direkter. Und so gibt der Film auch einen Ausblick auf die Gegenwart und die heu­tigen Protagonist*innen.

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"Liebe, D-Mark und Tod" setzt diesen vielfältigen Musikformen ein Denkmal, lässt das Publikum eintauchen in eine unbekannte Kultur direkt um die Ecke. Wie Ali sind die Protagonist*innen im Interview schlagfertig, politisch bewusst, nehmen souverän Stellung zu ihrer Migrationsgeschichte, die mit Archivmaterial, Ausschnitten aus TV-Dokumentationen und privaten Konzertaufnahmen zu turbulenten Sequenzen montiert ist. Ein Meisterwerk filmischer Geschichtsschreibung, das einen bisher verborgenen, authentischen Musikschatz zugänglich macht.

Jürgen Kiontke ist freier Autor, Journalist und Filmkritiker. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

"Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod". D 2022. Regie: Cem Kaya. Kinostart: 29. September 2022.

WEITERER FILMTIPP

Menschen kaufen Menschen

von Jürgen Kiontke

Sandra aus Deutschland ist 29 Jahre alt, in ihrem Jurastudium steht sie kurz vor dem Examen. Menschenhandel ist ihr Thema, und das ist kein Zufall: Bereits als Schülerin wurde sie ins Prostitutionsmilieu verschleppt und erfuhr rohe Gewalt am eigenen Körper. Grizelda aus Südafrika engagiert sich gegen den "Verkauf" junger Mädchen in die Prostitution. Auch sie wurde entführt. Stepanka aus Tschechien teilt das Schicksal der beiden, sie war lange Zeit eine Gefangene, hatte 30 Freier am Tag. Anders als die beiden Aktivistinnen lebt sie heute zurückgezogen auf einem Bauernhof und ist dabei, eine Familie zu gründen.

Die drei Frauen sind Opfer von Menschenhandel geworden. Nun sind sie die Hauptdarstellerinnen in Helen Simons Dokumentarfilm "Voices from The Fire". Der Titel stammt aus einem Gedicht, das übers Bild läuft. Dort heißt es: "Wir werden ein Licht in der Dunkelheit sein."

Die Frauen in Simons Film konnten den Strukturen der Prostitution nur mit erheblicher Eigenenergie und einer ­Portion Glück entkommen. Was sie da­rüber berichten, geht oft an die Grenzen des Erträglichen. Sandra und Grizelda halten darüber Vorträge in der Öffent­lichkeit und werden durch ihre Arbeit ­regelmäßig zurückgeworfen in die Zeit, in der sie schwerer Gewalt ausgesetzt ­waren.

Die Internationale Arbeitsorgani­sation der UNO geht von 20, andere Ver­einigungen gehen gar von 40 Millionen Menschen weltweit aus, die von dieser Art der organisierten Kriminalität betroffen sind. Simons Film benennt auch Hintergründe: Armut, Diskriminierung und ­frühe Gewalterfahrungen machten den Nährboden aus, auf dem sich diese totale Ausbeutung überhaupt erst entfalten könne.

Ebenso aber berichtet sie von konkreten Hilfen und Ausstiegsmöglichkeiten. "Voices from The Fire" ist ein zutiefst ­bewegender und wichtiger Film.

"Voices from The Fire" CZE/D 2021. Regie: Helen Simon. ­Kinostart: 25. August 2022.

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