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"Verzeihen bedeutet nicht vergessen"
Christian Pfeil wurde im Ghetto von Lublin geboren und später Sternegastronom in Trier, Neonazis verwüsteten sein Restaurant.
© Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Seit 1997 gibt es in Heidelberg das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma. Mit der Ausstellung "Das vergessene Gedächtnis" erinnert es an die Verfolgung von Sinti*zze und Rom*nja in der NS-Zeit und danach. Ein Gespräch mit der Projektleiterin Vera Tönsfeldt.
Interview: Frédéric Valin
Was ist das Ziel Ihrer Ausstellung?
Wir wollen die Geschichte der Betroffenen erzählen und sie selbst sprechen lassen. Wir klagen nicht an. Wir erinnern. Auch die Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, sagen uns sehr oft: Wir sind gerade dabei, zu verzeihen. Aber verzeihen bedeutet nicht vergessen. Und wir versuchen, ein Archiv der Dinge zu werden, die Träger des Gedächtnisses sind.
Wie wurde in der NS-Zeit definiert, wer Rom*nja und Sinti*zze angehört?
Die Geschichte der Ausgrenzung reicht weit zurück, aber wenn wir in die nähere Vergangenheit gucken, ab dem Deutschen Kaiserreich, gibt es ein Wechselspiel aus Stammbaumforschung und Repression. Im Kaiserreich existierten schon ganze Polizeidirektionen, die sich nur um Z*-"kriminalität" kümmerten. Im Nationalsozialismus wurden Institute gegründet wie die Rassehygienische Forschungsstelle in Tübingen. Dort wurden Köpfe vermessen, Augenfarben verglichen, es gab Fotosammlungen von Nasen, Ohren und Händen. Auf diese Weise wurde eine Art Bilderbuch der Rassifizierung hergestellt.
Wann begann die Verfolgung und Vernichtung?
Man hat sehr früh angefangen, Menschen, die unter die Z*-Kategorie gefasst wurden, zusammenzupferchen. Die ersten Zwangslager entstanden 1935. Fünf Jahre später kam es zu den ersten großen Deportationswellen, und 1943 wurde dann in Auschwitz-Birkenau ein sogenanntes "Familienlager" eingerichtet. Der Begriff "Familienlager" klingt verharmlosend. Von Zeitzeug*innen wissen wir, dass auch hier – wie überall im KZ – unmenschliche Zustände herrschten. Fest steht, dass es ein eigenes Vernichtungsprogramm für diese Menschen gab. Bis heute gibt es in Deutschland keine einzige Familie, die sich als Sinti begreift, die niemanden während der NS-Zeit durch Mord verloren hat.
Warum wurde dieser Völkermord erst 1982 offiziell anerkannt?
Sinti und Roma hatten nach 1945 keine Lobby. Das Schicksal teilten sie zum Beispiel mit den Opfern der Euthanasiemorde. Anders war es bei Juden und Jüdinnen: Als größte Opfergruppe hatten sie auch international Unterstützung. Dagegen wurde bei den Sinti und Roma die Unterdrückungsgeschichte – wenn auch abgeschwächt – nahtlos weitergeschrieben. Das lag auch daran, dass es nach ’45 keinen Bruch gab. Im Justizapparat, bei der Polizei und in anderen Behörden waren Menschen weiterbeschäftigt, die das Programm zur Ermordung der Sinti und Roma mitgetragen hatten. Erst als es in den 1970ern eine Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma gab, begann ein Erwachen. Es gab beispielsweise 1980 in Dachau einen Hungerstreik, um die Anerkennung dieses Völkermords durchzusetzen. Erst daraufhin hat die Bundesregierung völkerrechtlich bindend Verantwortung übernommen. Die Besetzung des Tübinger Universitätsarchivs 1981 war auch eine Schlüsselaktion. Ihr haben wir es zu verdanken, dass wir noch über die Akten der Rassehygienischen Forschungsstelle verfügen, die sonst wohl nach und nach verschwunden wären.
Wie stellt sich die Situation heute dar?
Die grundsätzliche Diskriminierung setzt sich bis heute fort. Die relative Armut osteuropäischer Roma, ihre angebliche Bandenkriminalität etc. ist ja immer noch sehr oft Thema – diese Menschen werden weiter kriminalisiert. Dazu muss man aber wissen, dass beispielsweise in Rumänien die Versklavung der Roma bis in die 1890er Jahre legal war. Damit war ihnen auch ihre Wirtschaftsleistung entzogen worden, und das wurde niemals kompensiert. Wir haben da eine seit Jahrhunderten vererbte Armut. Doch werden diese sozioökonomischen Hintergründe selten thematisiert.
Sehen Sie auch Fortschritte?
Ja, wir merken, dass wir mit unserem Thema nicht allein sind. Wir bekommen mehr Unterstützung aus der Politik und von den Institutionen, auch wenn sich das mit Blick auf den Aufstieg der Rechtsextremen etwas wacklig anfühlt.
Sie zeigen einzelne Objekte wie etwa ein blaues Kleid und führen damit viele kleine Erzählungen zu einer Geschichte zusammen …
Wir machen nicht die ganz klassische Museumsarbeit, sondern sammeln Dinge des Alltags und bauen daraus ein Archiv auf. Wir versuchen, aufzubewahren und zu erhalten, was noch da ist. Dabei gehen wir sensibel mit den Dingen um und präsentieren sie mit dem gebotenen Respekt.
Vera Tönsfeldt ist die wissenschaftliche Leiterin des Projekts "Das vergessene Gedächtnis", das in Heidelberg eine museale Sammlung über die Geschichte der Sinti und Roma aufbaut.
© Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Sie erzählen zum Beispiel anhand eines Reisegewerbescheins die Geschichte von Christian Pfeil, der 1944 im Ghetto Lublin in Polen geboren wurde und später ein bekannter Gastronom in Trier wurde.
Er hatte zuerst eine Bar, die eine Art Promitreffpunkt war. Udo Jürgens hat in den 1980ern bei ihm gefeiert. Später eröffnete Christian Pfeil ein Sternerestaurant, das aber von Neonazis verwüstet wurde. Er war davor mit einem selbst komponierten Lied aufgetreten, das die Verbrechen des Nationalsozialismus benannte und die Hoffnung ausdrückte, dass so etwas nie wieder passiert. Nach einer Ausstrahlung des Lieds im Radio wurde sein Lokal zweimal überfallen. Die Versicherung hat einmal bezahlt, das zweite Mal nicht mehr. Als Christian Pfeil den Bürgermeister der Stadt Trier um Hilfe bat, teilte man ihm mit, dass seine Geschichte nicht stimmen könne, weil es in Trier keine Nazis gebe. Die Ermittlungen gingen nur sehr schleppend voran und wurden schließlich eingestellt. Aber Christian Pfeil war mit seiner Geschichte auf der ganzen Welt unterwegs und hat sehr viele Menschen sensibilisiert. Inzwischen ist er Ehrenbürger der Stadt Trier. Es gibt sicher Menschen, die einfacher an einen Ehrenbürgertitel kommen.
Vera Tönsfeldt ist die wissenschaftliche Leiterin des Projekts "Das vergessene Gedächtnis", das in Heidelberg eine museale Sammlung über die Geschichte der Sinti und Roma aufbaut.
Frédéric Valin ist freier Autor und Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.