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Erst stirbt der Wald
Eine Tragödie unserer Zeit: Das Ensemble von "Antigone im Amazonas" bei Proben in Marabá, Brasilien
© Armin Smailovic
Gegen die Vernichtung des brasilianischen Regenwaldes: Der Schweizer Theatermacher Milo Rau bringt mit seinem neuen Stück "Antigone im Amazonas" den Widerstand der Indigenen auf die Bühne.
Von Georg Kasch
Der 17. April 1996 gehört zu den traumatischsten Ereignissen der jüngeren brasilianischen Geschichte. Damals hatten 1.500 Mitglieder der Landlosenbewegung (Movimento dos Sem Terra) eine Straße in der Nähe der Stadt Eldorado dos Carajás im Bundesstaat Pará blockiert, um gegen die krasse Ungleichheit im Land zu protestieren – in Brasilien besitzen etwa zehn Prozent der Bevölkerung rund 80 Prozent des Landes. Die Bewegung streitet gewaltlos für eine radikale Umverteilung von Grundeigentum und besetzt Grundstücke, die sich Unternehmen illegal angeeignet haben. Die Straßenblockade von 1996 endete tödlich: Zwei Einheiten der Militärpolizei erschossen 19 Menschen und verletzten 69 weitere teils schwer.
Knapp 25 Jahre später sind Nachfahren der Opfer und Überlebende des Massakers jetzt Teil des Theaterprojekts "Antigone im Amazonas" des Schweizer Theatermachers Milo Rau. Sie bilden den Chor, der die Handlung kommentiert: "Ungeheuer ist viel, aber nichts ist ungeheurer als der Mensch." In dieser Geste steckt Hoffnung, Aufbruch. Die Landlosen gehören zu jenen 50 Aktivisten, die gemeinsam mit Rau und seinem Team die "Antigone"-Aktualisierung auf einem besetzten Landgut in Marabá im Süden des Amazonasgebietes entwickelt haben, mit Workshops in der Tradition von Augusto Boal, dem legendären brasilianischen Erfinder des "Theaters der Unterdrückten". Wie er versucht auch Rau mit seinen Aufführungen Prozesse anzustoßen, die bestenfalls die Gesellschaft verändern können.
"Ich finde die Landlosenbewegung extrem avantgardistisch", sagt Rau. Weil sich dort Landarbeiter, Frauen, Indigene, schwarze Minderheiten und LGBTI begegnen, Widerstand organisieren, ihn flexibel an die Gegebenheiten vor Ort anpassen. Kreativ, mutig und gut organisiert. Nur so können sie gegen die Übermacht von Wirtschaft und Staat punkten. In ihrem Handeln erinnern sie an Antigone, die legendäre griechische Königstochter, die sich gegen den Herrscher stellt, ihren Onkel Kreon. Sophokles’ antikes Drama als Prototyp für jede Art von Widerstand: Kreon verbietet es bei Todesstrafe, die Leiche eines Staatsfeindes zu begraben. Antigone aber folgt ihrem moralischen Kompass, als sie ihren in Ungnade gefallenen Bruder dennoch beerdigt. Das Stück diskutiert die Konfliktlinien zwischen Allein- und Volksherrschaft, Staatsräson und moralischem Recht, einem überzeitlichen ethischen Wertesystem und Tagespolitik. "Kreon steht für den Kompromiss", sagt Rau. "Antigone lehnt den Kompromiss ab. Deshalb muss sie sterben."
Kulturpolitiker als Schauspieler
Wie den Chor hat Rau auch die Hauptrollen politisch besetzt. Kreon, der Herrscher, ist keine Kopie von Präsident Jair Bolsonaro. Für Rau hat Kreon eher Ähnlichkeit mit Expräsident Lula da Silva. Einerseits ermöglichte Lula Millionen Menschen den Aufstieg aus der Armut in die Mittelklasse. Andererseits glaubte er an die wichtige Rolle der Industrie, etwa in Form des Ölkonzerns Petrobras oder der Agrarwirtschaft, und versäumte es, ihre Macht einzudämmen. So wird Kreon von Celso Frateschi verkörpert. Er ist Schauspieler und Theaterleiter sowie Kulturpolitiker für Lulas Arbeiterpartei PT. Er weiß, dass seine Leute die Landlosen enttäuscht haben – aber auch, dass es keine einfachen Antworten gibt. Die indigene Schauspielerin und Aktivistin Kay Sara übernimmt die Rolle der Antigone. Auch das ist hoch symbolisch: Die Ureinwohner zählen zu den wenigen, die sich erfolgreich gegen die Vernichtung des Regenwaldes stemmen.
Wie wichtig der Widerstand gegen die brasilianische Agrarwirtschaft ist, zeigte sich im Sommer. Teile des größten Urwaldes der Welt standen in Flammen. "Es gibt Prognosen, die sagen, dass die zwei letzten großen Urwälder der Welt – das Amazonasgebiet in Südamerika und der Urwald in Zentralafrika – in zehn Jahren verschwunden sein werden", sagt Rau. "Der Amazonas existiert nur noch, weil indigene Gruppen Widerstand leisten." Schuld an den Bränden ist vor allem die Agroindustrie – Großfarmer roden mit Feuer Flächen für Viehweiden und Sojafelder. Eigentlich ist das illegal. Doch bereits bei seinem Amtsantritt hat Präsident Bolsonaro klargemacht, dass er auf der Seite der Rechtsbrecher steht und das Amazonasgebiet als wirtschaftliche Nutzfläche sieht. Sein Umweltminister Ricardo Salles leugnet den Klimawandel. Die Umweltschutzbehörden wurden entmachtet, soziale Reformen rückgängig gemacht. Heute herrscht in Brasilien mehr denn je das Recht des Stärkeren.
Hoch symbolische Besetzung
Rau ist derzeit einer der wichtigsten politischen Theatermacher Europas. Ein Moralist, der in seinen Projekten niemanden schont, auch die Wohlstandseuropäer und Hilfsorganisationen nicht. Er kommt vom kritischen Journalismus, studierte Germanistik, Romanistik und Soziologie, schrieb Theaterstücke und Drehbücher fürs Fernsehen, engagierte sich zudem für die Schweizer Jungsozialisten. In seinen vielfach ausgezeichneten und oft weitgereisten Projekten wie "Hate Radio", den "Moskauer Prozessen" und dem "Kongo-Tribunal" thematisierte er Menschenrechtsverletzungen mit einer Beharrlichkeit, wie man es bei keinem anderen Theatermacher beobachten kann.
Mittlerweile leitet er das belgische NT Gent, produziert seine Arbeiten aber meist weiterhin als internationale Koproduktionen, die oft jahrelang touren. Rau will gehört werden. Deshalb bereitet er seine Themen mehrfach auf, als Stück, Hörspiel, Film. Gerade hatte die Kinoversion von "Das Neue Evangelium" bei den Filmfestspielen in Venedig Premiere, seine Auseinandersetzung mit der radikalen Menschlichkeit des biblischen Jesus, dargestellt von Menschen, die über das Mittelmeer geflüchtet sind. Den Arbeitsprozess von "Antigone im Amazonas" dokumentiert der brasilianische Filmer Fernando Nogari – das Werk geht anschließend in den Besitz der Landlosenbewegung über.
Eigentlich sollte "Antigone im Amazonas" längst Premiere gehabt haben. Bis zum 19. März probte Regisseur Milo Rau in Marabá. Dann kam Corona. "Zuerst dachten wir noch, wir bleiben einfach dort und warten, bis es vorbei ist", erzählt Rau. "Aber dann haben wir gemerkt: Unsere Mitwirkenden müssen nach Hause." Auch das ist symbolisch: Eine Theaterinszenierung, die den Landlosen und Indigenen eine Bühne gibt, wird ausgerechnet von einer Pandemie ausgebremst, die eng mit der Agrarwirtschaft verknüpft ist. Je mehr die industrielle Landwirtschaft sich ausbreitet und den Lebensraum wilder Tiere verkleinert, desto öfter kommt der Mensch mit ihnen in Kontakt. "Und durch die Züchtung genetischer Monokulturen wurden alle noch bestehenden Immunschranken beseitigt", sagt Rau. Der Mensch wird anfälliger für neue Krankheiten.
Und nun? Ist die Premiere für den April nächsten Jahres geplant, weiterhin in Marabá. Weil Rau die vielen Mitwirkenden schlecht um die Welt fliegen kann, sollen dabei Filmaufnahmen entstehen, die Teil der tourenden Produktion werden. Sara als Antigone und ein Musiker werden aber auch in Europa dabei sein. Damit auch dort möglichst viele Menschen erfahren, dass wir bei der Frage, wem der brasilianische Regenwald gehört und wie lange er noch existieren darf, mit Kompromissen nicht weiterkommen.
Georg Kasch ist Kulturjournalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.