"Fake News"-Gesetz in Singapur: Du sollst nicht anderer Meinung sein
Rigoros gegen die Todesstrafe: Die Aktivistin Kokila Annamalai (Singapur, September 2025)
© Transformative Justice Collectives
Können Gesetze gegen "Fake News" helfen? Ein Beispiel aus Singapur zeigt, wie manipulativ die Regierung ein Gesetz gegen Desinformation auslegt.
Aus Singapur von Christian Jakob
Mohammad Azwan bin Bohari trug das Heroin in einer Keksdose bei sich. Kurz bevor ihn die Beamten einer Anti-Drogen-Einheit am Abend des 17. Oktober 2017 auf einem Parkplatz im Norden des Stadtstaats festnahmen, warf er die Dose weg. Es nützte nichts mehr. 26,5 Gramm Diamorphin, synthetisches Heroin, wurden ihm zugerechnet. 15 Gramm reichen, um in Singapur zum Tode verurteilt zu werden. Sieben Jahre später, am 4. Oktober 2024, wurde Bohari im Alter von 48 Jahren exekutiert.
"Eindeutig rechtswidrig" sei das gewesen, sagt Kate Schuetze, Asienexpertin von Amnesty International – vor allem, weil gegen die Hinrichtung noch ein Widerspruch anhängig war. Dies stelle "die Schutzmaßnahmen im Justizsystem Singapurs ernsthaft infrage".
Die Aktivistin Kokila Annamalai hat darauf hingewiesen, dass Boharis Familie angesichts des ausstehenden Rechtsmittelverfahrens von der Hinrichtung überrascht war. Dafür könnte sie nun selbst ins Gefängnis kommen. Denn die Regierung in Singapur versucht, Annamalai auf der Grundlage eines Gesetzes gegen Desinformation dazu zu zwingen, ihre Aussagen über Hinrichtungen im Land als "Fake News" zu kennzeichnen. Doch Annamalai denkt nicht daran: "Das werde ich nicht machen, egal welche Strafe mich erwartet." Sie habe sich verpflichtet, die zum Tode Verurteilten zu schützen, sagt sie. "Es sind Menschen, denen ich mein Leben widme, um für sie zu kämpfen." Deshalb werde sie "die verleumderischen und meiner Meinung nach widerlichen Ansichten der Regierung über Gefangene im Todestrakt nicht wiederkäuen."
Die 36-Jährige ist die erste Singapurerin, die sich einer solchen Anordnung widersetzt. Deshalb drohen ihr bis zu sechs Jahre Haft.
Drakonisch gegen Drogenkonsum
Annamalai ist Mitgründerin des Transformative Justice Collectives (TJC), einer Partnerorganisation von Amnesty International, die seit 2021 gegen die Todesstrafe in Singapur kämpft. Neun Menschen wurden nach Erkenntnissen von Amnesty allein im Jahr 2024 in dem Stadtstaat hingerichtet. Im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße sind das 21 Mal mehr als in den USA. Häufig trifft es Migrant*innen und Menschen, die arm oder suchtkrank sind. In Singapur herrsche ein "barbarisches Todesstrafen-Regime", sagt Annamalai. Das TJC protestiert mit Mahnwachen, Veranstaltungen und Petitionen in einem Land, in dem Protest und öffentliche Kritik an der Regierung keinen Platz haben.
Singapur geht nicht nur drakonisch gegen Drogenkonsum vor. Die seit 1959 faktisch als Einheitspartei herrschende People’s Action Party (PAP) regiert auch sonst mit harter Hand. Während in der EU und in Deutschland seit Jahren darüber diskutiert wird, wie Desinformation und Hetze im Netz eingedämmt werden können, trat in Singapur bereits 2019 ein strenges Gesetz in Kraft. Der "Protection from Online Falsehoods and Manipulation Act" (POFMA) sieht bis zu 450.000 Euro Strafe und zehn Jahre Haft für die Verbreitung von "Falsehoods" (Falschinformationen) vor. Strafbar ist dabei die Verbreitung falscher Informationen, wenn sie nach Ansicht der Regierung etwa die "Gefühle der Feindschaft" zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen schüren oder das "Vertrauen der Öffentlichkeit in die Regierung untergraben". Das Gesetz erfasst viele Aspekte, die auch in Europa zu Debatten führen. Eine breite Diskussion über die problematischen Folgen für die Meinungsfreiheit gab es jedoch nicht.
Kritik an der Regierung wird unmöglich
Zur Begründung verwies die Regierung unter anderem auf die Notwendigkeit, gegen Anti-Impf-Propaganda, illegitime Einflussnahme Chinas oder "islamistische Propaganda im Netz" vorzugehen, die das friedliche Zusammenleben von muslimischen Malai*innen, Chines*innen und Inder*innen im Land bedrohe. Das sind legitime politische Anliegen. Doch die mit dem Gesetz verbundenen Probleme sind offensichtlich: Als der Historiker Ping Tjin Thum, ebenfalls ein Gründer des TJC, feststellte, das POFMA mache Kritik an der Regierung unmöglich, stufte die zuständige Behörde diese Aussage als "Desinformation" ein.
Thum wurde wegen dieser und anderer Äußerungen derart unter Druck gesetzt, dass er mit seiner Frau ins Exil nach Manila ging. "Sie benutzen POFMA nicht zur Bekämpfung von Fake News, sondern um Personen zu sanktionieren, die anderer Meinung sind", meint der Historiker.
"Korrekturaufforderung" der Regierung
Ein weiterer Fall betraf den Reporter Low De Wei, der für Bloomberg arbeitet. Als er im Dezember 2024 über zweifelhafte Immobiliendeals zweier PAP-Minister berichtete, zwang die Regierung das Medium auf Grundlage des POFMA dazu, die Recherche als "falsch" zu kennzeichnen. Wer eine solche "Korrekturaufforderung" erhält, muss die beanstandeten Aussagen belassen, sich aber in der Kopfzeile der Webseite oder des Social-Media-Accounts selbst bezichtigen, Falschinformationen verbreitet zu haben, und auf die "korrekten" Informationen der Regierung verweisen. Bloomberg, ein internationaler Medienkonzern, gab nach und versah Weis Text mit dem Hinweis auf "die korrekten Fakten" der Regierung.
Die beim Innenministerium angesiedelte POFMA-Behörde nahm auch an mehreren kritischen Aussagen des TJC Anstoß. Sie betrafen zum Tode Verurteilte, die in ihrem Verfahren klagten, keine*n Dolmetscher*in zur Verfügung zu haben, vor Ende des Widerspruchsverfahrens hingerichtet wurden oder geistig eingeschränkt und deshalb womöglich nur begrenzt schuldfähig waren. Die Behörde veröffentlichte dazu auf ihrer Webseite lange "Korrekturen und Richtigstellungen". Das Transitional Justice Collective protestierte, setzte sie dann aber auf seine Webseite. Kokila Annamalai weigerte sich jedoch, dies auch auf ihren privaten Accounts zu tun.
"Singapur sollte eine Warnung sein"
"Ich wurde mehr als sechs Stunden auf der Polizeiwache verhört, ohne Rechtsbeistand", berichtet sie. Ihr Pass war schon zuvor eingezogen worden. "Außerdem läuft ein Verfahren gegen mich, weil ich 2024 eine Demonstration gegen den Genozid in Gaza organisiert habe." Annamalai blieb nur gegen Kaution auf freiem Fuß. Im Juli musste sie vor Gericht, im September sollte das Urteil verkündet werden.
"Singapur sollte eine Warnung für jede Gesellschaft sein, deren Regierung Gesetze plant, die die Meinungsfreiheit auf diese Weise beeinträchtigen", sagt sie. Es sei gefährlich, "eine oberste Autorität für die Wahrheit" zu akzeptieren und staatlichen Behörden die Entscheidung darüber zuzubilligen, "was wahr und was falsch ist". Desinformation ist ihrer Ansicht nach vor allem deshalb ein Problem, weil traditionelle Medien und Online-Netzwerke "vom Großkapital und den politischen Eliten kontrolliert" werden. Angesichts der technologischen Entwicklungen sei dies ein gefährlicher Zustand, sagt Annamalai. "Da helfen keine Pseudo-Lösungen, die den einfachen Menschen im Dienst politischer und wirtschaftlicher Interessen weiter schaden."
Christian Jakob ist taz-Redakteur und Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.
Fakten, Fälle und hintergründe zum Thema Todesstrafe findest du hier und zum Regionalkapitel Asien-Pazifik 2024 gelangst du hier.
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