Amnesty Journal Afghanistan 06. August 2025

Frauen und Mädchen in Afghanistan: Tödliche Verfolgung

Eine Frau in Burka hält ein Schild hoch auf dem geschrieben steht "ich will studieren", vom Schild fliegen Papierflieger weg.

Anonyme Botschaft: "Ich will studieren", lautet die Inschrift auf dem Gemälde der afghanischen Künstlerin Rasa.

Wie leben Mädchen und Frauen in einem Land, das sie wegen ihres Geschlechts verfolgt? Drei afghanische Aktivistinnen berichten, was die Herrschaft der Taliban für sie bedeutet.

Protokolle: Sabine Küper-Büsch und Somaia Valizadeh

Salma Haidari: "Wir wurden mundtot gemacht"

Ich wurde in eine traditionelle Familie ­geboren. Es war mein Traum, Journalistin zu werden. Als der erste private lokale Radiosender in Baglan seinen Betrieb aufnahm, war ich überglücklich, dort als Journalistin und Moderatorin arbeiten zu dürfen. Frauenrechte, das Recht auf Bildung und Arbeit waren meine Themen. Heute sind Frauenstimmen im öffentlichen Leben verboten. Wir wurden mundtot gemacht. Ich lebe derzeit mit meiner Mutter, einer älteren Schwester und einem Bruder zusammen und bin darauf angewiesen, für unseren Unterhalt zu arbeiten. Für das Radio darf ich nicht mehr tätig sein. Ich habe deshalb in einem Schönheitssalon gearbeitet, doch die wurden inzwischen verboten. Von der Arbeit an schweren Maschinen bis zum Stehen vor der Schultafel mache ich alles, was sich mir bietet. Aber es gibt immer weniger Jobs für Frauen. Die Verbote machen jeden Gang auf die Straße zu einem Wagnis. Wir können ohne männliche Begleitung nicht raus. Die Isolation ist das Schlimmste. Deswegen bewegen wir uns im Internet, so gut es geht. Ich tausche mich in Online-Foren mit Kolleginnen aus, lerne neue Techniken. Ich schreibe Geschichten über Frauen, die heimlich unterrichten, malen und dichten. Ich drehe Videos darüber, nur veröffentlichen kann ich sie nicht, um die Frauen nicht zu gefährden. Die Frauen betreffenden Verbote haben eine Atmosphäre der Ächtung geschaffen. Den Druck spüren auch die Männer: Sie sollen ihre Mütter und Schwestern überwachen, müssen Bärte tragen, Tausende sind arbeitslos. Mehr als 100.000 Frauen begingen nach meiner Kenntnis in den vergangenen vier Jahren Suizid, andere wurden von den Taliban ausgepeitscht und gesteinigt. Es sind finstere Zeiten. Wir machen uns große Sorgen um die Zukunft der Frauen, Mädchen und Kinder dieses Landes, die nicht das Recht haben, über ihr eigenes Leben und ihre Zukunft zu entscheiden.

Auf einer Straße in Afghanistan läuft eine vollverschleierte Frau, ihr Gewand flattert hinter ihr her; daneben trägt ein Mann mit einem Vollbart einen Sack.

Kabul: Frauen werden im Stadtbild so gut wie unsichtbar gemacht (Oktober 2021).

Malalai Alawi:"Keine Ärztinnen, kaum Hebammen"

Ich war in mehreren wichtigen politischen Institutionen beschäftigt – etwa als Beraterin von Abdullah Abdullah bezüglich Frauenrechten. Abdullah war im Hohen Rat für Nationale Versöhnung Afghanistans tätig, der bis 2020 noch Gespräche mit den Taliban führte. Gleichzeitig war ich Abgeordnete im Stadtrat von Herat. Ich bin Politikwissenschaftlerin und hatte gerade mein Masterstudium Internationale Beziehungen begonnen, als sich die Türen der Bildungseinrichtungen für Frauen für immer schlossen. Trotz Verboten haben wir Frauen demonstriert. Heute geht das nicht mehr. Demonstrierende wurden festgenommen, gefoltert, die Familien erpresst. Ich habe so viel Tränengas abbekommen, dass ich bis heute eine Überempfindlichkeit der Augen behalten habe. Die medizinische Versorgung ist katastrophal, vor allem in den Dörfern. Mädchen dürfen in Religionsschulen gehen, aber keine medizinischen Berufe mehr ergreifen. Doch nur Frauen dürfen Frauen behandeln. In den Dörfern gibt es keine Ärztinnen, viele haben das Land verlassen. Hebammen sind selbst in Städten kaum zu finden, weil keine mehr ausgebildet werden. Zu Zeiten der Islamischen Republik lebten wir in einer Stammesgesellschaft als Bürgerinnen zweiter Klasse. Jedes Mädchen hatte in der Familie mit dem Druck der Eltern und Brüder zu kämpfen. Doch wir hatten ein öffentliches Leben, wir hatten Medien, wir nutzten digitale Plattformen ohne Angst. Heute, im Islamischen Emirat Afghanistan, ist der Kampf für Frauenrechte ein Verbrechen an islamischen Werten. Strafen werden willkürlich verhängt, und an Frauen werden bevorzugt Exempel statuiert. Dazu gehören öffentliche Auspeitschungen und andere Demütigungen. Gerade erst wurde ein weiterer Suizid bekannt: In der Provinz Ghor hat sich die 20-jährige Abida verbrannt, weil sie gezwungen wurde, in eine Taliban-Familie einzuheiraten.

Mehrere verschleierte Frauen, sie tragen alle Burka, stehen hintereinander. Darüber der Schriftzug des Amnesty Journals und in der Mitte des Covers der Titel der Ausgabe: "In der Falle – In der Falle – Afghanistan nach der Rückkehr der Taliban"

Afghanische Frauen warten auf Lebensmittel, die von einer Hilfsorganisation verteilt werden (Kabul, 23.02.2023)

Aisha Zolan*: "Wenn der Schleier nicht richtig sitzt"

Ich war an einer staatlichen Universität Professorin für Medienwissenschaften, hatte Kolleginnen. Wir wurden gemeinsam mit Politikerinnen und Geschäftsfrauen zu Gesprächsrunden im Fernsehen eingeladen und repräsentierten das moderne Afghanistan. Ich hatte eine sehr gute Position mit entsprechendem Gehalt. Das passte den Taliban nicht. Wir standen für all das, was sie ablehnen – eine verwestlichte Modernität mit aktiven Frauen. Sie haben uns weggefegt und nach Hause geschickt. In Zentren wie Kabul können Frauen unter Einhaltung strenger Regeln teilweise noch in Medien tätig sein. Der Gouverneur unserer Provinz hat Frauen jedoch jegliche Berufstätigkeit untersagt, öffentlicher Widerstand ist nicht mehr denkbar. Die Taliban kontrollieren die Leute mit dem Entzug der Lebensgrundlage und auch mit der Aufteilung aller Lebensbereiche und Aufgaben nach Geschlechtern. Indem afghanische Frauen offiziell nur noch mit verwandten Männern und tief verschleiert in der Öffentlichkeit auftreten sollen, ­haben die Taliban die Möglichkeit, Menschen zu kriminalisieren. Wenn der Schleier einer Frau nicht richtig sitzt, wird sie dafür ins Gefängnis gesperrt. ­Familien werden unter Druck gesetzt, Töchter mit Taliban zu verheiraten. Davon versprechen sich einige persönliche Vorteile. Zwangsverheiratung ist aber nach wie vor eine gesellschaftliche Praxis, die Menschen in den Tod treibt. Der Entzug persönlicher Freiheit im Verbund mit ­einer erzwungenen Partnerschaft führt zu Verzweiflung und Depressionen. Die Frauen und Mädchen finden weder in ihren Familien noch im Gesundheitssystem Hilfe. Jede kennt in ihrem weiteren Umfeld eine Frau, die den Suizid gewählt hat, weil es keine andere Form von Freiheit mehr gibt.

*Name geändert

Hier geht es zum Amnesty-Report über Afghanistan. Und hier kannst Du Dich per Urgent Action einsetzen.

HINTERGRUND: FRAUENRECHTE IN AFGHANISTAN

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

von Theresa Bergmann

Seit ihrer Machtübernahme 2021 haben die Taliban insbesondere die Rechte von Mädchen und Frauen drakonisch eingeschränkt. Amnesty kommt zu dem Schluss, dass dies dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit der geschlechtsspezifischen Verfolgung gleichkommt. In keinem anderen Land weltweit ist der Zugang zu Bildung für Frauen und Mädchen so begrenzt: Ab der 7. Klasse dürfen Mädchen nicht mehr zur Schule gehen. Frauen dürfen nicht studieren oder eine medizinische Ausbildung absolvieren, was die Gesundheitsversorgung von Frauen gefährdet. Beschäftigungsmöglichkeiten wurden massiv begrenzt. Sportzentren, Parks und Schönheitssalons sind für Frauen geschlossen. Auch ist es ihnen untersagt, in der Öffentlichkeit zu sprechen, zu singen und ohne männliche ­Begleitung Verkehrsmittel zu benutzen. Damit haben die Taliban Frauen und Mädchen aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Umso wichtiger ist es, dass die Bundesregierung auch nach dem Stopp des Bundesaufnahmeprogramms für ­Afghanistan Frauen und Mädchen eine sichere Aufnahme in Deutschland ermöglicht. Alle Frauen, denen bereits eine Aufnahmezusage erteilt wurde, müssen diese unbedingt behalten und schnellstmöglich einreisen dürfen. 

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