Amnesty Journal Griechenland 28. November 2022

Nur wenige Quadratmeter Privatsphäre

Eine afghanische Familie sitzt auf einer Matratze mit Frotteebezug, die auf dem Boden liegt in einem Zimmer, an die Eand hinter ihnen ist eine weitere Matratze gelehnt, die Mutter mit Kopftuch hält ein Kleinkind halb auf dem Schoß, neben ihr sitzt der Vater, vor ihnen ihre zwei Töchter auf der Kante der Matratze, eine versteckt ihr Gesicht halb hinter einem großen Teddybären, die andere hat ihre Beine angezogen und ihre Arme darum geschlungen.

Der Alltag im Flüchtlingslager macht Liebe so gut wie unmöglich. Die Familie Nikpa aus Afghanistan musste das auf Lesbos schmerzhaft erleben. Und auch in Deutschland machen Flüchtende schlechte Erfahrungen.

Von Christian Jakob (Text) und Dimitris Michalakis (Fotos)

Als Isobox werden sie verkauft, auch die Flüchtlinge im Lager nennen die Metallcontainer so. Aber sie isolieren nicht. Im Sommer staut sich in ihnen die Hitze, im Winter die Kälte. Und niemals isolieren sie den Lärm, den Streit und die Spannung, die in der Luft liegen. Die vierköpfige Familie Nikpa aus Afghanistan lebte auf sechs Quadratmetern in einer Isobox in Moria, dem einst größten Flüchtlingslager Europas. In dem Lager auf der Insel Lesbos, das für 2.800 Menschen gebaut wurde, kamen zeitweise 20.000 Menschen unter.

Der 38-jährige Mir Ahmad Nikpa war früher Soldat, Latifah ist 29 und arbeitete in Kabul als Hebamme. Sie gehören der Minderheit der Hazara an und verließen Afghanistan mit ihren beiden Töchtern im Jahr 2017. Viermal wurde ihr Asyl­antrag in Griechenland abgelehnt, vier Jahre lang lebten sie in Flüchtlingslagern auf Lesbos, die Hälfte der Zeit in Moria.

Leben in einer "Isobox"

Dort wohnten sie mit sieben Familien in einem der grauen Container – nur durch eine dünne Wand getrennt von den anderen. Weil es keine Tür gab, hängten sie einen alten Teppich vor ihren Teil der Isobox. "Jeder konnte einfach rein und uns bei allem zusehen", sagt Latifah.

40 Menschen mussten sich eine Toilette und ein Waschbecken teilen. Vor der Tür schliefen Hunderte weitere Menschen in Zelten, ohne eigene Waschgelegenheit und Toilette. Dreimal täglich standen alle stundenlang für Essen und Wasser an. In Moria gab es Schlägereien, Brände, Messerstechereien. Frauen fürchteten Vergewaltigungen und Kinder Rattenbisse. "Wir waren mit den Kindern fast immer drin, weil wir Angst hatten, dass ihnen draußen etwas zustoßen könnte", sagen die Nikpas.

Die Nachbarn schrien sich bis spät nachts an, erzählt Latifah. Es gab Streit wegen der Toiletten, wegen des Putzens, wegen allem. "Wir hatten keinen Ort, um Emotionen zu zeigen, um den Stress loszuwerden. Wenn wir uns gestritten haben, saßen wir danach einfach weiter da, weil es keinen Platz gab, irgendwohin auszuweichen", sagt Latifah. Man blieb also sitzen, bis man müde wurde und entkräftet einschlief, in der Hoffnung, dass es am nächsten Tag wieder gehen würde. "Aber oft konnten wir nicht schlafen, es gab immer wieder Brände, wir hatten Angst."

Ehe und Familie rechtlich geschützt

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und europäische Rechtsordnungen schützen die Ehe, die Familie, das Privatleben. Aber was nützt dies Menschen wie den Nikpas, die unter Bedingungen leben müssen, die darauf ausgerichtet sind, zu zermürben und abzuschrecken? Was bleibt dann von der Liebe? Von jener Liebe, die viele auch unter einfacheren Umständen nicht erhalten können?

Wir hatten keinen Ort, um Emotionen zu zeigen, um den Stress loszuwerden. Wenn wir uns gestritten haben, saßen wir danach einfach weiter da, weil es keinen Platz gab, irgendwohin auszuweichen.

Latifah
aus Afghanistan geflüchtet
Unter freiem Himmel stehen zwei Wohncontainer nebeneinander auf Schottergrund, beide Container tragen die Aufschrift "Isobox", vor einem von ihnen ist eine Wäscheleine gespannt, daran hängt Wäsche, und vor dem anderen steht ein Rollstuhl.

Sie sei froh, dass es zwischen ihnen nie zu Gewalt gekommen sei, sagt Latifah. Sie sei stolz, dass sie ihren Mann und die Kinder nie angeschrien habe. Wen man liebt, den will man auch beschützen, sagt Mir Ahmad. Doch das kann er nicht immer. Als die Familie in Moria ankam, hatte sie anfangs noch keine Isobox, sondern nur einen Verschlag aus Planen. Eines Nachts gab es eine Massenschlägerei, Menschen trampelten über sie hinweg, jemand trat Latifah ins Gesicht. Mir Ahmad zeigt auf seinem Handy Fotos, auf denen Latifah mit einem so geschwollenen Gesicht zu sehen ist, dass man sie kaum wiedererkennt.

Zunächst erhielten die Nikpas 240 Euro im Monat. Bald wurde ihr erster Asylantrag abgewiesen. Danach gab es kein Geld mehr. Mir Ahmad konnte seinen Kindern keine Wünsche erfüllen. An der Hafenpromenade der Inselhauptstadt Mytilini verkauften Händler*innen bunte Ballons, Bäcker*innen boten Baklava an, und in den Cafés gab es Eis. "Dein Kind sieht andere Kinder, die das alles bekommen. Aber Du hast kein Geld. Was sagt man dann? 'Sei still?' Es fühlt sich so schlecht an."

Kein Geld für notwendige Medikamente

Auch ihr zweiter, dritter und vierter Asylantrag wurden abgelehnt. Mir Ahmad sagt, er habe deshalb psychische Probleme bekommen. Nach der zweiten Ablehnung verschrieben Ärzte ihm Medikamente. Doch eine Packung kostete 40 Euro, und die hatte er nicht. Sieben Monate ist es her, dass er das Medikament zum letzten Mal von einer Hilfsorganisation bekam. Wenn Latifahs Kopfschmerzen nicht aufhörten, ging sie manchmal zur Krankenstation von Moria. Doch meist war die Schlange so lang, dass sie wieder umdrehte. Wenn sie drankam, sagten die Ärzte: "Trink Wasser!" Ihre Kopfschmerzen bleiben.

Mir Ahmad ist der Cousin von Latifahs Mutter, so lernten sie sich kennen und heirateten 2010. Latifah war damals 17, in Afghanistan gilt das für eine Braut schon als alt, Mir Ahmad war 26. Sie zogen nach Kabul, er ging zur Armee, sie machte eine Ausbildung als Hebamme. "Wir wollten nicht weg", sagt Latifah. Doch die Taliban verschleppten erst Mir Ahmads Bruder, dann seinen Vater. Danach wollten sie "nur noch weg".

Im September 2020 brannte das Lager in Moria ab. Die Bewohner*innen wurden daraufhin in ein neues Lager auf Lesbos gebracht, das "Reception and Identification Centre". Dort hatten die Nikpas eine Isobox ganz für sich. Sie glaubten an eine bessere Zukunft. Im April 2021 wurde ihre dritte Tochter geboren. Im Mai 2022 hatte ihr fünfter Asylantrag Erfolg. Wohl wegen der Machtübernahme der Taliban änderte Griechenland die Anerkennungspraxis. Doch Mir Ahmad ging es immer schlechter. Eine NGO besorgte ihnen eine kleine Wohnung in Mytilini. Im September 2022 verließ die Familie das Lager. Weil sie kein Geld für den Bus hatten, liefen sie bei 30 Grad kilometerweit die Küstenstraße entlang.

Ihre neue Wohnung liegt an einem Hang oberhalb von Mytilini. Im ersten Stock eines alten Natursteinhauses haben sie zwei Zimmer und eine Küche. Die Nikpas sitzen auf einer Matratze auf dem Boden. Nach fünf Jahren haben sie eine eigene Wohnung. Und nun? "Putzen", sagt Latifah. "Ich weiß es nicht", sagt Mir Ahmad. "Wir brauchen Essen."

Demütigung in Manching

Geld bekommen sie nicht. Zunächst können sie noch Essenspakete im Lager abholen. Mir Ahmad läuft dafür eine Stunde hin und eine Stunde zurück. Sie sind zwar als Flüchtlinge anerkannt, doch um die Insel verlassen zu können, müssen sie Papiere haben und dafür bezahlen. Das können sie nicht.

Europas Flüchtlingslager sind dazu da, Menschen fernzuhalten, die man nicht haben will. Das ist nicht nur in Griechenland so. In Deutschland erfand der damalige Innenminister Horst Seehofer im Jahr 2018 sogar einen neuen Lagertyp, um Flüchtende abzuschrecken: Die Ankerzentren, eine Mischung aus Asylheim und Abschiebelager. Eines der ersten entstand in der Max-Immelmann-Kaserne in Manching bei Ingolstadt, Seehofers Heimatstadt. "Der besondere Schutz von Ehe und Familie ist nicht umsonst ins Grundgesetz geschrieben", sagte Seehofer gern.

Die Familie Skyrta aus der Ukraine bekam davon nicht viel mit. Die Wachleute des Lagers, das im August 2018 von einer Ankunfts- und Rückführungseinrichtung (ARE) in ein Ankerzentrum umgewandelt wurde, hätten ihr Zimmer morgens um sieben Uhr nach Lebensmitteln, Alkohol und Kochplatten durchsucht, weil all das im ARE und im Ankerzentrum verboten gewesen sei, sagt Dmytro Skyrta. Die Wachen seien einfach hereingekommen, denn Flüchtlinge dürfen keine Schlüssel für ihre Zimmer haben. "Ich lag mit meiner Frau im Bett und fragte, ob sie nicht wenigstens warten könnten, bis wir angezogen sind", berichtet Skyrta. Doch die Wachen warteten nie. Er tippt ein Wort in sein Handy und zeigt die Übersetzung: "Demütigung" steht da. Die Regierung des Bezirks Oberbayern bestreitet dies: "Anlasslose Zimmerkontrollen fanden nicht statt", sagt ein Sprecher.

Ein karger Raum, in dem ein paar Stockbetten stehen und ein einfacher Tisch mit Stühlen ringsum.

Der 36-Jährige Dmytro Skyrta stammt aus Kiew und arbeitete im ukrainischen Parlament als Jurist für Julia Timoschenko, deren Partei damals in der Opposition war. Weil er und andere Korruption in der Regierung aufgedeckt hätten, sei Klage gegen ihn erhoben worden – zu Unrecht, sagt er. Der Geheimdienst habe ihn ins Gefängnis bringen wollen. Im März 2017 floh das Paar mit der zwei Monate alten Tochter nach München. Die Behörden schicken sie ins ARE nach Manching. Ein Zimmer, wenige Quadratmeter, ein Elternbett, ein Kinderbett, ein Stahlschrank, ein Tisch.

Die Durchsuchungen habe er als besonders schlimm empfunden, weil er nichts habe dagegen machen können, sagt Dmytro. 2017 wurde der Antrag der Skyrtas auf Asyl abgelehnt. Sie klagten dagegen und warten seither auf einen Verhandlungstermin. Auch Dmytro und Olena glaubten an eine Zukunft als Familie. 2018 wurde ihre zweite Tochter geboren, 2019 durften sie das Ankerzentrum verlassen und leben nun in einem Zimmer im Flüchtlingsheim in Bischofswiesen, nicht weit vom Königssee.

In der Ukraine lebten die beiden unverheiratet zusammen. Irgendwann hatten sie das Gefühl, dass sie ihr ganzes Leben lang zusammenbleiben wollten. Im März 2020 gingen sie in Bischofswiesen zum Standesamt und fragten, was sie tun müssten, um zu heiraten. Neun Monate brauchen sie, um alle Papiere zu beschaffen. Ein Standesbeamter erklärte sie am 27. Januar 2021 zu Mann und Frau. Doch wegen der Corona-Pandemie durften ihre Eltern nicht anreisen. Der Hochzeitstag sei leise gewesen, sagt Dmytro. "Nicht so schön, wie er hätte sein können."

Obwohl beide einen akademischen Abschluss haben, entschieden sie sich für eine weitere Ausbildung, um besser Deutsch zu lernen und Abschlüsse vorweisen zu können, die in Deutschland anerkannt werden. Auf den Unterricht in der Berufsoberschule Traunstein soll ein duales Studium in Salzburg folgen – Olena interessiert sich für Genetik, Dmytro für Mathematik. Aus Bischofswiesen wollen sie nicht mehr weg. "Unsere Kinder sollen hier zur Schule gehen", sagt Dmytro.

Nach Sierra Leone abgeschoben

Die Zukunft der Familie Skyrta hat an Konturen gewonnen. Die Jahre im Lager haben sie trotz aller Probleme zusammengeschweißt. Bei Adama und Edwin K. aus Sierra Leone war es anders. Ihr Fall zeigt, wie das Lager Familien auseinanderreißen und Leben zerstören kann.

Adama ist Anfang 30 und sitzt in ihrer Wohnung in der Nürnberger Innenstadt. Die Schrankwand im Wohnzimmer ist gefüllt mit Fotos von ihren vier Kindern und ihrem Mann. Adama war 2012 als Zwangsprostituierte in die Niederlande gekommen. Sie wurde schwanger, konnte sich befreien, ging zur Polizei und floh weiter nach Deutschland. Die junge Frau kam in ein Lager in Deggendorf, die bayerischen Behörden wollten sie zunächst jedoch wieder in die Niederlande abschieben. Im Lager brachte sie ihr erstes Kind Joseph zur Welt und lernte Edwin kennen. "Er lebte auf derselben Etage", erzählt Adama. Die beiden bekamen drei weitere Kinder, darunter eine Tochter. Diese erhielt Asyl, weil ihr in Sierra Leone als Mädchen oder junge Frau eine Genitalverstümmelung droht. Die Behörden stellten deshalb auch Adama und den Geschwistern Aufenthaltsbescheide aus.

Zwei Polizisten knien auf ihm

Edwin erhielt diesen Bescheid jedoch nicht, weil sein Asylantrag abgelehnt worden war. Nach Ansicht der Behörden sollte er nach Ghana ausreisen und bei der dortigen deutschen Botschaft, die auch für Sierra Leone zuständig ist, ein Visum für eine Familienzusammenführung beantragen. Edwin fürchtete jedoch, nicht wiederkommen zu dürfen, und wollte bei seiner Familie bleiben.

Im März 2022 bestellte die Ausländerbehörde in Landshut die Familie ein. Edwin wurde von der Polizei festgenommen. Adama zeigt ein Handyvideo von der Festnahme: Man sieht, wie Edwin in einem Beet vor dem Gebäude der Ausländerbehörde liegt. Zwei Polizisten knien auf ihm, während seine Tochter an ihm zieht. Adama sah ihn in den folgenden Monaten ein paar Mal im Gefängnis und bei der Gerichtsverhandlung in Landshut. "Er war an den Füßen gefesselt und konnte nur so laufen", sagt sie und macht Trippelschritte in ihrem Wohnzimmer.

Edwin blieb fünf Monate in Abschiebehaft. Er entwickelte Wahnvorstellungen und musste ärztlich behandelt werden. "Am Ende hat er uns nicht mehr erkannt", sagt Adama. Anfang September bekam Adama einen Anruf von der Grenzpolizei am Flughafen in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone. Edwin sei in Begleitung von vier Polizisten und einem Arzt gerade gelandet, sagte der Beamte. Adama bat, mit Edwin sprechen zu dürfen. "Er kann mit niemand sprechen", sagte der Polizist. Bald darauf meldete sich ein Priester aus Sierra Leone am Telefon. Man habe Edwin zu ihm gebracht, berichtete der Mann. Er sei "nicht normal".

Als Adama Edwins Anwalt kontaktierte, erfuhr sie, dass Edwin eine Einreisesperre erhalten habe und fünf Jahre lang nicht mehr in die EU kommen dürfe. "Wann werde ich ihn wiedersehen?", fragt Adama.

Christian Jakob ist taz-Redakteur und Journalist mit dem Arbeitsschwerpunkt Flucht und Migration. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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