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Ukraine: Russische Streitkräfte verschleppten Zivilpersonen aus der Ukraine

Russland hat Zivilpersonen aus besetzten Gebieten in der Ukraine unter Zwang nach Russland und in russisch besetzte Gebiete verschleppt. Dabei handelt es sich um Kriegsverbrechen und wahrscheinlich auch um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zivilpersonen wurden zudem gezwungen, einen "Filtrationsprozess" zu durchlaufen, der in untersuchten Fällen mit willkürlichen Festnahmen und Folter einherging. Zu diesen Ergebnissen kommt Amnesty International in einem neuen Bericht. Die Menschenrechtsorganisation hat seit Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ein Muster von Kriegsverbrechen durch russische Streitkräfte dokumentiert.
Der Bericht "Like a Prison Convoy: Russia’s Unlawful Transfer of Civilians in Ukraine and Abuses During 'Filtration'" zeigt, wie russische bzw. von Russland kontrollierte Truppen in den vergangenen Monaten Zivilpersonen aus besetzten Gebieten in der Ukraine nach Russland oder weiter ins Innere der russisch kontrollierten Gebiete verschleppten. Kinder wurden unter Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht von ihren Familien getrennt. Zivilpersonen wurden außerdem gezwungen, sich einem Überprüfungsprozess, bekannt als "Filtration", zu unterziehen. Dabei wurden Zivilpersonen in einigen Fällen willkürlichen Festnahmen sowie Folter und anderer Misshandlung ausgesetzt.
Janine Uhlmannsiek, Expertin für Europa und Zentralasien bei Amnesty International in Deutschland, sagt: "Die Liste der Kriegsverbrechen, die russische Streitkräfte in der Ukraine begehen, wird immer länger. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der an sich bereits ein völkerrechtliches Verbrechen darstellt, haben die russischen Truppen wahllos Wohngebiete angegriffen, verbotene Streumunition eingesetzt und Zivilpersonen gezielt getötet. Auch das russische Vorgehen der rechtswidrigen Vertreibung und Überführung stellt ein Kriegsverbrechen dar und sollte zudem als Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersucht werden."
Uhlmannsiek weiter: "Die russischen Behörden müssen die Verschleppung von Zivilpersonen aus besetzten Gebieten in der Ukraine sofort beenden und all jene, die rechtswidrig festgehalten werden, umgehend freilassen. Die Verantwortlichen für diese Verbrechen müssen zur Rechenschaft gezogen werden."
Für den Bericht hat Amnesty International 88 Zivilpersonen aus der Ukraine interviewt. Bei den meisten handelt es sich um Menschen aus Mariupol oder aus den Regionen Charkiw, Luhansk, Cherson und Saporischschja. Die meisten Befragten, insbesondere diejenigen aus Mariupol, beschrieben Zwangssituationen, in denen sie faktisch keine andere Wahl hatten, als nach Russland oder in andere russisch besetzte Gebiete zu gehen.
Nachdem Russland Mariupol besetzte, hinderten russische oder von Russland kontrollierte Kräfte in vielen Fällen die Zivilbevölkerung daran, in die von der ukrainischen Regierung gehaltenen Gebiete zu fliehen. Zahlreiche Menschen gaben an, dass sie sich genötigt fühlten, "Evakuierungsbusse" in die sogenannte Volksrepublik Donezk zu besteigen. Das humanitäre Völkerrecht verbietet Einzel- oder Massenzwangsverschickungen von geschützten Personen – wie Zivilpersonen – aus besetzten Gebieten.
Zwangsumsiedlungen von Kindern und anderen gefährdeten Gruppen
Amnesty dokumentierte Fälle, in denen unbegleitete Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderung von Mariupol nach Donezk verschleppt wurden. In mehreren Fällen wurden Kinder, die ohne ihre Eltern oder ihren Vormund in Richtung ukrainisch kontrollierter Gebiete flohen, an russischen Militärkontrollpunkten angehalten und unter die Aufsicht der russisch kontrollierten Behörden in Donezk gestellt.
Der Amnesty-Bericht enthält auch Informationen darüber, wie alle 92 Bewohner*innen einer staatlichen Einrichtung für ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen in Mariupol zwangsweise nach Donezk umgesiedelt wurden. Angaben ukrainischer Behörden zufolge befinden sich die Personen weiterhin in Donezk. Amnesty International dokumentierte mehrere Fälle, in denen ältere Menschen aus der Ukraine offenbar nach der Flucht aus ihren Heimatorten in Einrichtungen in Russland oder in russisch besetzten Gebieten gebracht wurden. Diese Praxis verstößt gegen die Rechte der Betroffenen und erschwert ihnen, Russland zu verlassen bzw. in der Ukraine oder an anderen Orten mit ihrer Familie zusammengeführt zu werden.
Zahlreiche Personen gaben an, dass sie sich unter Druck gesetzt fühlten, die russische Staatsangehörigkeit zu beantragen, sobald sie sich in Russland befanden, oder berichteten, dass ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurde. Für Kinder, die entweder als Waisen gelten oder ohne elterliche Fürsorge sind, sowie für manche Menschen mit Behinderung wurde das Verfahren zum Erhalt der russischen Staatsangehörigkeit vereinfacht. Damit soll die Adoption der Kinder durch russische Familien erleichtert werden.
All dies deutet auf eine bewusste russische Politik und den systematischen Charakter einiger Verschleppungen von Zivilpersonen, einschließlich Kindern, hin, die Teil eines umfassenden Angriffs auf die ukrainische Zivilbevölkerung sind. Dies legt nahe, dass Russland neben dem Kriegsverbrechen der rechtswidrigen Vertreibung oder Überführung wahrscheinlich auch das Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Vertreibung oder zwangsweisen Überführung begangen hat. Beide Verbrechen sind im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs niedergelegt.
Erniedrigende Überprüfungsverfahren, Festnahmen und Folter
Zivilpersonen aus der Ukraine, die nach Russland oder in von Russland besetzte Gebiete geflohen sind oder verschleppt wurden, mussten routinemäßig ein erniedrigendes Überprüfungsverfahren durchlaufen, wenn sie in die sogenannte Volksrepublik Donezk oder nach Russland ein- oder aus Russland in ein Drittland ausreisten. Bei diesem als "Filtration" bekannten Prozess wurde in vielen Fällen das Recht dieser Menschen auf Privatsphäre und körperliche Unversehrtheit verletzt.
An "Filtrations"-Checkpoints machten Beamt*innen Fotos der Menschen, nahmen ihre Fingerabdrücke, durchsuchten ihre Handys und befragten sie lang und ausgiebig, zum Beispiel zu ihren politischen Ansichten und ihrer Meinung zum Krieg. Männer wurden in der Regel gezwungen, den Oberkörper zu entkleiden, um sie auf Tätowierungen, Blutergüsse oder andere Anzeichen für eine frühere Zugehörigkeit zu ukrainischen Sicherheitskräften zu untersuchen.
Im Kontext der "Filtrationen" kam es auch zu willkürlichen Festnahmen und Zivilpersonen wurden teils langanhaltend festgehalten. Menschen, die während des "Filtrationsprozesses" festgenommen wurden, gaben Amnesty International gegenüber an, gefoltert und anderweitig misshandelt worden zu sein, unter anderem mit Schlägen, Elektroschocks und Hinrichtungsdrohungen. Sie berichteten, weder Nahrung noch Wasser erhalten zu haben und in überfüllten Einrichtungen festgehalten worden zu sein. Amnesty International hat zudem mehrere Fälle dokumentiert, die laut Menschenrechtsnormen dem Verschwindenlassen gleichkommen und darüber hinaus die Kriegsverbrechen der rechtswidrigen Gefangenhaltung, Folter und anderer unmenschlicher Behandlung darstellen.
In einem von Amnesty International dokumentierten Fall wurde ein elfjähriger Junge während des "Filtrationsprozesses" von seiner Mutter getrennt, was gegen das humanitäre Völkerrecht verstößt. Der Junge und seine Mutter wurden Mitte April in den Iljitsch Eisen- und Stahlwerken in Mariupol von russischen oder russisch kontrollierten Streitkräften festgenommen und in ein "Filtrationslager" im Dorf Bezimenne in der sogenannten Volksrepublik Donezk gebracht. Der Junge berichtete Amnesty International: "Sie brachten meine Mutter in ein anderes Zelt. Sie wurde befragt (...) Sie sagten mir, dass ich meiner Mutter weggenommen werden würde (...) Ich war geschockt (...) Sie sagten mir nicht, wo meine Mutter hingebracht wurde (...) Ich habe seitdem nichts mehr von ihr gehört."
"Der Internationale Strafgerichtshof und weitere zuständige Behörden auf internationaler und nationaler Ebene sollten die Kriegsverbrechen und wahrscheinlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zusammenhang mit der rechtswidrigen Vertreibung und Überführung untersuchen", sagt Uhlmannsiek. "Die Verantwortlichen für die Verschleppungen sowie für Folter und andere Völkerrechtsverbrechen während der 'Filtration' müssen zur Rechenschaft gezogen werden."
Vorgehensweise
Für den Bericht hat Amnesty International 88 Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine interviewt. Bei den meisten handelte es sich um Zivilpersonen aus Mariupol oder aus den Regionen Charkiw, Luhansk, Cherson und Saporischschja. 43 Interviews wurden persönlich in Estland, die übrigen telefonisch geführt. Zum Zeitpunkt der Interviews befanden sich bis auf eine der 88 Personen alle in Gebieten, die von der Ukraine kontrolliert werden, oder in sicheren Drittländern in Europa. Ein älterer Mann befand sich auf von Russland kontrolliertem Gebiet, da er das besetzte Donezk nicht verlassen konnte.
Dieses Vorgehen ergab sich aus den erheblichen Sicherheitsrisiken, denen Personen innerhalb Russlands oder in den von Russland besetzten Gebieten ausgesetzt wären, wenn sie über ihre Verschleppung oder andere erlittene Menschenrechtsverletzungen sprechen würden. Infolgedessen kann die Situation schlimmer sein als im Bericht beschrieben, da die Interviewpartner*innen von Amnesty International die Mittel, Kontakte und die Möglichkeit hatten, Russland zu verlassen. Viele andere, insbesondere Angehörige bestimmter gefährdeter Gruppen und vor allem Personen, die willkürlich festgehalten werden, haben keine Möglichkeit, Russland zu verlassen oder mit der Außenwelt zu kommunizieren.
Verantwortung für Kriegsverbrechen
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 dokumentiert Amnesty International Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Alle Berichte von Amnesty International finden Sie hier.
Amnesty International hat in den vergangenen Monaten wiederholt dazu aufgerufen, die Verantwortlichen für die Aggression gegen die Ukraine sowie für Menschenrechtsverstöße und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Amnesty International begrüßt die fortlaufenden Untersuchungen des Internationalen Strafgerichthofes in der Ukraine sowie die Ermittlungen des Generalbundesanwalts in Deutschland. Eine umfassende Einforderung der Rechenschaftspflicht kann nur mit konzertierten Aktionen der Vereinten Nationen und ihrer Organe und mit Initiativen auf nationaler Ebene gemäß dem Weltrechtsprinzip gelingen.
Hintergrund: Verschleppungen im humanitären Völkerrecht und im Völkerstrafrecht
Die Vierte Genfer Konvention verbietet "Einzel- oder Massenzwangsverschickungen sowie Verschleppungen von geschützten Personen" – wie z. B. Zivilpersonen – aus besetzten Gebieten.
Artikel 8(2) des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) führt die "rechtswidrige Vertreibung oder Überführung" als ein Kriegsverbrechen auf. In Artikel 7(1) des Römischen Statuts wird die "Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung" als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgelistet. Um ein Völkerrechtsverbrechen darzustellen, muss die Verbringung erzwungen und völkerrechtlich unzulässig sein. Im Falle eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit muss das Vorgehen außerdem im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis dieses Angriffs erfolgen. Es muss also im Zusammenhang mit der Politik eines Staates oder einer Organisation stehen, die einen solchen Angriff zum Ziel hat.
Der Bericht enthält weitere Informationen zur rechtlichen Analyse von Amnesty International.