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Einschränkung der Versammlungsfreiheit in Deutschland: "Jetzt ist der Moment, um aktiv zu werden"
Palästina-solidarische Demonstration am 4. November 2023 in Berlin
© IMAGO / Olaf Schuelke
Wer in Deutschland auf die Straße geht, um sich mit Palästina zu solidarisieren, muss mit Repression rechnen: Seit Oktober 2023 überwachen Behörden diese Proteste mit beispielloser Härte, verbieten sie häufig oder erlassen strenge Auflagen. Offiziell geht es um Sicherheit und die Vermeidung antisemitischer Vorfälle. Doch wie die Rechts- und Islamwissenschaftlerin Nahed Samour im Interview aufzeigt, spielen dabei oft auch diskriminierende Vorurteile gegenüber den Demonstrierenden eine Rolle. Ihre Analyse macht deutlich, wie diese behördliche Praxis die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland zunehmend gefährdet und was wir dagegen unternehmen können.
Ein Interview von Hannah El-Hitami mit Nahed Samour:
Hannah El-Hitami: Propalästinensische Versammlungen in Deutschland werden nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 eingeschränkt und oft sogar verboten. Was haben Sie in den vergangenen Jahren beobachtet?
Nahed Samour: In Berlin wurden schon seit 2021 die Gedenkdemonstrationen zum Nakba-Tag polizeilich verboten. Diese Verbote hatten auch vor den Gerichten Bestand. Argumentiert wurde in der Regel mit einer vermeintlich hohen Emotionalisierung der Beteiligten, und damit, dass es sich um viele junge Teilnehmende handele, die vor allem aus migrantischen, arabischen Milieus kämen. Es gab also eine klare Anknüpfung an ihre Rasse und Herkunft im juristischen Sinne, und darauf basierend den Vorwurf, dass es bei der Demonstration zu antisemitischen Äußerungen kommen würde.
Was ist daran problematisch?
Die Berliner Polizei und Justiz stellen Emotionalisierung als Hindernis für eine Veranstaltung dar, obwohl ein hohes Emotionalisierungspotential sonst keine Rechtfertigung für ein Versammlungsverbot darstellt. Vielmehr gehen Menschen auf die Straße, weil sie ein dringendes Anliegen haben, dass sie sichtbar und hörbar machen wollen. Da geht es gerade darum, Emotionen und auch Dissens einen Raum zu geben. Andere Gerichte außerhalb Berlins sehen das auch so (VG Frankfurt 5. Kammer, 24.11.2023, 5 L 3760/23.F, 2 B 1662/23). Einzig relevant ist eine Gefahrenprognose und nicht bloße Spekulationen.
Kooperationsgespräche zwischen Anmelder*innen von Versammlungen und der Versammlungsbehörde sollen dafür sorgen, dass eine Versammlung – auch bei Störungen durch Einzelne – durchgeführt werden können. Dass migrantische Personen aufgrund von Emotionalität vom Versammlungsrecht pauschal ausgeschlossen werden, ist ein rassistisches Argument. Emotionen von rassifizierten Personen gelten als irrational, unkontrollierbar und gefährlich. Problematisch ist außerdem die Anknüpfung an Rasse und Herkunft. Eine staatliche Benachteiligung aufgrund dieser verbietet der Gleicheitsgrundsatz des Grundgesetzes.
All diese Aspekte kennen wir von keinen anderen Versammlungsverboten. Zudem werden die Teilnehmenden und die Versammlungen komplett entpolitisiert. Es wird ausgeklammert, was das politische Anliegen der Demonstrationen ist.
Nämlich?
Unrecht in Vergangenheit und Gegenwart sichtbar zu machen: Palästinenser*innen werden damals wie heute durch Israel entrechtet, es gibt unterschiedliche Rechtssysteme für Palästinenser*innen und jüdische Israelis, ihr Land wird besiedelt, und sie können Eigentum und Land nicht wieder zurückerlangen. Dazu kommt, dass diese Themen in Deutschland kaum artikuliert werden können, ohne kriminalisiert oder marginalisiert zu werden.
Wie wurde das Versammlungsrecht nach dem 7. Oktober eingeschränkt?
In Hamburg gab es ein dreiwöchiges Totalverbot für propalästinensische Proteste durch eine Allgemeinverfügung. In Berlin wurden präventiv knapp die Hälfte der Palästina-solidarischen Versammlungen verboten. Rechtsstaatlich ist das höchst bedenklich. Danach wurden Demonstrationen mit hohen Auflagen erlaubt. Auflagen sind erst einmal nicht unüblich und auch gestattet, aber in diesem Fall haben die Masse und die Art der Auflagen das Versammlungsrecht weiterhin eingeschränkt: Zum Beispiel wurde die Anzahl von Palästina-Flaggen beschränkt, weil eine Emotionalisierung befürchtet wurde (siehe auch Verwaltungsgericht Hamburg v. 20.08.2024, 20 K 95/24). Oder die Versammlungsrouten wurden geändert, obwohl der Protest gerade vor dem Axel-Springer-Medienhaus stattfinden sollte, oder in Wohngegenden, wo die Organisator*innen sich Solidarität erhofften.
Der Slogan "From the river to the sea" stand immer wieder im Zentrum der Debatte. Wie ist die aktuelle Rechtslage?
Wir haben einen Flickenteppich, weil die Gerichte sehr unterschiedlich entscheiden. In Berlin hat das Amtsgericht im August 2024 eine junge Frau zu einer Geldstrafe verurteilt, wegen Billigung von Straftaten. Das Landgericht Mannheim hat hingegen im Mai festgestellt, dass der Slogan keine eindeutige Hamas-Parole ist, und zudem von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Ähnlich haben Gerichte in Kassel und Bremen entschieden. In unterschiedlichen Bundesländern dürfen wir gerade also Unterschiedliches sagen. Rechtssicherheit wird es erst geben, wenn das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Rechtskundige gehen davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht im Sinne der Meinungsfreiheit entscheiden wird. Doch der Weg dahin kostet Geld, Zeit und Energie – Gerichtsprozesse sind für Betroffene sehr nervenaufreibend. In der Zwischenzeit herrscht Rechtsunsicherheit und es macht sich ein "chilling effect" breit. Das heißt, Menschen üben ihre Grundrechte nicht aus, weil sie nicht wissen, mit welchen staatlichen Maßnahmen sie rechnen müssen. Das ist mit der Idee von Rechtsstaat kaum vereinbar. Nach dem Bundesverfassungsreicht bedeutet Rechtsstaat die Bindung und Begrenzung öffentlicher Gewalt zum Schutz öffentlicher Freiheiten (BVerfG, Urteil v. 17.1.2017, 2 BvB 1/13, Rn. 547).
Auch Begriffe wie Genozid und Apartheid sind im Kontext Israel und Palästina extrem umstritten. Dürfen diese verwendet werden?
Genozid und Apartheid sind Rechtsbegriffe, keine Kampfbegriffe. Erst wenn man ihre rechtliche Qualität ausblendet, wird daraus eine ideologische Diskussion. Ganz am Anfang gab es Leute, die mit Schildern demonstriert haben, auf denen "Stoppt den Genozid" stand. Sie wurden wegen Volksverhetzung von der Polizei in Berlin angezeigt. Vier Monate später wurden die Verfahren eingestellt. Versammlungen mit dem Titel "Stoppt den Genozid" wurden von der Polizei in Köln verboten. Das Verwaltungsgericht in Köln hat das Verbot für rechtswidrig erklärt. Dennoch sieht man hier, wie die Exekutive politisch motiviert handelt, anstatt sich an der rechtlichen Dimension des Genozidbegriffs zu orientierten.
Der Internationale Gerichtshof (IGH) (Bosnia v Serbia, 2007) hat klargestellt, dass Staaten nach der UN Genozid-Konvention verpflichtet sind, so früh wie möglich Maßnahmen zu ergreifen, um einen Genozid zu verhindern, und zwar sobald sie über das Risiko des Genozids Kenntnis erlangen. Schon vor dem IGH-Verfahren Südafrika v. Israel zur Anwendung der UN-Genozid-Konvention, wurde das Risiko des Genozids öffentlich gemacht. So haben die UN-Sonderberichterstatter einen Genozid vor allem an den Aussagen israelischer Politiker festgemacht, insbesondere der Aussage des israelischen Verteidigungsministers Galant, der am 9. Oktober 2023 Palästinenser*innen als "menschliche Tiere" bezeichnet hat, die man von Lebensmittel, Wasser und Treibstoff abschneiden werde.
Zurück nach Deutschland. Gab es Versammlungseinschränkungen, die legitim waren?
Es gibt Auflagen, die vollkommen in Ordnung sind: dass es keinen Aufruf darf zur Gewalt und keine antisemitischen Äußerungen geben darf. Schwierig wird es nur, wenn sich die Polizei an der umstrittenen Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) orientiert. Denn diese bezieht sich in sieben von elf Beispielen auf Israel. Darauf basierend kann auch Kritik am israelischen Staat als antisemitisch verstanden werden.
Was für Gründe stecken hinter diesem restriktiven Vorgehen?
Die Idee ist eigentlich, jüdische Menschen in Deutschland zu schützen. Das ist auch richtig, denn der Staat hat eine Schutzpflicht gegenüber allen in Deutschland lebenden Menschen und insbesondere gegenüber vulnerablen Gruppen. Dazu gehören jüdische Menschen als Nachfahren von Opfern eines Genozids. Der Schutz von Jüd*innen und Juden in Deutschland darf überhaupt nicht zur Debatte stehen. Doch aktuell werden Begriffe wie Staatsräson oder die IHRA-Antisemitismus-Definition genutzt, um repressiv gegen andere, strukturell ebenfalls vulnerable Gruppen vorzugehen. Das verschärft sich, je mehr Gewalt Israel als Staat anwendet. Der Internationale Gerichtshof ermittelt gerade wegen Genozid und hat gegen Israel schon drei Mal einstweilige Anordnungen erlassen. All diese Anordnungen hat Israel nach Aussagen des IGH nicht umgesetzt. Zudem hat der IGH im Juli 2024 in einem Gutachten die Illegalität der israelischen Besatzung in Gaza, dem Westjordanland und Ost-Jerusalem bestätigt, außerdem das Verbot der Annexion, das Verbot der Segregation und Apartheid, sowie die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes. Je vehementer Israel gegen Völkerrecht verstößt und je offenkundiger Deutschland das unterstützt, desto mehr geht der Staat hier in Deutschland gegen diejenigen vor, die das kritisieren.
Welche Rolle spielen antimuslimischer und antipalästinensischer Rassismus?
Leider haben wir seit dem 11. September 2001 einen fruchtbaren Boden dafür. Viele Vorurteile und Stereotype haben sich seitdem in der Polizeiarbeit und bei den Staatsanwaltschaften verstetigt. Das erkennen wir daran, wie schockierend schnell, präventiv und pauschal diese Versammlungsverbote kamen. Auch beobachten wir jetzt Gewalt von Polizeibeamt*innen, die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des polizeilichen Vorgehens weckt.
Welche Rolle hat Polizeigewalt in den letzten Monaten gespielt?
Seit dem 7. Oktober 2023 haben Anwält*innen Demonstrationen beobachtet und sich um jene gekümmert, die in Gewahrsam genommen wurden. Den Anwält*innen sowie Aktiven aus der palästinensischen Gemeinschaft ist aufgefallen, wie heftig die Polizei gegen die Demonstrierenden vorging, teilweise auch gegen Kinder und Jugendliche. Polizist*innen gingen behelmt und in voller Montur in die Menge hinein, nutzten Pfefferspray oder Schmerzgriffe, bedeckten mit Handschuhen Mund und Nase von Demonstrierenden, drückten Menschen auf den Boden und knieten auf ihnen. Das sind Bilder, die uns alarmieren sollten, denn wir wissen, was mit George Floyd in den USA passiert ist. Und obwohl diese Vorfälle medial dokumentiert und verbreitet werden, gibt es wenig Protest dagegen aus der Zivilgesellschaft und der Politik.
Was für Gegenstrategien gibt es? Sehen Sie als Juristin das Recht als Arena für Widerstand?
Tatsächlich sehen wir aktuell eine Verrechtlichung der Diskussion. Gerade weil es so schwierig ist, den Diskurs mitzugestalten, wird vieles jetzt über die Gerichte ausgefochten. Wer erfahren will, wie es um Palästina-solidarischen Protest steht, der liest Gerichtsentscheidungen. Als Juristin finde ich das spannend und bin auch der Meinung, dass wir mehr Jura im Alltag brauchen als gelebtes Recht. Wir müssen jetzt darüber nachdenken, wie es weitergehen soll mit dem Völkerrecht, mit den Menschenrechten, mit Rechenschaftspflichten für alle Staaten und nichtstaatliche Akteuren gleichermaßen. Was machen wir, wenn das einreißt und die Straffreiheit gewinnt? Jetzt ist der Moment, um aktiv zu werden. Das Recht ist immer auch ein umkämpftes Recht, und es steht und fällt damit, dass sich Menschen dafür stark machen.
Es macht mir aber große Sorgen, dass es außerhalb der Gerichte kaum noch Orte gibt, wo Fragen diskutiert werden, die ein größeres und vor allem gesellschaftliches Forum bräuchten. Schließlich geht es um nichts Geringeres als die Völkerrechtsfreundlichkeit Deutschlands und das Einstehen für Grundrechte für alle.
Und wie könnte das aussehen?
Überall da, wo Menschen ohnehin sind, können sie sich engagieren, ob in der Schule, an Hochschulen, in Kunst und Medien. Versammlungsfreiheit hängt eng zusammen mit Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit, Wissenschaftsfreiheit. Wir brauchen mehr Räume, um über Protestkultur und deren aktuelle Einschränkungen zu sprechen. In den vergangenen Monaten wurden viele Veranstaltungen abgesagt und Personen ausgeladen. Das erschwert die Diskussion und zeigt: Der Einsatz für Menschenrechte ist eben nicht nur im Ausland unbequem und manchmal gefährlich. Auch hier in Deutschland müssen wir manchmal gegen gesellschaftliche Tabus und staatliche Repression vorgehen. Wir müssen aus unserer bequemen Haltung herauskommen und verstehen, dass der Einsatz für Grund- und Menschenrechte uns Energie kosten wird.