Aktuell Libanon 27. September 2024

Libanon/Israel: Luftangriffe und Angriffe durch Pager-Explosionen müssen als Kriegsverbrechen untersucht werden

Das Bild zeigt eine Rauchsäule über einer Stadt

Rauchsäule über dem Dorf Zaita im Süden des Libanons nach einem Angriff des israelischen Militärs (23. September 2024)

Raketenangriffe, Explosionen von Pagern und Walkie Talkies und Vertreibung von Zivilpersonen: Die Eskalation des Konflikts zwischen Israel und der Hisbollah hat zu einer dramatischen Zunahme von zivilen Opfern geführt. Viele israelische Angriffe im Libanon haben in den vergangenen Tagen bewohnte Gebiete und zivile Einrichtungen getroffen. Auch die Hisbollah feuert weiterhin wahllos Raketen auf israelische Städte. Alle Konfliktparteien müssen das humanitäre Völkerrecht respektieren und alle erdenklichen Vorkehrungen zu treffen, um das Leben der Zivilbevölkerung zu schützen.

Seit Oktober 2023 haben sich die Feindseligkeiten zwischen Israel und der im Libanon ansässigen bewaffneten Gruppe Hisbollah immer weiter verstärkt. Doch in den vergangenen Tagen hat die Gewalt ein neues Ausmaß angenommen. Die Zahl der Todesopfer im Libanon stieg exponentiell an. Erst wurden am 17. und 18. September 2024 im Libanon Tausende Pager und Walkie-Talkies massenhaft zur Explosion gebracht. Dann führte die israelische Armee ab dem 23. September im Rahmen der Operation "Northern Arrows" Luftangriffe durch. Die Hisbollah wiederum feuerte Raketen auf Israel ab.

Das Bild zeigt ein zerstörtes Haus, es liegen Trümmer und Spielzeug überall

Bei einem israelischen Luftangriff zerstörtes Gebäude im libanesischen Dorf Saksakiyeh (26. September 2024)

1.600 Angriffe auf den Libanon am ersten Tag der israelischen Militäroperation

Allein am Montag, den 23. September, wurden nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums mindestens 558 Menschen, darunter 50 Kinder und 94 Frauen, durch israelische Angriffe im Libanon getötet. Mehr als 1.800 Menschen wurden verletzt. Fast 500.000 Menschen wurden aus dem Südlibanon, der Bekaa-Region und anderen Regionen vertrieben. Israel führte allein am ersten Tag der Militäroperation mehr als 1.600 Angriffe auf den Libanon durch.

Auch die Hisbollah hat ihre Angriffe auf Israel deutlich verstärkt und mehr als 200 Raketen abgefeuert. Nach israelischen Medienberichten wurden mindestens 15 Menschen verletzt – die meisten durch Granatsplitter oder Trümmer, andere beim Versuch, sich in Sicherheit zu bringen. Seit Oktober vergangenen Jahres sind rund 63.000 Menschen aus dem Norden Israels durch Angriffe aus dem Libanon vertrieben worden.

Amnesty International fordert alle Konfliktparteien auf, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren und alle erdenklichen Vorkehrungen zu treffen, um das Leben der Zivilbevölkerung zu schützen. Die Organisation fordert alle Staaten auf, sämtliche Waffenlieferungen und andere Formen der militärischen Unterstützung an Israel und die Hisbollah einzustellen. Es besteht ein erhebliches Risiko besteht, dass diese Waffen dazu eingesetzt werden könnten, schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zu begehen, einschließlich Kriegsverbrechen.

Löscharbeiten in der israelischen Stadt Kirjat Bialik nach dem Einschlag einer Rakete, die von der Hisbollah aus dem Libanon abgefeuert wurde (22. September 2024).

Medizinische Einrichtungen und medizinisches Personal im Libanon unter Beschuss

Viele der in den vergangenen Tagen von israelischen Angriffen betroffenen Gebiete waren belebte Wohngebiete. Dies geht aus von Amnesty International ausgewerteten Videos hervor. Nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministers gerieten auch medizinische Einrichtungen und medizinisches Personal unter Beschuss. Dabei wurden vier Ärzt*innen getötet und mindestens 16 weitere verletzt.

Die Einhaltung des humanitären Völkerrechts setzt voraus, dass nur militärische Ziele angegriffen werden. Wahllose Angriffe, unverhältnismäßige Angriffe und direkte Angriffe auf Zivilist*innen und zivile Objekte müssen vermieden werden. Dazu gehören alle möglichen Vorkehrungen, um den Schaden für die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur zu minimieren. Der Einsatz von Waffen mit großflächiger Wirkung in der Nähe von dicht besiedelten Wohngebieten könnte gegen das Verbot wahlloser Angriffe verstoßen.

Das Bild zeigt mehrere Menschen, die liegend Blut spenden sowie medizinisches Personal

Blutspende in der libanesischen Hauptstadt Beirut für die Menschen, die bei den massenhaften Pager-Explosionen verwundet wurden (17. September 2024).

Explosionen von Pagern und Walkie-Talkies als Kriegsverbrechen untersuchen

In Folge der massenhaften Explosionen von Pagern und Walkie-Talkies am 17. und 18. September wurden mindestens 37 Menschen getötet, darunter mindestens vier Zivilpersonen. Mehr als 2.931 Menschen wurden verletzt. 
Die Explosionen ereigneten sich in Supermärkten, Autos, Wohngebieten und anderen belebten öffentlichen Bereichen. Sie verursachten massive Verletzungen, verbreiteten Angst und Panik im gesamten Libanon und überforderten den bereits von einer akuten Wirtschaftskrise geplagten Gesundheitssektor.

Auch zivile Mitarbeitende von Hisbollah-Einrichtungen hatten Pager

Amnesty International liegen Belege vor, dass die Pager nicht nur an Hisbollah-Kämpfer verteilt wurden, sondern wahrscheinlich auch an Mitarbeiter von Hisbollah-Einrichtungen, die in zivilen Funktionen tätig sind. Amnesty International sprach auch mit einer gemeinnützigen Organisation, die angab, dass zwei ihrer Mitarbeitenden, die für Programme zur Unterstützung der Zivilbevölkerung in den südlichen Vororten von Beirut und im Süden zuständig sind, diese Pager besaßen. Sie wurden verletzt, als die Pager explodierten.

Recherchen von Amnesty legen nahe, dass diejenigen, die diese Angriffe planten und durchführten, nicht überprüfen konnten, wer zum Zeitpunkt der Explosion in der unmittelbaren Nähe der Geräte zu Schaden kommen würde. Damit waren die Angriffe wahllos, nach dem humanitären Völkerrecht rechtswidrig und sollten als Kriegsverbrechen untersucht werden. Die Angriffe verletzten auch das Recht auf Leben nach den internationalen Menschenrechtsnormen, die auch in bewaffneten Konflikten gelten und wahrscheinlich weitere Menschenrechte.

Das Bild zeigt eine Hand, die ein zerstörtes Elektro-Gerät hält

Einer der Pager, die im September 2024 bei massenhaften Explosionen im Libanon zerstört wurden.

Humanitäres Völkerrecht verbietet wahllose Angriffe

Das humanitäre Völkerrecht, genauer: das Protokoll II zum UN-Übereinkommen über bestimmte konventionelle Waffen, geht auf derartige Sprengfallen ein. Es untersagt den Einsatz von Sprengfallen, die aus scheinbar harmlosen beweglichen Gegenständen bestehen – aber eigens dafür gebaut wurden, um sie zur Explosion zu bringen.

Obwohl sich die israelische Regierung nicht offiziell zu den Angriffen geäußert hat, erklärte der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant am 18. September, dass eine "neue Ära" des Krieges mit dem Libanon beginne. Er lobte die "hervorragenden Leistungen" der israelischen Sicherheitskräfte und des Geheimdienstes, eine Erklärung, die als implizites Eingeständnis der Rolle Israels bei den Angriffen interpretiert wurde. Auch die libanesischen Behörden und US-Beamte haben angedeutet, dass sie glauben, dass Israel die Angriffe inszeniert hat.

Aktuelle Eskalation vor dem Hintergrund anhaltender Feindseligkeiten

Seitdem die Hisbollah nach dem Beginn der israelischen Offensive im besetzten Gazastreifen im Oktober 2023 Angriffe auf den Norden Israels startete, sind beide Parteien in anhaltende grenzüberschreitende Feindseligkeiten involviert. Zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 10. September 2024 wurden bei den israelischen Angriffen auf den Südlibanon und die Bekaa-Region nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums und der Vereinten Nationen mindestens 137 Zivilpersonen getötet. Es wird befürchtet, dass die israelische Armee in naher Zukunft auch mit Bodentruppen in den Libanon einmarschieren könnte.

Bereits vor der jüngsten Eskalation flohen über 113.000 Libanes*innen in andere Landesteile. Im gleichen Zeitraum haben die Hisbollah und andere bewaffnete Gruppen Geschosse auf Nordisrael abgefeuert und nach Angaben der israelischen Behörden mindestens 14 Zivilist*innen in Israel getötet. Über 63.000 Menschen im Norden Israels mussten infolge der Kampfhandlungen ihre Häuser verlassen.

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