Amnesty Journal 17. Juli 2012

Fluch und Segen

Er kam mit einem blauen Auge davon: Der koptische Geschäftsmann Naguib Sawiris wurde in Ägypten wegen "Geringschätzung der Religion" angeklagt, weil er auf Twitter ein Foto einer bärtigen Mickey Mouse und einer verschleierten Minni veröffentlicht hat. Die Anklage wurde wegen Formfehler abgewiesen. Ganz anders erging es dem jungen saudischen Dichter Hamsa Kashgari. Er veröffentlichte ein Zwiegespräch mit dem Propheten Mohammed auf Twitter, welches von Konservativen als Gotteslästerung bezeichnet wurde. Innerhalb kurzer Zeit fanden sich auf einer Facebook-Seite 13.000 Unterstützer, die die Hinrichtung des jungen Dichters forderten. In Saudi-Arabien steht auf Gotteslästerung die Todesstrafe.

Die viel gepriesenen neuen Medien wie Twitter, Facebook oder YouTube sind für die Demokratiebewegungen in Nordafrika und im Nahen Osten Fluch und Segen gleichermaßen. Lange vor den Revolten und Umbrüchen in Tunesien und Ägypten Anfang 2011 waren Blogs im Internet die einzigen Foren, in denen sich arabische und iranische Aktivistinnen und Aktivisten fernab von staatlicher Zensur zu gesellschaftlichen und politischen Themen ­äußern und austauschen konnten.

In Ägypten zählte die Facebook-Seite "Wir sind alle Khaled Said" mit Hunderttausenden Unterstützern zu einer wichtigen Mobilisierungsplattform für die Massendemonstrationen im ­Januar und Februar 2011. In Tunesien hat die Berichterstattung über die Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi durch die tunesischen Blogger maßgeblich dazu beigetragen, dass die Proteste im ganzen Land Widerhall fanden. In Syrien sind es die unter Lebensgefahr aufgenommenen Handy-Videos, die die brutale Gewalt der Sicherheitskräfte dokumentieren. Auf YouTube veröffentlicht tragen diese Videos dazu bei, die staatliche Zensur zu umgehen und ein Bild der grausamen Realität in den von der Armee belagerten Oppositionshochburgen zu liefern.

Nicht nur durch unbedachte Äußerungen auf Twitter haben sich die neuen Medien als Fluch erwiesen. In Syrien wurde die Blockade von Facebook und YouTube kurz vor Beginn der Proteste aufgehoben. Viele Beobachter fürchten, dass die syrischen Geheimdienste durch die Überwachung der sozialen Netzwerke Erkenntnisse über die Aktivitäten der Opposition gewonnen haben. Ein bahrainischer Aktivist berichtete, dass er während der Verhöre mit Abschriften seiner SMS-Nachrichten konfrontiert wurde. Und aus dem Iran ist bekannt, dass die Geheimdienste die im Internet verbreiteten Video-Aufnahmen von den Demonstrationen des Jahres 2009 ausgewertet haben, um Aktivisten der Demokratiebewegung zu identifizieren. Unzählige verschwanden in den Foltergefängnissen des Geheimdienstes und des Innenministeriums.

Für Amnesty bleibt deshalb der kompromisslose Einsatz für die Meinungsfreiheit eine zentrale Aufgabe, um den bedrängten Aktivistinnen und Aktivisten in Nordafrika und dem Nahen Osten im Kampf für Menschenrechte und einen grundlegenden Wandel in ihren Heimatländern beizustehen.

Ruth Jüttner ist Expertin für den Nahen und Mittleren Osten der ­deutschen Sektion von Amnesty International.

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