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"Ich suche meine Allianzen nicht nach ethnischen, sondern nach ethischen Kriterien aus"
Der jüdisch-israelische Aktivist Ofer Waldman
© Bernd Brundert
Als jüdisch-israelischer Aktivist, Autor und Redner fordert Ofer Waldman ein Ende des Krieges in Gaza. Dabei beharrt er auf der Schnittmenge zwischen den universell geltenden Menschenrechten und dem Beistand für das jüdische Volk.
Interview: Hannah El-Hitami
Sie leben mit Ihrer Familie im Norden Israels. Wie wirkt sich der Krieg auf Ihren Alltag aus?
Während wir sprechen, sitze ich in meinem Arbeitszimmer, das gleichzeitig unser Bunker ist. Die Angriffe sind gut zu hören, ebenso wie die Explosionen der Abwehrraketen. Hier im Norden fürchten wir, dass der Krieg zwischen Hisbollah und Israel sich ausweitet. Und all das steht im Kontext einer neuen Zeitrechnung seit dem 7. Oktober 2023. Auf einer Kundgebung gegen die Regierung habe ich den Spruch gesehen: "Wir haben jetzt den 260. Oktober." Dieser Tag endet nicht, denn wir haben keine Zeit zu trauern, die Geiseln sind noch in den Tunneln der Hamas, über 100.000 Binnenflüchtlinge in Israel. Und gleichzeitig über 35.000 Tote und hungernde Kinder in Gaza.
Sie haben den 7. Oktober als Zivilisationsbruch bezeichnet. Was genau meinen Sie damit?
Der Angriff der Hamas hat bei vielen Menschen hier in Israel ein Ineinanderkollabieren von Erinnerungsräumen verursacht. Die Bilder, die wir gesehen haben – kleine Kinder, die sich in Kleiderschränken verstecken und von bewaffneten Männern herausgezerrt werden, ganze Familien, die ermordet werden, sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe – diese Bilder kennen wir aus anderen jüdischen Erinnerungsräumen. Man kann den 7. Oktober natürlich nicht direkt mit der Shoah vergleichen. Doch er hat die Grenzen des Vorstellbaren für viele Menschen überschritten.
In Debatten über den 7. Oktober und den Krieg in Gaza wird immer wieder die Kritik laut, dass das Leid der jeweils anderen nicht anerkannt wird. Warum fällt es vielen so schwer, Empathie für alle Opfer aufzubringen?
Diejenigen, die ihre Empathie nach ethnischen oder ideologischen Kriterien verteilen, zerbrechen unsere Welt immer weiter. Wer am 7. Oktober schwieg und nun laut protestiert, wer am 7. Oktober aufschrie und nun stumm bleibt, wer das Hungern von Kindern in Gaza rechtfertigt oder sexualisierte Gewalt gegen israelische Frauen verleugnet, wer Antisemitismus verharmlost oder antimuslimischen Rassismus hinnimmt übt Verrat an den universalistischen Anspruch der Menschenrechte – und trägt nichts dazu bei, den Krieg und das Leid auf beiden Seiten zu beenden. Dass es Menschen gibt, die sich als Teil des progressiven Lagers betrachten und doch Menschenrechtsverbrechen gegen diese oder jene Gruppe relativieren, macht mich fassungslos.
Wie bleibt man trotz des Schmerzes empathisch?
Erstmal, indem man sich ständig selbst hinterfragt. Nie selbstsicher wird. Wir verwenden immer diese Adjektive: jüdisch-israelische Geiseln, palästinensische Opfer. Ich versuche darauf zu achten, erstmal ohne Adjektive zu denken. Wenn ich an Mohammed Al-Rimlawi denke, einen Jungen, der neben seinem Vater und mehreren Geschwistern bei einem Bombardement im Gaza-Streifen ums Leben kam, denke ich nicht an einen palästinensischen Jungen, sondern: Was bedeutet es für unsere gemeinsame Welt, wenn der Tod von Kindern als "Begleitschaden" gilt? Wenn ich an Tal Shoham denke, der als Geisel festgehalten wird, ist es mir egal, woher er kommt, dann denke ich an einen Familienvater. Danach erst folgt das politische Denken.
Sie engagieren sich bei Standing Together, einer Bewegung von jüdischen und palästinensischen Bürger*innen Israels, die sich seit 2015 gegen Krieg und Besatzung ausspricht. Was ist Ihre Motivation?
Auf die Fragen und Ängste meiner Kinder finde ich aktuell nur schwer eine Antwort. Ich kann ihnen kaum eine positive Erzählung unserer Welt geben, denn die Realität ist grausam. Das Einzige, was ich ihnen anbieten kann, ist zu sagen: Wir lassen das nicht mit uns machen. Wir gehen auf Mahnwachen, halten zusammen mit unseren palästinensisch- und jüdisch-israelischen Freundinnen und Freunden, halten Transparente hoch gegen den Krieg, für die sofortige Befreiung der Geiseln und ein sofortiges Ende des Tötens in Gaza. Angesichts einer rassistischen Regierung, die sich von den demokratischen Werten Israels verabschieden will, angesichts religiöser Terrororganisationen, für die Menschenleben wertlos sind, suche ich meine Allianzen nicht nach ethnischen, sondern nach ethischen Kriterien aus. Meine Alliierten sind die gemäßigten Kräfte, egal ob jüdisch-israelisch oder palästinensisch oder libanesisch.
Wie groß ist der Protest gegen den Krieg in der israelischen Zivilgesellschaft?
Am 22. Juni 2024 gab es in Tel Aviv die bisher größte Demonstration seit dem 7. Oktober. Ich glaube, die meisten Israelis waren in einer Schockstarre vor Leid und Trauer. Die Angst um Freunde und Familie macht es schwer, wieder auf die Straßen gegen die Regierung zu gehen. Aber das politische Engagement wacht jetzt langsam auf. Vielen wird klar, dass wir uns bewegen müssen, bevor diese Regierung Israel in den Abgrund führt. Sie ist nicht daran interessiert, den Krieg zu beenden, weil Teile der Regierung ihre messianischen und rassistischen Ziele im Schatten des Krieges verwirklichen wollen. Trotz der Trauer, des Bruchs, des Leids, des Schmerzes, gehen wir also auf die Straße.
Dabei wurden wiederholt Demonstrierende festgenommen. Was sind die Handlungsspielräume für Anti-Kriegs-Engagement in Israel aktuell?
Wir haben es mit einer grundlegend undemokratischen Regierung zu tun. Der Minister für innere Sicherheit ist ein extremistischer Siedler, der die Polizei seinen politischen Zielen unterwerfen möchte. Wir sehen eine Zunahme der Polizeigewalt, der Repressionen des öffentlichen Protests. Die israelische Polizei wird unter dieser Regierung politisiert, mit gravierenden Folgen für die Protestbewegung.
Sie haben eine Wohnung in Berlin und sind oft in Deutschland für Ihre Arbeit. Nach dem 7. Oktober gab es hierzulande einen starken Anstieg antisemitischer Straftaten und Bedrohungen. Wie fühlen Sie sich gerade als Jude in Deutschland?
Es wird immer schwieriger, nach Deutschland zu kommen. Ich weiß von vielen jüdischen und israelischen Freundinnen und Freunden, dass sie Angst haben, ihren Namen auszusprechen, ihre Kinder in die Schule zu schicken, dass das Klima generell gewaltbereiter wurde. Übrigens höre ich auch von Freundinnen und Freunden mit muslimischem Background, dass das Klima des Misstrauens ihr Leben stark einschränkt. Währenddessen bekommt die AfD hohe Zustimmungswerte, gerade bei jungen Menschen.
Wie hängt das zusammen?
Der Historiker Norbert Frei hat 2005 gesagt, dass wir in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust die Schwelle zwischen Erinnerung und Geschichte überschreiten. Menschen in meinem Alter haben eine lebendige Erinnerung an Gespräche mit Holocaust-Überlebenden. Hier in Deutschland hat meine Generation eine lebendige Erinnerung an Gespräche mit Tätern oder mit Menschen, die sich an die Zerstörung durch den Krieg erinnern – an den Preis des politischen Extremismus. Junge Menschen, die die AfD wählen oder auf dem Uni-Campus antisemitisches Gedankengut in Kauf nehmen, haben diese Erfahrung nicht, und wähnen sich offenbar von der Lektion der deutschen Geschichte befreit. Ich finde es übrigens wunderbar, dass die Universitäten zu politischen Orten werden. Wir brauchen sie im Kampf gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus. Aber wenn wir den Boden der Erinnerungskultur verlassen, ist das eine Gefahr für die Demokratie.
Die AfD positioniert sich gerne als Kraft gegen Antisemitismus – obwohl Mitglieder sich selbst antisemitisch äußern – und hetzt zugleich gegen Muslim*innen. Werden hier Minderheiten gegeneinander ausgespielt?
Der perfide Gedanke dahinter ist: Wir haben einen gemeinsamen Feind, die muslimischen Migranten. Darum kooperieren Teile der israelischen Politik mit rechtsextremen Strömungen in Europa. Während der sogenannten Flüchtlingskrise hat nicht nur die AfD behauptet, man bräuchte eine Obergrenze für geflüchtete Menschen, um Jüdinnen und Juden zu schützen. Man versuchte damit, dem eigenen Rassismus Legitimität zu verleihen. Ich habe schon damals gesagt: Wenn ihr rassistisch seid, ist das eure Sache, aber ich verbiete euch, die deutsch-jüdische Geschichte und den Kampf gegen Antisemitismus dafür zu missbrauchen. Das ist unverzeihlich.
Als israelischer Friedensaktivist stehen Sie sicher oft zwischen den Fronten. Wie vermitteln Sie?
Es ist ein unendlicher Kraftakt. Es gibt den Irrglauben in Deutschland, dass man als Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg entweder den universell geltenden Menschenrechten oder dem Beistand mit dem Staat Israel verpflichtet sein kann. Das ist der größtmögliche Blödsinn. Ein Beistand für Israel, der die Verletzung von Menschenrechten in Kauf nimmt, ist wertlos. Und wer die Wahrung der Menschenrechte als Ausrede nutzt, um die deutsch-jüdische Geschichte zu missachten, handelt unredlich und zynisch. Es gibt eine Schnittmenge zwischen der Wahrung der Menschenrechte und dem Beistand für das jüdische Volk und Israel. Mit meinem Aktivismus, meinen Vorträgen, meinem Schreiben möchte ich auf diese Schnittmenge bestehen.
Was müsste die deutsche Regierung tun, um für ein Ende des Kriegs zu sorgen?
Israel zu unterstützen bedeutet nicht Beistand für die israelische Regierung, sondern für die Menschen, die Demokratie und die Zivilgesellschaft. Die Errichtung eines palästinensischen Staates ist eine Vorbedingung für die Zukunft Israels als jüdisch-demokratischer Staat und gehört damit zur berühmten deutschen Staatsräson. Deutschland hat viele Kontakte in die Region und ist in der Lage, die hiesigen gemäßigten Kräfte zu stärken. Dazu muss Deutschland auf die Einhaltung internationaler Beschlüsse bestehen, die die Kriegsausweitung in den Norden und damit einen regionalen Flächenbrand verhindern könnten. Israel, die Hamas und die Hisbollah, ohne sie miteinander zu vergleichen, sind keine Weltmächte. Keine der Parteien könnte noch einen Tag weiterkämpfen ohne den Rückhalt internationaler Kräfte. Diese müssen alles tun, um den Krieg zu beenden, die Geiseln zu befreien, das Massensterben zu stoppen. Die politischen Führungen der Region sind dazu nicht willens oder nicht fähig.
Gibt es gerade irgendeinen Grund zur Hoffnung?
Ich denke an ein Interview mit dem Friedensaktivisten Maoz Inon, der beide Eltern am 7. Oktober verloren hat. Er sagte: Hoffnung hat man nicht, Hoffnung schafft man. In kleinen Schritten. In Gesprächen wie diesem. Hoffnung schafft man, indem man auf eine gemeinsame Welt besteht.
Zur Person:
Der gebürtige Jerusalemer Ofer Waldman zog 1999 als Mitglied des "West-Eastern Divan Orchestra" nach Berlin. Er absolvierte ein Diplomstudium an der UdK Berlin und spielte in mehreren deutschen und israelischen Kulturorchestern. Er promovierte im Bereich Germanistik und Jüdischer Geschichte in Berlin und Jerusalem. In mehreren zivilgesellschaftlichen NGOs aktiv, ist er hauptberuflich als freier Autor und Journalist tätig und ist Träger des Deutschen Hörspielpreises 2021. Dieses Jahr erschien im Suhrkamp Verlag unter dem Titel "Gleichzeit" sein Briefwechsel mit der Theaterautorin Sasha Marianna Salzmann über die Welt nach dem 7. Oktober.