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Israel/Gaza: Hamas und andere bewaffnete Gruppen müssen zivile Geiseln freilassen
+++ Aktualisierung am 15. November 2023 um 12:53 Uhr: Am 14. November 2023 wurde bestätigt, dass die israelische Friedensaktivistin Vivian Silver am 7. Oktober bei dem Angriff der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen auf ihr Haus im Kibbuz Be'eri getötet wurde. Ihre Familie hatte zunächst geglaubt, Vivian Silver sei in den Gazastreifen entführt und dort als Geisel festgehalten worden. +++
Amnesty International fordert erneut die sofortige und bedingungslose Freilassung aller zivilen Geiseln, darunter auch Kinder, die seit einem Monat im besetzten Gazastreifen festgehalten werden. Sie waren am 7. Oktober von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen aus Israel entführt worden.
Tausende Menschen sind in den vergangenen Tagen in Israel auf die Straße gegangen, um zu fordern, dass ihre Angehörigen nach Hause gebracht werden. Dabei kritisierten sie die Reaktion der israelischen Regierung auf die Geiselnahmen. Vergangene Woche kursierte im Internet ein von den Al-Qassam-Brigaden − dem militärischen Flügel der Hamas − veröffentlichtes Video. In diesem Video werden drei zivile Geiseln gezeigt, die im Gazastreifen festgehalten werden und eine Botschaft an den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu richten. Die Aufnahme eines solchen Videos unter Zwang und die Veröffentlichung der Aussagen von Geiseln kommt einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung gleich.
"Die Entführung von Zivilpersonen sowie Geiselnahmen sind völkerrechtlich verboten und gelten als Kriegsverbrechen. Geiseln müssen menschlich und im Einklang mit dem Völkerrecht behandelt werden. Sie dürfen nicht in Online-Videos vorgeführt oder zu Aussagen gezwungen werden", sagte Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International. "Anstatt verzweifelte zivile Geiseln als Mittel zu benutzen, um politische Ziele zu erreichen, sollte die Hamas diese sofort und bedingungslos freilassen. Als absolutes Minimum sollten sie unabhängigen Beobachter*innen sofort den Zugang zu den Geiseln ermöglichen, sodass ihr Wohlergehen sichergestellt und die Kommunikation mit ihren Familien ermöglicht werden kann."
Die israelischen Behörden gaben an, dass mindestens 240 zivile Geiseln und militärische Gefangene im Gazastreifen festgehalten werden, sie machten jedoch keine Angaben zur spezifischen Anzahl ziviler Geiseln. Unter den Geiseln befinden sich auch 33 Kinder. Außerdem ältere Menschen, Ausländer*innen oder Menschen mit einer doppelten Staatsbürgerschaft, sowie israelische Soldat*innen. Vier zivile Geiseln, allesamt Frauen, wurden bisher von der Hamas freigelassen − zwei US-Bürgerinnen am 20. Oktober, zwei weitere am 24. Oktober.
"Israels unerbittliche Bombardierung des Gazastreifens, auch durch ungesetzliche, wahllose Angriffe, hat nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums mehr als 10.000 Palästinenser*innen getötet, darunter 4.200 Kinder. Gefährdet sind auch die Zivilist*innen, die im Gazastreifen als Geiseln gehalten werden. Die israelische Regierung ignoriert Appelle israelischer Familien, bei ihren Operationen dem Wohlergehen der Geiseln Vorrang einzuräumen", sagte Agnès Callamard.
Im Rahmen der Kunstaktion "Empty Beds" wurden auf dem Jerusalemer Safra-Platz mehr als 200 leere Betten und Krippen aufgestellt in Solidarität mit den Geiseln, die von der Hamas und anderen bewaffneten palästinensischen Gruppen aus Israel entführt wurden (30. Oktober 2023).
© IMAGO / ZUMA Wire
Ella Ben Ami, deren Eltern Raz und Ohad Ben Ami bei dem Angriff am 7. Oktober in Be'eri entführt wurden, gehört zu den Protestierenden in Israel. Sie erzählte Amnesty International, dass ihre Mutter krank sei und sowohl mit zerebralen Einschränkungen als auch mit Wirbelsäulenproblemen zu kämpfen habe: "Es ist jetzt 30 Tage her, dass meine Eltern aus ihrem Haus verschleppt wurden. Wir wurden in schrecklicher Hilflosigkeit und großer Ungewissheit zurückgelassen... Ich habe keine Informationen über ihre Situation, was mein tägliches Leben zur Qual macht. Wir protestieren, um auf die Lage der Geiseln aufmerksam zu machen. Wir fordern, dass die Regierung sich um das Leben der Geiseln kümmert und Druck ausübt, damit sie freigelassen werden. Ich bitte meine Regierung und alle führenden Politiker*innen der Welt, uns zu helfen. Wir wollen unsere Eltern wiedersehen, lebendig. Wir haben Angst, dass meine Mutter nicht überlebt, wenn sie ihre Medikamente nicht bekommt. Wir haben keine Zeit."
Yonatan Zeigen, dessen 74-jährige Mutter Vivian Silver − eine Friedensaktivistin und ehemaliges Vorstandsmitglied der israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem − am 7. Oktober aus dem Kibbuz Be'eri im Süden Israels entführt wurde, berichtete Amnesty International: "Ich empfinde Trauer und Schmerz für meine Mutter, alle Geiseln, unsere Gemeinden und die palästinensische Bevölkerung. Ich glaube, dass dies ein Weckruf ist, weil es beiden Seiten so lange nicht gelungen ist, Frieden zu schließen. Ich fordere einen Waffenstillstand und die Freilassung aller Geiseln. Das wäre der erste Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden Lösung für die Region, mit anhaltender internationaler Beteiligung. Sicherheit kann nur mit Frieden erreicht werden."
Werde aktiv und fordere einen Waffenstillstand!
Moshi Lotem, dessen Tochter Hagar zusammen mit ihren drei kleinen Kindern, das jüngste von ihnen erst vier Jahre alt, in Gaza als Geisel festgehalten wird, erklärte gegenüber Amnesty International: "Was die Hamas und andere bewaffnete Gruppen getan haben, hat nicht nur ihren Nachbar*innen geschadet − die sich in Israel am stärksten für die Rechte der Palästinenser*innen eingesetzt haben − sondern auch ihrer eigenen Bevölkerung. Als Vater und Großvater ist es für mich sehr schwer, dass man mir meine Familie auf diese Weise weggenommen hat und dass man mir keinerlei Informationen über sie gibt. Ich vermisse sie so sehr. Es wird jeden Tag schwieriger. Sie befinden sich in einer sehr verletzlichen Situation, und die Angriffe [in Gaza] machen mir große Angst. Ich appelliere an die internationalen Organisationen, sei es die UNO oder das Rote Kreuz, die Geiseln nach Hause zu bringen."
Geiselnahmen sind Kriegsverbrechen
Die Genfer Abkommen, ihre Zusatzprotokolle und das humanitäre Völkergewohnheitsrecht verbieten die Geiselnahme, die als Kriegsverbrechen gilt. Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs definiert dieses Verbrechen als "die Ergreifung oder das Festhalten einer Person (der Geisel) in Verbindung mit der Androhung, die Geisel zu töten, zu verletzen oder weiterhin festzuhalten, um einen Dritten zu zwingen, als ausdrückliche oder stillschweigende Bedingung für die Sicherheit oder die Freilassung der Geisel zu handeln oder von einer Handlung abzusehen."
Amnesty fordert die Hamas und andere bewaffnete Gruppen auf, alle Gefangenen, einschließlich der israelischen Soldat*innen, menschlich und im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht zu behandeln. Alle Geiseln sollten Zugang zum Internationalen Komitee vom Roten Kreuz erhalten und mit ihren Familien in Kontakt treten dürfen. Diejenigen, die verletzt oder krank sind, müssen medizinisch versorgt werden.
Die Hamas und andere bewaffnete Gruppen müssen auch dafür sorgen, dass die Geiseln und andere Gefangene an Orten untergebracht werden, die von militärischen Zielen entfernt sind und sie müssen das Risiko, dass sie von israelischen Angriffen getroffen werden, minimieren. Unter keinen Umständen dürfen die Geiseln dazu benutzt werden, militärische Ziele vor Angriffen zu schützen.
Hintergrund
Amnesty International hat Beweise für Verstöße gegen das Völkerrecht, einschließlich Kriegsverbrechen, durch alle Konfliktparteien dokumentiert.
Amnesty International dokumentierte, wie die Hamas und andere bewaffnete Gruppen am 7. Oktober wahllos Raketen auf Israel abfeuerten und ihre Kämpfer*innen Zivilpersonen töteten und entführten. Nach Angaben der israelischen Behörden wurden dabei mindestens 1.400 Menschen getötet, die meisten von ihnen Zivilist*innen. Auch in Israel werden Zivilist*innen weiterhin durch wahllosen Raketenbeschuss der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen angegriffen.
Seit den grausamen Angriffen der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen am 7. Oktober hat Israel− zusätzlich zu den anhaltenden Bombardierungen − die seit 16 Jahren andauernde Blockade des Gazastreifens verschärft, indem es die Versorgung mit Wasser, Treibstoff und anderen lebenswichtigen Gütern unterbunden hat. So verschlimmert sich die humanitäre Krise.
Die israelischen Streitkräfte haben außerdem mehr als 2.000 Palästinenser*innen im besetzten Westjordanland festgenommen und setzen verstärkt Folter und anderen Misshandlungen gegen palästinensische Gefangene ein. Ausserdem haben sie allen palästinensischen Gefangenen, von denen es derzeit über 6.800 gibt, Besuche durch Familienmitglieder verweigert; verurteilten Gefangenen wurde auch der Zugang zu ihren Anwält*innen verwehrt. Selbst dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz wurde der Zugang zu den palästinensischen Gefangenen, die von Israel als "Sicherheitsgefangene" eingestuft werden, nicht gestattet. Im vergangenen Monat sind vier palästinensische Gefangene in israelischer Haft unter Bedingungen gestorben, die nicht unparteiisch untersucht wurden.
Untersuchungen von Amnesty International haben Belege für Kriegsverbrechen ergeben, die von den israelischen Streitkräften begangen wurden. Dazu zählen wahllose Angriffe während der Bombardierung des Gazastreifens, die Wohnhäuser in Schutt und Asche legten, Stadtviertel dem Erdboden gleichmachten und ganze Familien auslöschten.