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"Machtverhältnisse verschieben sich“
Der Philosoph Philipp Schink forscht zum Thema "Freiheit".
© Ehlers
Was bedeutet Freiheit? Und haben Querdenker_innen in Deutschland und Aktivist_innen in Belarus irgendetwas gemeinsam, wenn sie mit dem Begriff hantieren? Der Philosoph Philipp Schink gibt Antworten.
Interview: Lea De Gregorio
Sowohl Querdenker_innen als auch politische Aktivist_innen in Belarus sprechen von der Einschränkung ihrer Freiheit. Was geht Ihnen da als Philosoph durch den Kopf?
Die politischen Aktivistinnen und Aktivisten in Belarus haben negative Folgen zu tragen: willkürliche Verhaftung, lange Haftstrafen. Es wird mit einer unglaublichen Brutalität gegen sie vorgegangen. Da stellt sich natürlich ein ganz anderes Problem als bei Querdenker_innen, die in Deutschland demonstrieren. Bezogen auf Deutschland und den Umgang mit der Pandemie ist die Frage, ob und wenn ja in welchem Maße staatliche Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemieausbreitung tatsächlich als freiheitseinschränkend betrachtet werden können.
Wie steht es denn um den Freiheitsbegriff bei den Querdenker_innen?
Vorab ist natürlich wichtig zu beachten, dass wir es bei Querdenker_innen mit einer rechtsoffenen oder rechtsaffinen Bewegung zu tun haben. Da wird auf der Straße ein Bündnis mit neofaschistischen Rechtsradikalen gesucht. Dass die nicht für eine Gesellschaftsvorstellung stehen, die wir auch nur in irgendeiner Weise als freiheitlich bezeichnen können, dürfte klar sein. Natürlich stellen aber die staatlichen Maßnahmen zu Pandemiebekämpfung Einschränkungen von Handlungsmöglichkeiten dar. Die entscheidende Frage ist aber doch, ob dieser Sachverhalt tatsächlich gleichbedeutend ist mit der Einschränkung von Freiheiten. Und vielleicht sollte man auch darauf schauen, was für Möglichkeiten diese Einschränkungen eröffnen, die ansonsten für viele verschlossen werden würden.
Ist Freiheit notwendigerweise an Wahl- und Handlungsmöglichkeiten gebunden?
Es gibt in der Philosophiegeschichte eine breite Tradition des Freiheitsdenkens, die das so sieht. Ihr zufolge sind wir umso freier, je mehr Wahl- und Handlungsmöglichkeiten wir haben. Ich würde das nicht so sehen. Diese Tradition hat nicht die Ressourcen, um den Zusammenhang zwischen Freiheit und der Verfassung der soziopolitischen Verhältnisse angemessen zu erschließen. Wenn man sich die Geschichte der sozialen und politischen Kämpfe philosophisch ansieht, liegt ein anderer Schluss nahe: Freiheit bedeutet, in einem bestimmten Verhältnis zueinander zu stehen – und zwar in einem Verhältnis, in dem man nicht der Macht anderer unterworfen ist.
Was heißt das in Bezug auf die Pandemie?
Die interessante Frage ist nicht, wie die Maßnahmen die Handlungsmöglichkeiten der Menschen einschränken. Interessant ist, ob und wenn ja in welchem Maße sich Herrschafts- und Machtverhältnisse verschieben. Zum Beispiel sehen wir das im Bereich der Geschlechterverhältnisse: Frauen werden stärker in Hausarbeit und Sorgetätigkeiten gedrängt. Zudem verstärken sich soziale Ungleichheiten deutlich. Die Perspektive von all denen, die auf die unmittelbaren Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung starren – und das sind ja auch weitaus umsichtigere Menschen als nur diese Querdenker_innen –, scheint mir an solchen Fragen systematisch vorbeizugehen.
Verändert die Pandemie die staatlichen Machtverhältnisse?
Es wird in der BRD und anderen europäischen Staaten innerhalb der Verfassung und eines Grundrechtekatalogs gehandelt. Der gibt einer Regierung nur unter ganz bestimmten Ausnahmebedingungen die Möglichkeit, solche Maßnahmen zu vollziehen. Da hat sich an den Machtverhältnissen nicht großartig etwas geändert. Entscheidender ist, wie sich die sozialen und politischen Machtverhältnisse in der BRD in Folge der Pandemie und des Umgangs mit ihr ändern werden. An dieser Stelle merkt man aber einen riesengroßen Unterschied zu Belarus: Wir haben es in dem Lukaschenko-System mit einer Diktatur zu tun – mit einem Staat, der willkürlich gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern handeln kann. Da ist das Herrschaftsverhältnis einfach so, dass Teile der Bevölkerung in einer starken Form der Unfreiheit im Verhältnis zu den Regierenden stehen.
Sie würden die Einschränkung der Versammlungsfreiheit in Deutschland also nicht als Einschränkung von Freiheit begreifen, weil sich die Machtverhältnisse nicht groß ändern?
Ich war im vergangenen Jahr auf Demonstrationen der Seebrücke für eine Schließung des Lagers Moria und eine Aufnahme der Flüchtlinge aus den fürchterlichen Lagern auf Lesbos. Diese Demonstrationen im Frühjahr 2020 wurden mit Rekurs auf Corona-Maßnahmen von der Polizei unterbunden – sehr rigide und ruppig. Da merkte man, dass ein Willkürspielraum entsteht. Wenn Exekutivorgane eine Art Willkürmacht haben, und diese Gefahr droht ja fast in allen Kontexten, ist das ein riesengroßes Problem. Die Frage ist aber auch, wie damit umgegangen wird. Das können Sie wieder mit Belarus vergleichen: In der BRD haben wir eine große Öffentlichkeit, deren Freiheit nicht eingeschränkt worden ist. Sie ist auf der Straße eingeschränkt, aber es bestehen ja weitere Kanäle – etwa im Internet. Das hat es den Aktivist_innen der Seebrücke ermöglicht, auf vielen Ebenen Einspruch zu erheben und den Umgang mit ihnen zu skandalisieren und sich damit auch wieder Demonstrationsmöglichkeiten zu erkämpfen. Wenn man das in Belarus macht, verschwindet man im Gefängnis.
Hängt Freiheit notwendig an bestimmten politischen Systemen, also an einer Diktatur oder einer Demokratie?
Diese Frage muss man empirisch beantworten – nicht abstrakt. Vielmehr sollte man sich Macht- und Herrschaftsverhältnisse im konkreten Fall ansehen. Und dann überlegen, welche Systeme eher dazu neigen, Freiheit zu etablieren und zu gewährleisten. Was wir sagen können, ist, dass eine Demokratie eher dazu tendiert, freiheitliche Verhältnisse herzustellen. Wenn Sie Autokratie und Demokratie vergleichen, dann sehen Sie, in welcher Art und Weise Macht organisiert werden muss. In einer Demokratie ist es wesentlich komplizierter, als Herrschende Macht zu generieren als in einem autoritären Regime.
Amnesty setzt sich dafür ein, dass Menschenrechtsverletzungen in allen politischen Systemen geahndet werden. Welche Rolle spielt die Freiheit im Kontext der Menschenrechte?
Wenn man fragt, welche Rolle die Menschenrechte spielen, um Macht und Herrschaft in einer Gesellschaft einzuhegen, lässt sich sagen: Viele Menschenrechte spielen dabei eine ganz große Rolle. Was nicht bedeutet, dass Freiheit und Menschenrechte identisch sind. Es gibt jedoch eine Tradition des Freiheitsdenkens, die vor allem die erste Generation von Menschenrechten als Freiheitsrechte ausdeutet. Darunter fällt etwa das Folter- und Sklavereiverbot. Diese Tradition der Menschenrechte hat vor allem die Funktion, staatliches Handeln zu begrenzen.
Der Philosoph Philipp Schink ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DFG-Forschungsgruppe "Freiwilligkeit". Er ist Herausgeber von "Freiheit – Zeitgenössische Texte zu einer philosophischen Kontroverse" (Suhrkamp) und hat das Buch "Grundrisse der Freiheit" geschrieben (Campus Verlag).
Lea De Gregorio ist Redakteurin des Amnesty Journals. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.