Anliegen von Amnesty International zur Herbsttagung der ständigen Konferenz der Innenminister und –senatoren der Länder vom 7. bis 8. Dezember 2017
SICHERHEITSLAGE IN SYRIEN – FORTFÜHRUNG UND START VON LANDESAUFNAHMEPROGRAMMEN
Der bewaffnete Konflikt in Syrien zwischen der Regierung und bewaffneten oppositionellen Gruppen hält an. Im ganzen Land ist die Zivilbevölkerung von schweren Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des humanitären Völkerrechts bedroht. Wenn man von einer Neubewertung der Lage der Sicherheitslage redet, muss man feststellen, dass in einigen Landesteilen die Situation für die Zivilbevölkerung in den letzten Monaten sogar noch gravierender und gefährlicher geworden ist. Bis zu 3,5 Millionen Zivilist_innen sind aktuell von bewaffneten Angriffen, einer systematischen Blockadepolitik und dem Einsatz von Hunger als Waffe betroffen.[1] Die international beachteten dramatischen Bilder aus Ost-Ghouta[2] bei Damaskus legen davon ebenso Zeugnis ab, wie die umfangreichen Dokumentationen der UN, von Amnesty International und anderen Organisationen. Ca. die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist auf der Flucht, allein knapp zwei Millionen wurden erneut in 2017 vertrieben.[3]
Die Regierung Assads geht weiterhin unerbittlich gegen Oppositionelle und jeden vor, den sie als feindlich eingestellt charakterisiert; dazu zählen auch weiterhin Journalist_innen, Ärzt_innen oder NGO-Mitarbeiter_innen, die in Gegenden operieren, die von oppositionellen Gruppen kontrolliert werden. Amnesty International hat mehrfach die schwere anhaltende Folter in syrischen Gefängnissen dokumentiert, das ungeklärte Schicksal von über 67.000 in syrischen Regierungsgefängnissen "Verschwundenen" thematisiert, sowie zuletzt im Februar 2017 die systematische Durchführung von Hinrichtungen aufgedeckt.[4]
Bei den Menschenrechtsverletzungen der syrischen Regierung handelt es sich nach Einschätzung von Amnesty International um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch verschiedene bewaffnete oppositionelle Gruppen sind für schwere Übergriffe verantwortlich. Weder wurden bisher Opfer entschädigt, noch Täter_innen zur Rechenschaft gezogen. Nach angeblichen "Versöhnungsabkommen" und regional ausgehandelten Waffenstillständen kam und kommt es immer wieder zu Vergeltungsmaßnahmen, z.B. bewaffneten Übergriffen seitens der Regierung oder mit ihr verbündeter Milizen, willkürlichen Verhaftungen und Zwangsvertreibungen.[5]
Angesichts dieser Darstellung der Sicherheitslage in Syrien sind aktuell weder zwangsweise noch freiwillige Rückführungen in das Land vorstellbar und aus menschenrechtlicher Sicht unverantwortlich.
Amnesty International begrüßt deshalb, dass es in Berlin, Hamburg, Schleswig-Holstein und Thüringen weiterhin humanitäre Aufnahmeprogramme für Flüchtlinge aus Syrien gibt. Humanitäre Aufnahmeprogramme bieten Flüchtlingen einen legalen Zugangsweg und verhindern, dass sie sich auf die gefährliche Flucht mithilfe von Schleppern machen müssen. Amnesty International fordert die Innenminister aller anderen Bundesländer auf, diesen guten Beispielen zu folgen und ebenfalls humanitäre Aufnahmeprogramme für Flüchtlinge aus Syrien aufzulegen. Die Landesaufnahmeprogramme, die zum 31.12.2017 auslaufen, sollten unbedingt verlängert werden.
KEINE ABSCHIEBUNGEN NACH AFGHANISTAN
Seit der Unterzeichnung der "Gemeinsamen Erklärung über die Zusammenarbeit in Fragen der Migration zwischen Deutschland und Afghanistan" im Oktober 2016 führt Deutschland verstärkt abgelehnte Asylsuchende nach Afghanistan zurück. Aus Sicht von Amnesty International stellen diese Rückführungen einen Bruch des völkerrechtlichen Prinzips des Non-Refoulement dar.
Die Sicherheitslage ist im ganzen Land prekär - Menschen können überall Opfer von Kampfhandlungen, Anschlägen und Verfolgung werden.[6] Die Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte gewinnen zunehmend an Boden. Sie kontrollieren derzeit so viel Terrain wie noch nie seit dem Militäreinsatz 2001. Auch die bewaffnete Gruppe Islamischer Staat ist zunehmend in Afghanistan aktiv und führt immer häufiger brutale Angriffe in der Hauptstadt Kabul aus. Laut der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) war 2016 das blutigste Jahr seit dem Sturz der Taliban mit 11.418 getöteten und verletzten Zivilist_innen. Besonders erschreckend: ein Drittel der zivilen Opfer waren Kinder. Von Januar bis September 2017 wurden erneut 2.640 Zivilist_innen getötet und 5.379 verletzt. Die Zahl der Opfer unter Frauen hat um dreizehn Prozent zugenommen. Die meisten zivilen Opfer gab es in der Hauptstadt Kabul – dem Ort, den die Bundesregierung als "sicher" für Rückkehrer_innen betrachtet.
Aufgrund des bewaffneten Konflikts mussten dieses Jahr bereits 338.000 Menschen ihre Häuser verlassen – über tausend Menschen pro Tag. Insgesamt hat sich die Zahl der Binnenvertriebenen in den letzten drei Jahren verdoppelt und liegt bei weit über 1,5 Millionen. Binnenvertriebene leben oftmals unter elenden Bedingungen. Die afghanische Regierung kommt ihrer Verpflichtung zum Schutz der Belange von Binnenvertriebenen nicht nach - sie ist nicht willens oder nicht in der Lage, diese Menschen ausreichend zu versorgen.
Die humanitäre Notsituation wurde 2016 und 2017 noch verschärft durch die hohe Anzahl an Rückkehrern und Rückkehrerinnen aus Pakistan und Iran. Seit 2016 kehrten über 1,5 Millionen Afghan_innen aus Pakistan und dem Iran zurück oder wurden völkerrechtswidrig abgeschoben. Entgegen der Aussagen der Bundesregierung erfolgte die Rückkehr vielfach nicht freiwillig. Der Anstieg dieser Zahlen erklärt sich vielmehr aus dem prekären rechtlichen Status sowie gehäuften Drohungen und zunehmender Gewalt gegen afghanische Flüchtlinge in beiden Ländern. Nach ihrer Rückkehr leben diese Menschen oftmals unter erbärmlichen Bedingungen. Viele Afghan_innen sind zudem gezielter Verfolgung durch staatliche und/oder nicht-staatliche Akteure ausgesetzt. Der Staat bietet ihnen keinen ausreichenden Schutz. Auch Folter ist in Afghanistan weitverbreitet.
Amnesty International fordert die Innenminister und –senatoren dazu auf, sich gegenüber der Bundesregierung für einen Abschiebungsstopp von Afghan_innen einzusetzen und keine weiteren Rückführungen durchzuführen, bis sich die Lage vor Ort signifikant verbessert hat.
INNERE SICHERHEIT
SCHUTZ VOR ANGRIFFEN AUF ASYLUNTERKÜNFTE
Ein entschlossenes Vorgehen gegen rassistische Gewalttaten ist nötiger denn je: Fast zehn Angriffe täglich auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte zählte das Bundesinnenministerium 2016. Und trotz leicht rückläufiger Tendenz: Nach Angaben des BKA wurden in den ersten neun Monaten dieses Jahres 211 Angriffe auf Asylunterkünfte verübt. Bund und Länder sollten sich auf einheitliche Mindeststandards einigen, um die Unterkünfte von Geflüchteten möglichst effektiv vor Angriffen zu schützen. So haben die Rückmeldungen der Landesinnenministerien an Amnesty International ein breites und uneinheitliches Spektrum an Einzelmaßnahmen ergeben. Einige "Best-Practice"-Maßnahmen sollten als einheitliche Standards in allen Ländern verpflichtend sein: So müssen Betreiber_innen von Unterkünften genau wie Mitarbeiter_innen von privaten Sicherheitsdiensten vorab durch Sicherheitsbehörden überprüft werden. Regelmäßige Sicherheitsbesprechungen zwischen allen für die Sicherheit notwendigen Institutionen und Akteur_innen haben sich als wesentlich für die Identifizierung von Sicherheitslücken erwiesen und sollten verpflichtend sein. Hierbei ist die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in Form von z.B. ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer_innen wichtig. Besonders gefährdete Unterkünfte müssen unter besonderen Polizeischutz gestellt werden.
Amnesty fordert die Innenminister und –senatoren dazu auf, sich auf einheitliche Mindeststandards zum Schutz von Flüchtlingsunterkünften vor rassistischen Angriffen zu einigen.
KENNZEICHNUNGSPFLICHT POLIZEI
Amnesty International appelliert an alle Bundesländer eine individuelle und verpflichtende Kennzeichnungspflicht für Polizist_innen sicherzustellen. In diesem Zusammenhang bedauert Amnesty, dass sich Nordrhein-Westfalen im Oktober für einen menschenrechtlichen Rückschritt entschieden und die wenige Monate zuvor eingeführte individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamt_innen wieder abgeschafft hat. Das Argument, die Kennzeichnungspflicht begründe einen Generalverdacht gegen die Polizei, überzeugt nicht: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat gerade erst in seinem Urteil[7] vom 9. November 2017 gegen Deutschland betont, wie wichtig eine individuelle Kennzeichnung der Polizei ist - insbesondere beim Einsatz geschlossener Einheiten. Der Gerichtshof unterstreicht damit das Menschenrecht auf vollständige Untersuchung staatlichen Fehlverhaltens, das nicht an einer fehlenden Kennzeichnung von Polizeibeamt_innen scheitern darf. Weiterhin gibt es aus den acht Bundesländern mit entsprechenden Regelungen keine negativen Erfahrungen der Polizei mit der Kennzeichnungspflicht. Befürchtungen, wonach mit einer Kennzeichnung das Risiko von Angriffen oder Stalking gegenüber Polizist_innen steigen würde, sind unbegründet. Dass eine Kennzeichnungspflicht kein Risiko derartiger Angriffe mit sich bringt, bestätigte zuletzt die Berliner Landesregierung in ihrer Antwort auf eine schriftliche Anfrage im April 2017.[8]
Eine individuelle Kennzeichnung ist gerade kein Misstrauensvotum gegen die Polizei. Sie erhöht im Gegenteil die Transparenz und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Polizei. Durch eine bessere Identifizierungsmöglichkeit werden Polizist_innen bei ihrer täglichen Arbeit vor falschen Anschuldigungen geschützt - es wird leichter Einzelne in der überwiegend gut arbeitenden Polizei zu identifizieren und zur Verantwortung zu ziehen.
Amnesty International fordert die Bundesregierung sowie die Landesregierungen der verbleibenden Bundesländer ohne individuelle Kennzeichnungspflicht auf, vor dem Hintergrund dieser durchweg positiven Erfahrungen, ebenfalls eine Kennzeichnungspflicht für die jeweiligen Polizeien einzuführen. Dies betrifft die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Saarland und Hamburg.
UNABHÄNGIGE UNTERSUCHUNGSMECHANISMEN BEI FÄLLEN POLIZEILICHEN FEHLVERHALTENS
Amnesty International begrüßt, dass in einigen Bundesländern über externe Polizei-Beschwerdestellen und Polizeibeauftragte diskutiert wird und zum Beispiel in Berlin schon entsprechende Gesetzesentwürfe vorliegen. Dies sind erste Schritte in die richtige Richtung. Amnesty International erinnert aber daran, dass es weiterhin eines unabhängigen Untersuchungsmechanismus bei Fällen mutmaßlicher rechtswidriger Polizeigewalt bedarf. Die neuesten Wendungen im Fall Oury Jalloh in Sachsen-Anhalt zeigen eindrücklich auf, dass ohne derartige Mechanismen eine unabhängige, effektive und zügige Ermittlung nicht in jedem Fall gewährleistet ist. Jeder Mensch hat das Recht darauf, dass mutmaßliche Verletzungen seiner Rechte, insbesondere der körperlichen Unversehrtheit, durch staatliche Stellen schnell und unparteiisch aufgeklärt werden. Internationale Beispiele wie die britische Untersuchungskommission für Fälle von Polizeigewalt zeigen, dass unabhängige Ermittlungsstellen als Teil rechtsstaatlicher Kontrollsysteme funktionieren und nicht zu Missbrauch oder grundsätzlichem Misstrauen gegenüber der Polizei führen.
Daher fordert Amnesty International die Innenministerkonferenz auf, auf die Einführung unabhängiger Untersuchungsmechanismen für Fälle mutmaßlichen polizeilichen Fehlverhaltens hinzuwirken.
[1] https://www.theguardian.com/world/2017/oct/23/syria-shocking-images-of-…
[2] http://www.bild.de/politik/ausland/syrien-krise/hunger-in-ost-ghouta-53…
[3] https://www.nbcnews.com/news/world/least-13-million-people-inside-syria…
[4] https://www.amnesty.de/2017/2/7/syrien-tausende-tote-bei-massenhinricht…
[5] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2017/11/syria-surrender-or-starv…
[6] https://www.amnesty.org/en/documents/asa11/6866/2017/en/
[7] EGMR, Hentschel u. Stark gg. Deutschland, Urt. v. 9.11.2017, https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22docname%22:[%22hentschel%22],%22documentcollectionid2%22:[%22GRANDCHAMBER%22,%22CHAMBER%22],%22itemid%22:[%22001-178381%22]}.
[8] Vgl. schriftliche Anfrage der Abgeordneten Niklas Schrader und Hakan Tas, Drucksache 18/10780., abrufbar unter: https://kleineanfragen.de/berlin/18/10780-individuelle-kennzeichnungspflicht-fuer-polizeibeamt-innen-in-berlin-befuerchtungen-und-wirklichkeit.