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Libanon 2023
© Amnesty International
- Hintergrund
- Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht
- Recht auf Gesundheit
- Recht auf soziale Sicherheit
- Recht auf Wohnen
- Straflosigkeit
- Recht auf freie Meinungsäußerung
- Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)
- Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen
- Recht auf eine gesunde Umwelt
- Veröffentlichungen von Amnesty International
Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023
Nachdem bewaffnete palästinensische Gruppen aus dem Gazastreifen am 7. Oktober 2023 einen Angriff im Süden Israels verübten, eskalierten die grenzüberschreitenden Feindseligkeiten zwischen der im Libanon ansässigen bewaffneten Gruppe Hisbollah und der israelischen Armee. Die anhaltende Wirtschaftskrise im Libanon wirkte sich vor allem auf benachteiligte Bevölkerungsgruppen verheerend aus, weil die Regierung die Rechte der Menschen auf Gesundheit, soziale Sicherheit und Wohnraum nicht angemessen schützte. Straflosigkeit war nach wie vor weit verbreitet. Davon profitierten auch jene, die für die tödliche Explosion im Hafen von Beirut im Jahr 2020 verantwortlich waren. Die Behörden griffen verstärkt auf strafrechtliche Bestimmungen gegen Verleumdung und Beleidigung zurück, um das Recht auf freie Meinungsäußerung zu unterdrücken und Vergeltungsmaßnahmen gegen Kritiker*innen zu ergreifen. Dabei nahmen sie insbesondere Journalist*innen, Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen ins Visier. Außerdem griffen sie systematisch die Rechte von LGBTI+ an. Einige staatliche Stellen schürten eine flüchtlingsfeindliche Stimmung im Land.
Hintergrund
Die seit 2019 andauernde Wirtschaftskrise verschärfte sich 2023, ohne dass die Regierung dagegen vorging. Millionen Menschen konnten deshalb u. a. ihre Rechte auf Nahrung, Trinkwasser, Bildung und Gesundheit nicht wahrnehmen. Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks UNICEF waren für 86 Prozent der Haushalte lebensnotwendige Dinge unerschwinglich. Am 15. September 2023 kritisierte der Internationale Währungsfonds, dass die Behörden dringend notwendige Wirtschaftsreformen, die Voraussetzung für die Freigabe eines milliardenschweren Hilfspakets seien, nicht in Angriff nahmen.
Es herrschte weiterhin eine politische Pattsituation, die Entscheidungen blockierte. Die Regierung war nur geschäftsführend im Amt, und dem Parlament gelang es nicht, einen neuen Präsidenten zu wählen.
Ab dem 7. Oktober 2023 nahmen die grenzüberschreitenden Feindseligkeiten im Südlibanon stark zu. Israelischer Beschuss führte zum Tod von mindestens 20 Zivilpersonen im Libanon. Angriffe der Hisbollah und anderer im Libanon ansässiger bewaffneter Gruppen töteten in Israel mindestens vier Zivilpersonen.
Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht
Israelische Streitkräfte
Zwischen dem 10. und 16. Oktober 2023 setzte die israelische Armee bei Artillerieangriffen an der Südgrenze des Libanon weißen Phosphor ein. Amnesty International forderte, einen entsprechenden Angriff auf die Stadt Dhayra am 16. Oktober als mögliches Kriegsverbrechen zu untersuchen.
Drei libanesische Journalist*innen wurden getötet, als sie über die Feindseligkeiten im Südlibanon berichteten. Am 13. Oktober tötete israelischer Artilleriebeschuss den Reuters-Journalisten Issam Abdallah und verletzte sechs weitere Journalist*innen. Amnesty International überprüfte mehr als 100 Videos und Fotos, analysierte Munitionsreste am Tatort und befragte neun Zeug*innen. Die Untersuchung ergab, dass die Gruppe eindeutig als Journalist*innen zu erkennen war und dass die israelische Armee wusste oder hätte wissen müssen, dass es sich um Zivilpersonen handelte. Dennoch griff sie die Gruppe im Abstand von 37 Sekunden zweimal an. Amnesty International kam zu dem Schluss, dass es sich bei dem zweifachen Beschuss wahrscheinlich um einen direkten Angriff auf Zivilpersonen handelte, der als Kriegsverbrechen untersucht werden muss. Bei einem israelischen Luftangriff auf das Dorf Tair Harfa südlich von Tyros wurden am 21. November 2023 die Reporterin Farah Omar und der Kameramann Rabih Maamari des Fernsehsenders Al-Majadeen sowie ihr lokaler Mitarbeiter Hussein Akil getötet.
Recht auf Gesundheit
Die Regierung unternahm nichts, um die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf das Recht auf Gesundheit abzumildern. Nachdem sie die in den Jahren 2021 und 2022 für die meisten Medikamente geltenden Subventionen gestrichen hatte, schossen die Preise in die Höhe. Infolgedessen stieg die Nachfrage nach kostenlosen bzw. kostengünstigen Medikamenten, die öffentliche Gesundheitszentren zur Verfügung stellten. Weil jedoch gleichzeitig die staatliche Finanzierung der Gesundheitszentren gekürzt wurde, hatten viele Menschen keinen Zugang mehr zu lebenswichtigen Medikamenten. Benachteiligte Bevölkerungsgruppen waren davon unverhältnismäßig stark betroffen.
Im Juni 2023 veröffentlichte Amnesty International eine Untersuchung über Todesfälle in Gewahrsam, deren Zahl von 2019 bis 2022 stark gestiegen war. Die Untersuchung kam zu dem Schluss, dass dies auch auf einen Mangel an angemessener medizinischer Versorgung zurückzuführen war. In den Gefängnissen fehlte es an medizinischem Personal und grundlegenden Medikamenten. Weil die Regierung nicht für die Behandlung von Gefangenen in privaten und öffentlichen Krankenhäusern aufkam, wiesen Kliniken Häftlinge manchmal ab, selbst in Fällen, in denen eine Notfallbehandlung erforderlich war.
Recht auf soziale Sicherheit
Die Regierung hatte immer noch kein umfassendes Sozialsystem eingeführt und keine Schritte unternommen, ein derartiges System zu finanzieren. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung hatte keinerlei soziale Absicherung, insbesondere Menschen, die im informellen Sektor arbeiteten. Die Leistungen für Anspruchsberechtigte reichten oft nicht aus, um die Grundbedürfnisse zu decken. Ein Programm, das Bedürftige in begrenztem Umfang mit Bargeldzahlungen unterstützte, konnte zahlreichen Menschen in bitterer Not nicht helfen.
Recht auf Wohnen
Die Erdbeben, die im Februar 2023 die Türkei und Syrien erschütterten, waren auch im Libanon zu spüren. Vor allem in der Hafenstadt Tripoli lebten viele Menschen bereits zuvor in einsturzgefährdeten Gebäuden. Die Regierung sagte zu, die Stabilität gefährdeter Gebäude zu prüfen und den Bewohner*innen für drei Monate eine alternative Unterkunft zu bezahlen, hielt ihr Versprechen jedoch nicht ein. Beim Einsturz eines Gebäudes in der Stadt Mansouriyeh im Bezirk El Metn (Gouvernement Libanonberg) am 16. Oktober 2023 kamen acht Menschen ums Leben.
Straflosigkeit
Straflosigkeit stellte 2023 weiterhin ein großes Problem dar. Die Ermittlungen im Zusammenhang mit der Explosion im Beiruter Hafen im Jahr 2020 lagen seit Dezember 2021 auf Eis, weil Politiker, die zu Verhören vorgeladen oder angeklagt worden waren, Beschwerden gegen den zuständigen Richter Tarek Bitar eingereicht hatten. Am 25. Januar 2023, zwei Tage nachdem Tarek Bitar versucht hatte, die Ermittlungen wieder aufzunehmen, erhob der Generalstaatsanwalt Anklage gegen ihn, u. a. wegen "Machtergreifung", und ordnete die Freilassung aller Personen an, die im Zusammenhang mit der Explosion inhaftiert worden waren. Die Anwaltskammer von Beirut und die libanesische Richter*innenvereinigung bezeichneten die Entscheidung, alle verbliebenen Verdächtigen freizulassen, als rechtswidrig. Im März 2023 gab Australien im Namen von 38 Staaten vor dem UN-Menschenrechtsrat eine Erklärung ab, in der es hieß, die innerstaatlichen Ermittlungen zu der Explosion würden "durch systematische Blockade, Einmischung, Einschüchterung und eine politische Pattsituation" behindert.
Die Ermittlungen zur Ermordung des Publizisten und Aktivisten Lokman Slim, der am 4. Februar 2021 in seinem Auto im Südlibanon erschossen worden war, machten keine nennenswerten Fortschritte. Am 2. Februar 2023 äußerten UN-Menschenrechtsexpert*innen große Besorgnis darüber, dass die Verantwortlichen für dieses Verbrechen immer noch nicht zur Rechenschaft gezogen worden waren.
Recht auf freie Meinungsäußerung
Die Behörden griffen 2023 zunehmend auf strafrechtliche Bestimmungen gegen Verleumdung und Beleidigung zurück, um Kritik zu unterdrücken und Kritiker*innen durch Vergeltungsmaßnahmen zu schikanieren und einzuschüchtern.
Amnesty International dokumentierte die Fälle von zehn Medienschaffenden, Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen, die von den Sicherheits- und Militärbehörden zu Verhören einbestellt wurden, weil einflussreiche Personen Beleidigungs- und Verleumdungsklagen gegen sie eingereicht hatten, die sich auf kritische Äußerungen bezogen. Die Behörden klärten die Betroffenen nicht über ihre Rechte im Verfahren auf, sondern schüchterten sie vielmehr ein, indem sie ihnen mit Haft drohten und sie zwangen, Dokumente zu unterzeichnen, in denen sie sich verpflichteten, jegliche Kritik an den Beschwerdeführenden einzustellen. Bestimmungen bezüglich Verleumdung und Beleidigung waren im Strafgesetzbuch, im Gesetz über Veröffentlichungen und im Militärgesetzbuch enthalten und sahen bis zu drei Jahre Haft vor.
Am 11. Juli 2023 wurde die Journalistin Dima Sadek wegen "Verleumdung" und "Aufwiegelung" zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt, nachdem sie auf Twitter (inzwischen X) Mitglieder einer politischen Partei kritisiert hatte.
Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)
Die Behörden attackierten systematisch die Menschenrechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI+) und hetzten zu Gewalt gegen sie auf.
Im Juli 2023 legten neun Parlamentsabgeordnete einen Gesetzentwurf zur Abschaffung von Paragraf 534 des Strafgesetzbuchs vor, der "jeglichen Geschlechtsverkehr, der gegen die natürliche Ordnung verstößt" mit bis zu einem Jahr Haft und einer Geldstrafe ahndet. Daraufhin legten ein Abgeordneter und der Kulturminister im August zwei getrennte Gesetzentwürfe vor, die vorsahen, einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen und die "Förderung der Homosexualität" ausdrücklich strafbar zu machen.
Am 23. August griffen Mitglieder einer radikalen christlichen Gruppe, die sich "Soldaten Gottes" nennt, Menschen in einer Bar in Beirut an, als dort eine Drag-Veranstaltung stattfand, und drohten LGBTI+ weitere Gewalt an. Die Sicherheitskräfte trafen zwar während des Angriffs ein, nahmen jedoch niemanden fest.
Am 25. August veröffentlichten 18 Medienorganisationen eine gemeinsame Erklärung, in der sie das harte Vorgehen der Behörden gegen Freiheiten anprangerten und Angriffe auf LGBTI+ verurteilten.
Am 5. September forderte ein Bündnis zur Verteidigung der Meinungsfreiheit im Libanon die Behörden auf, geplante Anti-LGBTI-Gesetze unverzüglich zu streichen und die Angriffe auf Rechte und Freiheiten sofort einzustellen. Das Bündnis umfasst 15 libanesische und internationale Organisationen, darunter auch Amnesty International.
Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen
Gemessen an seiner Bevölkerungszahl beherbergte der Libanon weiterhin die meisten Flüchtlinge weltweit. Zu den schätzungsweise 1,5 Mio. syrischen Flüchtlingen, von denen 795.322 beim UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) registriert waren, kamen 13.715 Flüchtlinge anderer Nationalitäten. Nach Angaben des UNHCR lebten 90 Prozent der syrischen Flüchtlinge in extremer Armut.
Die flüchtlingsfeindliche Stimmung im Land verschärfte sich im ersten Halbjahr 2023. Feindselige Äußerungen nahmen in starkem Maße zu und wurden teilweise von lokalen Behörden und Politiker*innen noch geschürt.
Im April und Mai 2023 drangen Armeeangehörige in Häuser syrischer Flüchtlinge u. a. im Gouvernement Libanonberg und in den Orten Jounieh, Qob Elias sowie Bourj Hammoud ein und schoben die meisten von ihnen direkt nach Syrien ab. Ein Großteil der Betroffenen war beim UNHCR registriert oder bekannt. Einige wurden nach ihrer Rückkehr von den syrischen Behörden festgenommen oder verschwanden. Abgeschobene Flüchtlinge berichteten Amnesty International, sie hätten keine Möglichkeit gehabt, ihre Abschiebung anzufechten oder ihren Schutzstatus zu verteidigen.
Am 11. Mai forderten 20 nationale und internationale Organisationen die Behörden auf, die Kollektivabschiebungen nach Syrien zu stoppen, weil diese gegen den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement-Prinzip) verstießen. Sie appellierten außerdem an die internationale Gemeinschaft, ihre Hilfe für den Libanon zu verstärken und von den dort lebenden Flüchtlingen eine größere Anzahl als bisher auf andere Länder zu verteilen.
Im September 2023 beschlagnahmten Sicherheitskräfte bei Razzien in Flüchtlingslagern in der Bekaa-Ebene und in der Ortschaft Arsal Internetausrüstungen, Solarpaneele und Batterien.
Recht auf eine gesunde Umwelt
Die Behörden machten 2023 keine Anstalten, sich von Schwerölkraftwerken zu verabschieden, wie es der Elektrizitätsplan der Regierung aus dem Jahr 2022 vorsah. Aufgrund der häufigen Stromausfälle mussten die Menschen auf private Dieselgeneratoren zurückgreifen, die teuer und äußerst umweltschädlich waren.
Veröffentlichungen von Amnesty International
- Lebanon: Killers of activist Lokman Slim must be brought to justice, 3 February
- Lebanon: Sharp increase of deaths in custody must be a wake-up call for authorities, 7 June
- Lebanon: Unacceptable lack of justice, truth and reparation three years after Beirut blast, 3 August
- Lebanon: Attack on freedoms targets LGBTI people repressive legislation; unlawful crackdown, 5 September
- Lebanon: Evidence of Israel’s unlawful use of white phosphorus in southern Lebanon as cross-border hostilities escalate, 31 October
- Lebanon: Deadly Israeli attack on journalists must be investigated as a war crime, 7 December