Amnesty Report Kirgisistan 24. April 2024

Kirgisistan 2023

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Die Behörden gingen verstärkt gegen alle Formen von öffentlicher Kritik und die friedliche Äußerung abweichender Meinungen vor. Regierungskritische Journalist*innen und Aktivist*innen mussten mit willkürlicher Inhaftierung, ungerechtfertigter Strafverfolgung und unfairen Gerichtsverfahren rechnen. Einige Aktivist*innen wurden unter Bedingungen festgehalten, die Folter und anderer Misshandlung gleichkamen. Friedliche Demonstrierende waren mit massiven Einschränkungen konfrontiert. Gesetzesinitiativen zur Stärkung kultureller Traditionen und zur Kontrolle von NGOs schränkten die Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit unzulässig stark ein und drohten, die zuvor dynamische Zivilgesellschaft zu lähmen. Frauen und Mädchen mit Behinderungen waren in besonderem Maße von sexualisierter Gewalt bedroht und hatten keinen wirksamen Zugang zur Justiz.

Hintergrund

Im Januar 2023 unterzeichneten die Präsidenten von Kirgisistan und Usbekistan ein Abkommen zur Grenzziehung. Dieses enthielt eine umstrittene Einigung über die Übergabe des Kempir-Abad-Stausees im Süden von Kirgisistan an Usbekistan. Nach der Bekanntgabe des Vorhabens im Oktober 2022 waren 27 Personen, die friedlich ihre Sorge darüber zum Ausdruck gebracht hatten, dass die Kontrolle über eine lebenswichtige Ressource an Usbekistan übergeben werden sollte, festgenommen worden.

Mit einem umstrittenen Gesetz, das im Oktober 2023 in Kraft trat, erhielt der Präsident die Befugnis, Entscheidungen des Verfassungsgerichts aufzuheben, wenn diese sich gegen "moralische Werte und das soziale Gewissen des Volkes" richteten.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Behörden schränkten die Meinungsfreiheit und die Äußerung abweichender Meinungen 2023 noch weiter ein. Die NGO Reporter ohne Grenzen stufte Kirgisistan in ihrer Rangliste der Pressefreiheit, die 180 Länder umfasste, von Platz 72 auf Platz 122 herab.

Im Mai 2023 begann ein öffentliches Konsultationsverfahren zu der überarbeiteten Version eines 2022 vorgelegten Entwurfs für ein restriktives Mediengesetz. Zuvor hatten unabhängige Expert*innen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die UN-Sonderberichterstatterin zur Meinungsfreiheit Kritik an dem Entwurf geübt. Auch in der überarbeiteten Version waren jedoch einige problematische Bestimmungen enthalten, die der kirgisischen Regierung übermäßig viel Kontrolle bei der Medienregulierung übertrugen und die Bedingungen für die Registrierung von Medien auch auf Onlinemedien ausweiteten. Zudem war vorgesehen, die Verbreitung von "Materialien, die der Gesundheit und Moral der Bevölkerung schaden", zu verbieten. Der Entwurf war Ende 2023 noch nicht verabschiedet worden.

Die Behörden nutzten weiterhin das Gesetz über den Schutz vor falschen Informationen von 2021, um Medienanstalten weiter einzuschränken. 

Im September 2023 blockierte das Kulturministerium die Website des unabhängigen Medienunternehmens Kloop, nachdem sich das Komitee für Staatssicherheit darüber beschwert hatte, dass ein Artikel über einen Oppositionspolitiker "falsche" Beschuldigungen über von ihm erlittene Folter enthalten habe. Die Staatsanwaltschaft der Hauptstadt Bischkek hatte zudem ein Verfahren gegen Kloop angestrengt, in dem sie die Schließung des Medienunternehmens beantragte, weil die entsprechende Registrierung fehle. Zudem gab die Staatsanwaltschaft an, die Veröffentlichungen von Kloop würden "scharfe Kritik" an der Regierungspolitik enthalten und der öffentlichen Gesundheit und dem Allgemeinwohl "Schaden zufügen".

Unfaire Gerichtsverfahren

Es wurden politisch motivierte Anklagen gegen 27 Personen erhoben, nachdem diese lediglich ihre Menschenrechte wahrgenommen hatten. Sie hatten friedlich ihre Sorge darüber zum Ausdruck gebracht, dass die Kontrolle über den Kempir-Abad-Stausee an Usbekistan übergeben werden sollte, und waren deshalb 2022 festgenommen worden (siehe "Hintergrund"). Die Betroffenen waren zunächst auf Grundlage konstruierter Anklagen wegen der Organisation von Massenunruhen inhaftiert worden. Im Januar 2023 stufte das Innenministerium den Fall dann jedoch als "geheim" ein, sodass die Angeklagten nur noch eingeschränkten Zugang zu ihren eigenen Fallakten erhielten. Im April 2023 wurden sie dann willkürlich wegen versuchten gewaltsamen Sturzes der Regierung angeklagt. In der Folge drohte ihnen eine Haftstrafe von bis zu 15 Jahren. Das Verfahren begann im Juli 2023 und war zum Ende des Jahres noch anhängig.

Folter und andere Misshandlungen

Im Kempir-Abad-Fall (siehe "Unfaire Gerichtsverfahren") wurden 16 der Angeklagten unter Hausarrest gestellt. Die übrigen elf befanden sich 2023 jedoch nach wie vor in einer Untersuchungshafteinrichtung in Bischkek unter Bedingungen in Haft, die Folter und anderer Misshandlung gleichkommen könnten. Rita Karasartova, die sich seit Juni 2023 im Hausarrest befand, erklärte, dass sie acht Monate lang mit neun weiteren Frauen in einer kleinen, unbelüfteten Zelle festgehalten worden war, die sie nur für eine Stunde pro Tag verlassen durfte. Sie erhielt während dieser Zeit trotz ihres zunehmend schlechten Gesundheitszustands nicht die erforderliche medizinische Behandlung und durfte weder Besuch noch Anrufe von ihrer Familie erhalten.

Recht auf friedliche Versammlung

Das 2022 gerichtlich verhängte Pauschalverbot von Demonstrationen an sämtlichen Orten in der Innenstadt von Bischkek, von dem nur ein kleiner Park ausgenommen war, wurde bis zum 31. Dezember 2023 verlängert. Im September und Oktober verhängten Gerichte ähnliche Demonstrationsverbote für zentrale öffentliche Orte im Distrikt Chon-Alai in der Region Osch. Staatlich organisierte Kundgebungen blieben weiterhin erlaubt.

Im Januar 2023 nahm die Polizei in Bischkek 27 Unterstützer*innen der im Kempir-Abdad-Fall Angeklagten bei einer Demonstration in dem vom Versammlungsverbot ausgenommenen Park in Bischkek fest. Auch einige Journalist*innen, die über die friedliche Protestveranstaltung berichteten, wurden inhaftiert. Die meisten von ihnen kamen nach einigen Stunden ohne Anklage wieder frei. Einige Aktivist*innen wurden wegen Verstößen gegen die Vorschriften zum Abhalten friedlicher Kundgebungen mit Geldstrafen belegt.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Im Oktober 2023 sprach sich das kirgisische Parlament in erster Lesung für übermäßig restriktive Änderungen bestehender gesetzlicher Regelungen zu NGOs aus. Die Änderungen sahen u. a. vor, dass sich alle Organisationen, die Gelder aus dem Ausland erhielten, als "ausländische Agenten" registrieren müssen. Die Zivilgesellschaft sowie auch Regierungsvertreter*innen und internationale Expert*innen hatten zuvor starke Kritik an den Änderungsvorschlägen geübt. Die Änderungen würden den Behörden die Möglichkeit einräumen, die Aktivitäten von NGOs ohne Gerichtsbeschluss für sechs Monate zu suspendieren und Schließungen anzuordnen, wenn die Organisationen sich nicht als "ausländische Agenten" registriert hatten. Verstöße würden mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft. 

Diskriminierung

Frauen und Mädchen

Im Juli 2023 entschied das Verfassungsgericht, dass volljährige Bürger*innen bei der Bildung des für offizielle Belange erforderlichen Zweitnamens ein Matronym wählen dürfen – also einen Namen, der sich vom Vornamen der Mutter ableitet. Zuvor waren vom Namen des Vaters abgeleitete Patronyme vorgeschrieben gewesen. Die feministische Aktivistin und Künstlerin Altyn Kapalova hatte gegen das obligatorische Patronym geklagt, was von hochrangigen Staatsbediensteten einschließlich des Präsidenten öffentlich verurteilt worden war. Allem Anschein nach war dieser Gerichtsentscheid der Auslöser dafür, dass das Parlament ein Gesetz erließ, das es dem Präsidenten ermöglicht, verfassungsgerichtliche Entscheidungen aufzuheben (siehe "Hintergrund").

Im Oktober 2023 äußerte der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes (CRC) große Sorge hinsichtlich der anhaltend hohen Rate an geschlechtsspezifischer Gewalt, insbesondere Fälle von Missbrauch und sexualisierter Gewalt gegen Mädchen und Jungen mit Behinderungen. Der CRC wies zudem darauf hin, dass die rechtliche Definition von Vergewaltigung in Kirgisistan die Anwendung von Gewalt voraussetzte, Vergewaltigung in der Ehe nicht einschloss und nur auf weibliche Personen in einem "hilflosen Zustand" anwendbar war. 

Frauen und Mädchen mit Behinderungen waren Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt. Es war gesetzlich vorgeschrieben, dass sich Überlebende sexualisierter Gewalt einer psychologischen Beurteilung unterziehen mussten, um ihre Fähigkeit für glaubhafte Aussagen zu überprüfen.

LGBTI+ 

Im Juni 2023 verabschiedete das Parlament den Entwurf für ein Gesetz über den "Schutz von Minderjährigen vor schädlichen Informationen". Das Gesetz verbietet die Verbreitung von Informationen, die "Familienwerte" leugnen und "Respektlosigkeit gegenüber den Eltern" sowie "nicht traditionelle sexuelle Beziehungen" fördern. Die entsprechende Definition blieb jedoch sehr weit gefasst.

Der Entwurf für ein Mediengesetz (siehe "Recht auf freie Meinungsäußerung") enthielt ein Verbot der Förderung "gleichgeschlechtlicher Ehen". Die UN-Sonderberichterstatterin zur Meinungsfreiheit warnte davor, dass derartige Verbote zu Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität führen würden.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Im Oktober 2023 äußerte der CRC große Sorge angesichts der hohen Anzahl an Kindern in städtischen Gebieten, die schädlicher Luftverschmutzung ausgesetzt waren. Die Feinstaubbelastung (PM2,5-Luftverschmutzung) in Kirgisistan betrug 2023 das Achtfache des von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) festgelegten Richtwerts. Unregulierte Baumaßnahmen, die Zerstörung von Grünflächen, eine starke Abhängigkeit von Kohle und Abfallstoffen zur Wärmegewinnung sowie steigende Fahrzeugemissionen trugen dazu bei, dass Bischkek insbesondere im Winter zu den Städten mit der höchsten Luftverschmutzung weltweit gehörte. Laut der WHO waren 32 Prozent der Todesfälle durch Schlaganfall und ischämische Herzkrankheiten auf die herrschende Luftverschmutzung zurückzuführen.

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