Amnesty Report Griechenland 16. April 2020

Griechenland 2019

Eine junge Frau trägt ein Kleinkind über einen Holzsteg, der über einen Graben mit Müll gelegt wurde. Im Hintergrund sieht man auf schlammigen Boden verschiedene Zelte und weitere Personen. Es regnet und der Himmel ist düster.

Berichtszeitraum: 1. Januar bis 31. Dezember 2019

Seit Juni 2019 stuft Griechenland als neuntes Land in Europa jeden nicht konsensuellen Sex als Vergewaltigung ein. Dies war ein historischer Sieg für die Frauenrechte. Die "Hotspots" auf den Ägäischen Inseln –  von der EU finanzierte Aufnahme- und Registrierungszentren für Neuankömmlinge – waren ständig überbelegt und die dort herrschenden Bedingungen weiterhin unerträglich. Das im Oktober verabschiedete neue Asylgesetz weitete die asylbezogene Inhaftierung aus und hob bisher bestehende Schutzbestimmungen für gefährdete Gruppen auf. Berichten zufolge nahmen die Fälle der exzessiven Anwendung von Gewalt und Misshandlungen durch die Polizei zu. Die in den letzten Jahren beschlossenen Sparmaßnahmen schränkten den Zugang zur Gesundheitsversorgung weiterhin drastisch ein.

Hintergrund

Im Juli gewann die konservative Partei Neue Demokratie die Parlamentswahlen. Trotz eines Rückgangs gegenüber dem Vorjahr blieben die im Oktober registrierten Arbeitslosenquoten Griechenlands (Allgemeine Arbeitslosigkeit 16,6 %; Jugendarbeitslosigkeit 33,1 %) die höchsten in der Europäischen Union (EU).

 

Exzessive Gewalt, Folter und andere Misshandlungen

Es wurden weiterhin Vorwürfe wegen exzessiver Gewaltanwendung, Folter und anderen Misshandlungen durch Ordnungskräfte erhoben. Im letzten Quartal des Jahres 2019 nahmen die Berichte über derartige Vorfälle zu. Davon betroffen waren Personen während der Festnahme und Inhaftierung, Journalist_innen sowie Studierende, die gegen die Aufhebung eines seit Langem bestehenden Gesetzes protestierten, das der Polizei das Betreten von Universitätsgeländen verbietet. Mehrmals wurde über willkürliche Leibesvisitationen als Teil der Misshandlungen berichtet. Dies gab Anlass zu ernsthafter Besorgnis, weil diese Vorfälle nicht vereinzelt, sondern wiederholt stattfanden und angesichts der allgegenwärtigen Kultur der Straflosigkeit keine strafrechtlichen Konsequenzen nach sich zogen. 

Es gab weiterhin Verzögerungen bei den strafrechtlichen Ermittlungen und Disziplinarverfahren im Fall des LGBTI-Aktivisten und Menschenrechtsverteidigers Zak Kostopoulos, der im September 2018 nach einem gewalttätigen Angriff starb. Die anfänglichen strafrechtlichen Ermittlungen führten dazu, dass sechs Personen, darunter vier Polizeibeamte, der schweren Körperverletzung mit Todesfolge beschuldigt wurden. Bis zum Jahresende wurde jedoch noch kein Gerichtsverfahren gegen sie eingeleitet. 

Flüchtlinge und Asylsuchende

Auf dem See- oder Landweg ankommende Asylsuchende und Flüchtlinge

Ab Juli 2019 stieg die Zahl der Asylsuchenden und Flüchtlinge, die die Inseln auf dem Seeweg erreichten, auf die höchste Zuwachsrate seit 2016 an. Zwischen Januar und Oktober registrierte die Internationale Organisation für Migration (IOM) 66 Todesfälle auf der östlichen Mittelmeerroute. 

Seit 2018 und während des gesamten Jahres 2019 stieg auch die Zahl der Personen deutlich an, die die Nordgrenze Griechenlands auf dem Landweg erreichten. Dabei wurden immer wieder Vorwürfe laut, dass viele von ihnen am Fluss Evros in die Türkei zurückgedrängt worden seien. Trotz zahlreicher gegenteiliger Berichte bestritten die Behörden diese Vorwürfe. Meldungen zufolge starben im Dezember sechs Menschen auf dieser Route an Unterkühlung. 

Bis zum Jahresende 2019 belief sich die Zahl der auf dem Land- oder Seeweg eingetroffenen Personen auf 74.482.

Das im Jahr 2016 zwischen der EU und der Türkei vereinbarte Abkommen bestimmte auch weiterhin die Politik des Landes, Neuankommende in den "Hotspots" und anderen Einrichtungen auf den Inseln unterzubringen. Dort mussten die Menschen für lange Zeit und unter katastrophalen Bedingungen bleiben. Im Dezember 2019 beherbergten die Inseln mehr als 40.000 Menschen, darunter 35 % Kinder. Die "Hotspots" waren beständig stark überbelegt. Zum Jahresende wurden die Kapazitäten der "Hotspots" auf Lesbos und Samos um fast das Sechs- bzw. Elffache überschritten. Die Menschen in den Lagern waren weiterhin unhygienischen Bedingungen, medizinischer Mangelversorgung und Gewalt ausgesetzt. Dazu gehörte auch geschlechtsspezifische Gewalt. Im Oktober 2019 forderte die Menschenrechtskommissarin des Europarats, die Flüchtlinge und Asylsuchenden auf den Inseln unverzüglich auf das Festland zu verbringen und ihre Lebensbedingungen zu verbessern. 

Kinder auf der Flucht

Die Lage der geflohenen Kinder verschlechterte sich im Jahr 2019 drastisch. Im Lager Moria starben drei Kinder, und die NGO Ärzte ohne Grenzen berichtete, dass viele der Kinder in den Lagern unter psychischen Problemen litten. Hunderte von Kindern im Schulalter, die in den "Hotspots" lebten, hatten im neuen Schuljahr keinen Zugang zu formaler Bildung. Nachdem der Europäische Ausschuss für soziale Rechte des Europarats eine Kollektivbeschwerde im Rahmen der Europäischen Sozialcharta erhoben hatte, forderte er im Mai die Regierung auf, unverzüglich Maßnahmen zur Verbesserung der Situation zu ergreifen. So seien für unbegleitete Kinder in Abschiebehaft sowie Aufnahme- und Registrierungszentren "altersgerechte Unterkünfte" bereitzustellen. 

Bis 31. Dezember 2019 wurden 195 unbegleitete Kinder auf griechischen Polizeiwachen und in Hafteinrichtungen mittels "Schutzhaft" ihrer Freiheit beraubt. In mehreren Fällen erließ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vorläufige Maßnahmen und ordnete an, dass Griechenland die asylsuchenden unbegleiteten Kinder aus der Haft entlassen und sie in geeigneten Unterkünften unterbringen solle. Im Februar befand der Gerichtshof im Fall H. A. und andere gegen Griechenland, dass eine lange "Schutzhaft" von Minderjährigen unter ungeeigneten Bedingungen eine erniedrigende Behandlung gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention und eine Verletzung der Rechte der Antragsteller_innen auf Freiheit und Sicherheit darstelle. 

Neue Migrations- und Asylpolitik 

Im Juli 2019 begann die neue Regierung, in ihrer Migrationspolitik verstärkt auf Strafmaßnahmen zu setzen. Sie versprach, die Zahl der ankommenden Personen zu reduzieren, die Zahl der Rückführungen in die Türkei zu erhöhen und die Grenzkontrollen zu verstärken. Im September sagte sie zu, mehr Personen von den Inseln auf das Festland zu überführen, wofür in Korinth und Karavomylos zwei "Transitzentren" eingerichtet wurden. Die Kapazitäten und die Qualität der Einrichtungen auf dem griechischen Festland blieben jedoch weiterhin unbefriedigend. Zudem gingen die Verlegungen auf das griechische Festland nicht zügig genug voran, um die Überbelegung in den Einrichtungen auf den Inseln tatsächlich zu reduzieren. 

Im Oktober 2019 brachte ein neues Asylgesetz (Gesetz 4636/2019) grundlegende Änderungen der Asylverfahren, der Rechte und Pflichten von Asylsuchenden, der Inhaftierung und anderer damit zusammenhängender Bestimmungen. Vor der Verabschiedung des Gesetzes hatte es keinen nennenswerten Austausch mit der Zivilgesellschaft gegeben, und NGOs sahen darin einen Versuch, die Schutzstandards abzusenken und ungerechtfertigte verfahrenstechnische und materielle Hürden für Menschen zu errichten, die internationalen Schutz suchten. Die größten Bedenken bestanden u. a. hinsichtlich der Ausweitung der asylbezogenen Inhaftierung, der Zurücknahme der Schutzmaßnahmen für besonders gefährdete Gruppen und der Erstellung einer Liste "sicherer Drittländer". Nach der Annahme des Gesetzes kündigte die Regierung die Schaffung geschlossener Einrichtungen mit Ein- und Ausgangskontrollen in ganz Griechenland an. 

Zugang zu Gesundheitsversorgung und Wohnraum

Im Februar und März 2019 kündigten die Behörden die schrittweise Aufhebung der Bereitstellung von Wohnraum und finanzieller Unterstützung für anerkannte Flüchtlinge an, die in Lagern und Unterkünften lebten, die vom UN-Hochkommissar für Flüchtlinge im Rahmen des ESTIA-Programms bereitgestellt wurden. Da jedoch keine angemessenen Alternativen für materielle Unterstützung oder Integration zur Verfügung gestellt wurden, wurden viele der Flüchtlinge der Perspektivlosigkeit ausgesetzt und einige gerieten in akute Notlagen.

Ab August 2019 begann die Regierung, besetzte Häuser in Athen zu räumen. Die Betroffenen waren hauptsächlich Flüchtlingsfamilien, die ohne vorherige Konsultation, ordnungsgemäße Benachrichtigung und Bereitstellung angemessener alternativer Unterkünfte vertrieben wurden.

Nach im Juli 2019 durchgeführten Änderungen im Sozialversicherungssystem wurde Tausenden von neu angekommenen Asylsuchenden der Zugang zur unentgeltlichen Gesundheitsversorgung durch das öffentliche Gesundheitssystem verweigert. Ohne praktikable Alternativen anzubieten, stellte das Arbeitsministerium das Verfahren ein, das es Asylsuchenden ermöglicht hatte, eine Sozialversicherungsnummer ("AMKA") zu erhalten, die eine Voraussetzung für den Zugang zur Gesundheitsversorgung ist. Eine Bestimmung im neuen Asylgesetz, die eine Alternative für Asylsuchende durch eine befristete Sozialversicherungsnummer vorsieht, wurde bis zum Jahresende noch nicht umgesetzt. 

Kriminalisierung der Solidarität 

Das neue Asylgesetz schreibt vor, dass NGOs, die Flüchtlinge unterstützen, entsprechend zertifiziert sein müssen, um Zugang zu Aufnahme- und Haftzentren zu erhalten. Es bestand die Befürchtung, dass diese Bestimmung die Arbeit der NGOs in unangemessener Weise beeinträchtigen und das Recht der Asylsuchenden auf Information untergraben könnte. 

Auch Einzelpersonen wurden nach wie vor im Zusammenhang mit ihrer humanitären Arbeit mit Flüchtlingen angeklagt. Die Strafverfahren gegen die Seenotretter_innen Sarah Mardini und Séan Binder, die u. a. beschuldigt werden, die Schleusung von Flüchtlingen nach Griechenland zu unterstützen, sind noch anhängig. Alles spricht dafür, dass die gegen sie erhobenen Anklagen jeglicher Grundlage entbehren. 

 

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Im Juni 2019 schlug das Justizministerium eine Änderung der legalen Definition von Vergewaltigung im griechischen Strafgesetzbuch vor. Der Vorschlag war mit internationalen Menschenrechtsstandards unvereinbar und hätte den Betroffenen zukünftig den Zugang zu den Gerichten sogar noch weiter erschwert. Die heftigen Reaktionen darauf und der intensive Einsatz von Kampagnengruppen führten zu einem schnellen Rückzug des Ministeriums, das die vorgeschlagene Definition dahingehend änderte, dass Sex ohne Zustimmung als strafbare Vergewaltigung definiert wurde. Es war ein historischer Sieg für die Frauenrechte, als das Parlament am 5. Juni 2019 die geänderte Bestimmung annahm und Griechenland damit das neunte Land im Europäischen Wirtschaftsraum wurde, das ein auf Zustimmung beruhendes Gesetz gegen Vergewaltigung einführte.

Diskriminierung

Im April 2019 legte das Netzwerk zur Erfassung rassistischer Gewalt (RVRN) seinen Jahresbericht 2018 vor, in dem 117 Vorfälle hassmotivierter Gewalt mit mehr als 130 Opfern dokumentiert wurden, darunter 27 Vorfälle, bei denen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche (LGBTI) gezielt angegriffen wurden. 

Im November 2019 blockierte die Regierung im Parlament eine geplante Verfassungsänderung, die den Diskriminierungsschutz auch für die Kriterien Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung, Alter, Behinderung und Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit im griechischen Grundgesetz verankert hätte.

Im Dezember 2019 stellte die Staatsanwältin im Prozess gegen 69 Anhänger_innen der Partei Goldene Morgenröte den Antrag, alle Personen freizusprechen, die wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung angeklagt waren. Sie beantragte zwar die Verurteilung des Parteianhängers Giorgos Roupakias wegen der Ermordung des Sängers Pavlos Fyssas im Jahr 2013, schlug aber auch vor, die der Mittäterschaft an der Tötung Beschuldigten freizusprechen, da ihre Beteiligung nicht nachgewiesen werden könne. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts hatten die Richter_innen noch nicht über den Antrag entschieden. Anwält_innen, die die Familie von Pavlos Fyssas vertraten, brachten ihre schwerwiegenden Bedenken gegenüber dem Vorschlag zum Ausdruck. Sie wiesen auf die während des Verfahrens vorgelegten umfangreichen Beweismittel hin, die den organisierten Charakter der Straftaten deutlich gemacht hatten, die von parteinahen Gruppen verübt worden waren. Das Gerichtsurteil in dem 2015 begonnenen Prozess wird für das Jahr 2020 erwartet. 

Recht auf Gesundheit

Eine Untersuchung von Amnesty International ergab, dass die zu Beginn der Finanzkrise verhängten Sparmaßnahmen auch noch ein Jahrzehnt später den Zugang zu einer bezahlbaren Gesundheitsversorgung stark beeinträchtigten. Die im Rahmen der Untersuchung befragten Personen berichteten von vielfältigen Hindernissen, die ihnen den Zugang zur Gesundheitsversorgung erschwerten, etwa lange Wartezeiten und hohe Kosten. Die Wirtschaftskrise hat die Menschen in Griechenland schwer getroffen; Arbeitslosigkeit und Armut sind drastisch angestiegen. Auch wenn die Rettungsprogramme für Griechenland im Jahr 2018 beendet wurden, sind die Auswirkungen der Krise noch immer spürbar. Eine Analyse der verfügbaren Daten zeigt, dass sich vieles gegenüber der Zeit vor Beginn der Krise inzwischen noch verschlechtert hat. 

Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen

Trotz einiger positiver Gesetzesänderungen, die Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen betreffen, wurden ihre Rechte weiterhin massiv verletzt. Zu den eingesetzten Maßnahmen gehörten Inhaftierung, Strafverfolgung, Geldstrafen, Verfahren vor Militärgerichten, wiederholte Bestrafungen und Haftstrafen auf Bewährung.

Im Juni 2019 reduzierte die damalige Regierung in Übereinstimmung mit den Empfehlungen internationaler Menschenrechtsgremien die Dauer des vollen Ersatzdienstes von 15 auf 12 Monate. Der obligatorische Militärdienst beträgt neun Monate im Heer, in dem die große Mehrheit der Wehrpflichtigen dient. Die Regierung reduzierte auch die Dauer der drei Kategorien des verkürzten Ersatzdienstes auf fast den gleichen Zeitraum, wie er für die verkürzte Wehrpflicht gilt. 

Im Oktober führte die neue Regierung jedoch die früher geltende Dauer des Ersatzdienstes wieder ein, die Kriegsdienstverweigerer bestraft und diskriminiert.

Weitere Artikel