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Chile 2019

Proteste in Chile im Oktober 2019
© Manuel Lanzuela
- Proteste und staatliche Repression
- Straflosigkeit
- Unfaire Gerichtsverfahren
- Indigene Bevölkerungsgruppen und Umweltrechte
- Menschenrechtsverteidiger_innen
- Sexuelle und reproduktive Rechte
- Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen
- Rechte von Migrant_innen, Flüchtlingen und Asylsuchenden
- Veröffentlichungen von Amnesty International
Ende 2019 befand sich das Land in der schwersten Menschenrechtskrise seit dem Ende des Regimes von General Augusto Pinochet. Von Mitte Oktober an gab es Massendemonstrationen, deren Auslöser eine Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr war. Die zumeist friedlichen Proteste richteten sich gegen die extreme wirtschaftliche und soziale Ungleichheit im Land. Die Demonstrierenden forderten eine gerechtere Gesellschaft, in der die Rechte auf Gesundheit, Wasser, Bildung und soziale Absicherung durch den Staat garantiert werden. Die Sicherheitskräfte gingen mit extremer Repression gegen die Proteste vor und versuchten, ihr gewaltsames Vorgehen mit der Behauptung zu rechtfertigen, dies sei notwendig, um öffentliche Einrichtungen und Privateigentum vor Beschädigung und Vandalismus zu schützen.
Als Reaktion auf die Unruhen einigten sich alle im Parlament vertretenen Parteien darauf, eine neue Verfassung ausarbeiten zu lassen. Geplant war, im April 2020 ein Referendum abzuhalten, um festzustellen, ob es eine neue Verfassung geben soll und wie eine verfassunggebende Versammlung zusammengesetzt sein könnte.
Bezüglich anderer drängender Fragen, wie die Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen, die Straflosigkeit für Verbrechen aus der Zeit der Militärregierung, die Kriminalisierung der indigenen Bevölkerungsgruppe der Mapuche und mangelnder Umweltschutz, gab es 2019 keine substanziellen Fortschritte.
Proteste und staatliche Repression
Anfang 2019 verstärkte die Regierung polizeiliche Maßnahmen, wie zum Beispiel Identitätsprüfungen von Jugendlichen ab 14 Jahren, um insbesondere gegen Proteste von Schüler_innen und Studierenden vorzugehen. In diesem Zusammenhang wurden mehrere Fälle exzessiver Gewaltanwendung gemeldet. Opfer waren vor allem Schüler_innen weiterführender Schulen und Angehörige der indigenen Bevölkerungsgruppe der Mapuche.
Nach dem Ausbruch sozialer Unruhen verhängte Präsident Sebastián Piñera am 18. Oktober 2019 in einigen Landesteilen den Ausnahmezustand. Bestimmte Rechte und Freiheiten waren zehn Tage lang ausgesetzt. Zur Kontrolle der Bürger_innen und zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung wurde die Armee eingesetzt. Die bereits zuvor registrierten staatlichen Übergriffe nahmen in diesem Zeitraum deutlich zu: 23 Personen verloren ihr Leben, mindestens vier davon durch Sicherheitskräfte. Ende 2019 dauerten die Proteste an. Tausende wurden Opfer von Menschenrechtsverletzungen, für die überwiegend Angehörige der Nationalpolizei (Carabineros) verantwortlich waren.
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums erlitten in den ersten beiden Monaten der Proteste mehr als 13.000 Personen Verletzungen. Bei der Generalstaatsanwaltschaft gingen über 2.500 Beschwerden wegen Menschenrechtsverletzungen ein, darunter mehr als 1.500, die sich auf Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bezogen, sowie mehr als 100, die Ordnungskräften Sexualverbrechen vorwarfen. Die Polizei teilte mit, es sei kein Carabinero ums Leben gekommen, doch habe es in ihren Reihen mehr als 2.000 Verletzte gegeben.
Augenzeug_innen berichteten, dass Armeeangehörige bei den Demonstrationen häufig tödliche Waffen gegen die Protestierenden einsetzten. Für etwa Dreiviertel aller Fälle, in denen Personen durch Sicherheitskräfte getötet wurden, waren Armeeangehörige verantwortlich, für etwa ein Viertel Carabineros. In einem Fall wurde eine Militärwaffe verwendet, zahlreiche Demonstrierende erlitten durch den Einsatz scharfer Munition Verletzungen.
Außerdem setzten Carabineros regelmäßig und in unangemessener Weise sogenannte weniger tödliche Waffen ein. Sie feuerten mehrfach mit tödlicher Munition und verwendeten diese ungerechtfertigt, weiträumig und wahllos. Häufig zielten sie direkt auf die Köpfe der Protestierenden. Bis Dezember verzeichnete das Nationale Menschenrechtsinstitut (Instituto Nacional de Derechos Humanos) in mehr als 350 Fällen schwere Augenverletzungen, die vor allem durch Schrotkugeln verursacht worden waren.
Auch Tränengas wurde bei vielen Gelegenheiten in exzessiver und unnötiger Weise eingesetzt. Die Sicherheitskräfte richteten die Tränengasgranaten selbst gegen Krankenhäuser, Universitäten, Wohnhäuser und Schulen, so dass auch kranke Menschen und Kinder unter den Auswirkungen litten.
Von den Übergriffen der Sicherheitskräfte waren auch Unbeteiligte betroffen, ohne dass es dafür eine Rechtfertigung oder einen ersichtlichen Grund gab. Gleiches galt für Journalist_innen und Passant_innen, die die Ereignisse dokumentierten. Auch bereits festgenommene Personen erfuhren Gewalt. Einige Polizeiangehörige benutzten Fahrzeuge, um Demonstrierende zu überfahren oder versuchten dies zumindest. Ein Mann wurde von der Polizei zu Tode geprügelt, ein anderer wurde bei einer Demonstration von einem Soldaten überfahren.
Die Regierung hatte im März 2018 ein Regelwerk zur polizeilichen Überwachung von Demonstrationen erlassen. Dies war Teil der Entschädigungsmaßnahmen, die die Interamerikanische Menschenrechtskommission verfügt hatte, nachdem ein Polizist 2002 den jungen Mapuche Alex Lemún getötet hatte. Als die Proteste im Oktober begannen und die Sicherheitskräfte völkerrechtliche Verbrechen und schwere Menschenrechtsverletzungen begingen, zeigte sich jedoch, dass dieses Regelwerk nur unzureichend umgesetzt wurde.
Das Verfahren zum Tod des jungen Mapuche Camilo Catrillanca, der im November 2018 von einem Polizisten getötet worden war, sollte im November 2019 beginnen, wurde aber aus Sicherheitsgründen verschoben.
Straflosigkeit
Die Regierung revidierte den Nationalen Menschenrechtsplan, um sich von der darin enthaltenen Verpflichtung zu befreien, das Amnestiegesetz von 1978 nicht anzuwenden. Das Gesetz ermöglicht eine Amnestie für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die zwischen 1973 und 1978 verübt wurden. Die Regierung hob auch die Verpflichtung auf, eine Ständige Kommission einzurichten, um Fälle von Opfern politisch motivierter Folter zu untersuchen. Ende 2019 lagen dem Parlament mehrere Gesetzentwürfe vor, um die Straflosigkeit für in der Vergangenheit verübte Verbrechen zu beenden, ohne dass darüber eine Entscheidung gefällt worden war.
Unfaire Gerichtsverfahren
Die Behörden wandten nach wie vor ein umstrittenes Antiterrorgesetz gegen Angehörige der Mapuche an, während das Parlament weiterhin ergebnislos über eine Reform des Gesetzes diskutierte.
Der Oberste Gerichtshof hob jedoch im Fall Norín Catrimán die Entscheidung eines chilenischen Gerichts auf, das 2002 acht Mapuche wegen Terrorismus verurteilt hatte. Der Oberste Gerichtshof schloss sich damit dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte an, der 2014 entschieden hatte, dass Chile in diesem Fall unter anderem gegen das Recht auf ein ordnungsgemäßes Verfahren, die Unschuldsvermutung sowie die Grundsätze der Gleichheit vor dem Gesetz und der Nichtdiskriminierung verstoßen habe.
Die Ermittlungen gegen Carabineros, die Beweise gefälscht haben sollen, um im Zuge der "Operation Hurrikan" acht Mapuche des Terrorismus zu beschuldigen, dauerten an.
Indigene Bevölkerungsgruppen und Umweltrechte
Entwicklungsvorhaben wurden weiterhin ohne die freiwillige, vorherige und informierte Zustimmung der betroffenen indigenen Bevölkerungsgruppen fortgeführt. Indigene Gemeinschaften, die in sogenannten Opferzonen (Zonas de Sacrificio) lebten, litten weiterhin unter Umweltschäden, die auf industrielle Aktivitäten zurückzuführen waren. Die Regierung schlug Reformen des Indigenen-Gesetzes (Ley Indígena) vor und leitete einen Konsultationsprozess mit indigenen Bevölkerungsgruppen in ganz Chile ein. Dieser Prozess wurde jedoch abgebrochen, nachdem Kritik laut geworden war, dass damit keine redlichen Absichten verfolgt und die indigenen Kulturen nicht respektiert würden.
Die Regierung reagierte nicht auf den Druck von Umweltschützer_innen und weigerte sich, das Abkommen von Escazú über den Zugang zu Information, öffentlicher Beteiligung und Gerechtigkeit in Umweltangelegenheiten in Lateinamerika und der Karibik zu unterzeichnen. Unter Verweis auf die sozialen Proteste im Land sagte sie die UN-Klimakonferenz (COP25) ab, die im Dezember 2019 in Chile stattfinden sollte.
Menschenrechtsverteidiger_innen
Alberto Curamil, ein traditioneller Anführer (Lonko) der Mapuche, wurde für sein Engagement zum Schutz der Umwelt mit dem Goldman-Preis ausgezeichnet. Er hatte sich gegen Wasserkraftprojekte eingesetzt, die den Zugang der Mapuche zu einem Fluss bedrohten. Curamil konnte jedoch nicht persönlich an der Verleihung teilnehmen, die im Mai 2019 in San Francisco stattfand, weil er inhaftiert war. Er befand sich seit August 2018 in Untersuchungshaft, weil ein anonymer Zeuge den Vorwurf erhoben hatte, er sei an einem bewaffneten Raubüberfall beteiligt gewesen. Im Dezember wurde Curamil nach mehr als einem Jahr Haft freigesprochen.
Im Zuge der Proteste wurden Menschenrechtsverteidiger_innen, die Erste Hilfe leisteten, verprügelt und durch Gummigeschosse verletzt. Außerdem erhielten engagierte Personen Drohungen. Die Behörden behinderten Rechtsbeistände und medizinisches Personal mehrfach bei der Arbeit, indem sie den Zugang zu Polizeiwachen, Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen verwehrten.
Sexuelle und reproduktive Rechte
Das Gesetz aus dem Jahr 2017, das Schwangerschaftsabbrüche in Fällen von Vergewaltigung, bei Gefahr für das Leben der Mutter und bei schwerer fötaler Missbildung strafffrei stellte, wurde nur unzureichend umgesetzt, und Informationen über sexuelle und reproduktive Rechte waren kaum vorhanden. Außerdem erschwerte die Regierung den Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen, indem sie das Recht von Personen und Institutionen, den Eingriff aus "Gewissensgründen" zu verweigern, erweiterte. Dem Parlament lag ein Gesetzentwurf zur vollständigen Entkriminalisierung eines Abbruchs während der ersten zwei Schwangerschaftswochen vor, der jedoch nicht beraten wurde.
Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen
2019 trat das Gesetz über Geschlechtsidentität in Kraft, das es Personen ab 18 Jahren ermöglicht, ihren Namen und ihr Geschlecht in amtlichen Dokumenten durch einen Verwaltungsakt zu ändern. Personen zwischen 14 und 17 Jahren können diese Änderung vor Gericht beantragen. Gesetzentwürfe, die die Eheschließung, das Adoptionsrecht und die Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare betrafen, wurden im Parlament diskutiert, aber nicht verabschiedet.
Rechte von Migrant_innen, Flüchtlingen und Asylsuchenden
Der Zustrom einer erheblichen Anzahl von Migrant_innen und Geflüchteten veranlasste die Regierung, ein Verfahren einzuführen, das es Personen ohne regulären Aufenthaltsstatus erleichtern sollte, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Die "außerordentliche Regularisierung" wurde im Oktober 2019 beendet. Das Verfahren stieß auf Kritik, weil die entsprechenden Informationen nicht eindeutig waren und es in einigen Fällen zu Abschiebungen kam.
Die Einwanderungsbehörde befragte Asylsuchende willkürlich vorab und verweigerte ihnen dann die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Das Vorgehen stellte einen möglichen Verstoß gegen den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement-Prinzip) dar und war von chilenischen Gerichten in Zweifel gezogen worden.
Veröffentlichungen von Amnesty International
Chile: Deliberate policy to injure protesters points to responsibility of those in command (News story, 21 November)
Chile: Decision to cancel APEC and COP25 will not divert the international community's attention from human rights violations (News story, 31 October)