Amnesty Report Chile 24. April 2024

Chile 2023

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Die Polizei erhielt durch ein neues Gesetz mehr Schutz. Menschenrechtsverletzungen, die während der Massenproteste 2019 begangen worden waren, blieben weiterhin ungestraft. Es wurde ein Plan für die Suche nach Opfern des Verschwindenlassens vorgestellt. Flüchtlinge und Migrant*innen waren nach wie vor diskriminierenden Maßnahmen ausgesetzt und auf der Suche nach internationalem Schutz mit Hindernissen konfrontiert. Die Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI+), indigenen Bevölkerungsgruppen und Frauen wurden auch weiterhin verletzt. Chile zeigte keine klare Haltung, was neue Bergbauprojekte betraf.

Hintergrund

Am 17. Dezember 2023 stimmten die chilenischen Bürger*innen in einem Referendum mit großer Mehrheit gegen den Entwurf für eine neue Verfassung. In der Folge blieb die Verfassung von 1980 in Kraft.

Die Regierung rief in mehreren Landesteilen den Ausnahmezustand aus.

Das Land beging den 50. Jahrestag der gewaltsamen Machtergreifung durch Augusto Pinochet. Die Geschichtsleugnung hinsichtlich der in dieser Ära begangenen Menschenrechtsverletzungen nahm zu.

Die Regierung legte einen Gesetzentwurf zur Reformierung der Antiterrorgesetzgebung vor. Hinsichtlich der Reform des Antidiskriminierungsgesetzes waren keine nennenswerten Fortschritte zu verzeichnen.

Exzessive Gewaltanwendung

Im April 2023 wurde das Naín-Retamal-Gesetz verabschiedet, dessen erklärtes Ziel der Schutz der Polizei war. Mit dem Gesetz wurden die Strafen für Gewalttaten gegen die Polizei verschärft, polizeiliche Privilegien in Bezug auf die Anwendung von Gewalt in Notwehrsituationen eingeführt und der Straftatbestand der "rechtswidrigen Zwangsausübung" (apremios ilegítimos) abgeändert, der sich auf Misshandlungen im Dienst bezieht.

Hinsichtlich einer umfassenden Reform der Nationalpolizei (Carabineros) wurden keinerlei Fortschritte verzeichnet. Die Regierung legte jedoch Gesetzesvorschläge zur Regulierung des Einsatzes von Gewalt im Zusammenhang mit dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit vor. 

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Für den Großteil der Menschenrechtsverletzungen, die während der sozialen Unruhen Ende 2019 von Sicherheitskräften begangen worden waren, bestand die Straflosigkeit fort: Mit Stand vom Dezember 2023 lagen laut Generalstaatsanwaltschaft 10.142 Anzeigen vor, aber nur in 127 Fällen war Anklage erhoben worden; in 38 dieser Fälle kam es zu einer Verurteilung, 17 weitere endeten mit einem Freispruch.

Angehörige der Carabineros wurden wegen 2019 gegen Josué Maureira und Mario Acuña begangener Menschenrechtsverletzungen schuldig gesprochen. Eine Nichtigkeitsklage zugunsten des Armeeangehörigen, der Carlos Astudillo angeschossen hatte, wurde abgewiesen. In La Serena wurden vier Angehörige der Armee wegen unnötiger Anwendung von Gewalt im Zusammenhang mit den Protesten von 2019 schuldig gesprochen. Ein Gericht sprach unter dem Naín-Retamal-Gesetz fünf Angehörige der Carabineros aus der Kommune Padre Hurtado frei, denen rechtswidrige Zwangsausübung im Dienst während der Unruhen 2019 vorgeworfen worden war.

Die Staatsanwaltschaft im Norden Chiles setzte ihre Ermittlungen wegen des Verdachts auf rechtswidrige Zwangsausübung im Dienst und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen ehemalige Mitglieder der Regierung von Präsident Piñera und Angehörige des Führungsstabs der Carabineros wegen ihrer Rolle während der Unruhen 2019 fort. Der Generaldirektor der Carabineros, Ricard Yañez, kam den meisten Vorladungen zur Vernehmung als Beschuldigter nicht nach. In einem anderen Fall machte er Gebrauch von seinem Recht, die Aussage zu verweigern. Gegen den Führungsstab der Carabineros wurde keine offizielle Anklage erhoben. 

Der Runde Tisch für Wiedergutmachung (Mesa de Reparación Integral), der 2022 von der Regierung eingerichtet worden war, um politische Maßnahmen und Gesetze für Wiedergutmachung auszuarbeiten, legte seine Ergebnisse vor. Es gab jedoch keine Fortschritte hinsichtlich der Umsetzung von Wiedergutmachungsmaßnahmen für die Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen während der Unruhen.

Es wurde ein Plan zur Suche nach Personen, die unter dem Regierung von Augusto Pinochet (1973–1990) dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen waren, vorgelegt, jedoch bis Ende 2023 noch nicht umgesetzt. Die Regierung kündigte eine nationale Politik der Erinnerung und des Erbes (Política Nacional de Memoria y Patrimonio) an, um Gedenkstätten mit Bezug zur Pinochet-Zeit zu schützen. 

Es wurde ein Gesetzentwurf vorgelegt, um die Geheimhaltung der Aussagen von Folteropfern, die von der nationalen Wahrheitskommission zur Dokumentation politischer Inhaftierungen und Folterungen während der Pinochet-Ära (Valech-Kommission) gesammelt wurden, bedingt aufzuheben.

Rechte indigener Gemeinschaften

Die Regierung gab die Mitglieder der Kommission für Frieden und gegenseitiges Verständnis (Comisión Presidencial para la Paz y el Entendimiento) bekannt. Die Kommission wurde eingerichtet, um eine politische Lösung für die von der indigenen Gemeinschaft der Mapuche gestellten Forderungen zu finden.

Chile erkannte die Selk'nam als indigene Gemeinschaft mit allen dazugehörigen Rechten an.

Im Februar 2023 protestierte eine Gruppe von Angehörigen der Mapuche-Gemeinde (Lof) von El Roble-Carimallín vor einem Privatgelände in Carimallín in der Gemeinde Río Bueno. Den Mapuche zufolge handelte es sich bei dem Areal, auf dem das norwegische Unternehmen Statkraft den Bau einer Wasserkraftanlage plante, um ein heiliges und kulturell bedeutsames Gebiet. Carabineros lösten die Demonstration unter Einsatz von Tränengas und Schreckschusspistolen auf. Dabei wurden vier Angehörige der Mapuche verletzt.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Im Februar 2023 stationierte die Regierung Soldat*innen an den Grenzen zu Bolivien und Peru, um Migrant*innen und Flüchtlinge an der Einreise zu hindern. Betroffen waren davon vor allem schutzsuchende Venezolaner*innen.

Für Venezolaner*innen war es generell weiterhin schwer, Schutz zu erhalten. Zu den Hindernissen, mit denen sie konfrontiert waren, gehörte u. a. die Auflage, ihre irreguläre Einreise nach Chile zu melden, um Asyl beantragen zu können. In Verbindung mit der geringen Rate bei der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus führten diese Hindernisse dazu, dass Venezolaner*innen in Chile keinen Zugang zu Bildung, Gesundheitsleistungen und Beschäftigung hatten.

Die Generalstaatsanwaltschaft ordnete an, dass ausländische Staatsangehörige, die einer Straftat angeklagt sind, in Untersuchungshaft genommen werden können, wenn sie keinen Personalausweis besitzen.

Im Juni 2023 wurde für ausländische Staatsangehörige über 18 Jahren, die vor dem 30. Mai 2023 auf irregulärem Wege die Grenze nach Chile überquert hatten, ein biometrisches Registrierungsverfahren eingeführt. Dies sorgte für Besorgnis angesichts der restriktiven Praktiken und Vorschläge der Regierung in Bezug auf Migrant*innen und Flüchtlinge, zu denen auch die Zurückweisung an der Grenze gehörte.

Im Dezember 2023 erließ die chilenische Regierung ein Dekret zur nationalen Migrationspolitik, mit dem Maßnahmen wie eine biometrische Registrierung und die Gründung eines Abschiebungsausschusses in Kraft gesetzt wurden.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Nach einem Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte erkannte die Regierung 2023 die Verantwortung Chiles für die Verletzung der Rechte auf Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung im Fall von Sandra Pavez an. Die Lehrerin war aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert worden.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Frauen in Chile waren nach wie vor geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Der Nationalkongress hatte Ende 2023 einem Gesetzentwurf, der einen umfassenden Ansatz zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vorsah, noch nicht zugestimmt.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Das 2022 angekündigte Gesetz zur umfassenden Sexualerziehung war Ende 2023 noch nicht verabschiedet worden. 

Es wurden keinerlei Fortschritte hinsichtlich der Schaffung eines rechtlichen Rahmens zur vollständigen Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und Gewährleistung eines gleichberechtigten und barrierefreien Zugangs zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen erzielt.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Ein Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen war bis Ende 2023 nicht verabschiedet worden. Die Regierung begann jedoch mit der Ausarbeitung einer Regelung für den Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen, Umweltschützer*innen, Medienschaffenden und Justizangestellten. 

Recht auf eine gesunde Umwelt

Die Regierung lehnte das Bergbauprojekt Dominga in der Region Coquimbo wegen seiner Umweltauswirkungen ab, genehmigte aber das Bergbauprojekt Los Bronces Integrado im Großraum von Santiago trotz des Widerstands von Umweltschutzorganisationen.

Chile gab seinen Plan zur Umsetzung des Regionalen Abkommens über den Zugang zu Informationen, Teilhabe und Gerechtigkeit in Umweltangelegenheiten in Lateinamerika und der Karibik (Escazú-Abkommen) bekannt.

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