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Wo Kabine und Tribüne mahnen
Vor 50 Jahren wurden im Nationalstadion von Santiago de Chile Gegner*innen des Militärputsches inhaftiert, gefoltert und getötet. Heute ist es auch ein Ort der Erinnerung.
Aus Santiago von Ronny Blaschke
An einem Samstagmorgen schreiten 30 Menschen durch die Katakomben des Nationalstadions von Santiago de Chile. Sie sind nicht hier, um ein Fußballspiel zu besuchen, sie möchten sich mit der Geschichte ihres Landes befassen. Die hohen Wände sind voller Risse, von der Decke baumeln Kabel. Neonröhren werfen ein kaltes Licht in den Gang. Die Gruppe nimmt in einer früheren Umkleidekabine auf Holzbänken Platz. Drinnen ist es kühl, obwohl draußen fast 30 Grad herrschen.
José Méndez Ulloa tritt in die Mitte des Raums und blickt in die Gesichter der überwiegend jungen Besucher*innen. Für Ulloa ist das Nationalstadion kein Schauplatz des Vergnügens, sondern ein Ort des Überlebens. "Das Stadion war das größte Gefangenenlager in Chile", sagt er. "In Kabinen wie diesen wurden Menschen brutal verhört. Viele wurden mit Stromschlägen gefoltert. Es gab Hinrichtungen, und etliche Leichen hat man später einfach in den Fluss geworfen."
"Das Stadion war das größte Gefangenenlager in Chile"
Am 11. September 1973, vor 50 Jahren, putschte das Militär in Chile gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Es herrschten Chaos und Willkür. Die Militärjunta witterte überall Gegenwehr und brachte Tausende Menschen ins Nationalstadion. Die Arena war das größte überdachte Gebäude des Landes. Die Militärs verwandelten sie in ein Internierungslager. José Méndez Ulloa, damals 24 Jahre alt, wurde wie viele andere an seinem Arbeitsplatz festgenommen und ins Stadion verschleppt. "Einige wurden von der Polizei aus dem Schlaf gerissen und hatten so gut wie nichts an", erzählt er.
Über den Sitzbänken in der Kabine erinnern heute Fotos an Opfer der Diktatur. Ein Teilnehmer der Besuchergruppe hat Tränen in den Augen und nickt zustimmend: Er war selbst im Stadion inhaftiert. "Es ist wichtig, dass wir an diesen Ort zurückkehren und an das Leid erinnern", sagt Ulloa, "damit sich eine solche Diktatur nicht wiederholt."
Ein Stadion als Symbol für Unterdrückung? Wie konnte es soweit kommen? Nach der Wahl des Sozialisten Allende zum Präsidenten im Jahr 1970 folgten auf Reformen, Enteignungen und Streiks schnell auch Ausschreitungen und Anschläge rechtsextremer Organisationen, die im Putsch vom 11. September 1973 gipfelten. Zunächst stellte das Militär seine Menschenrechtsverletzungen zur Schau: Soldaten bombardierten den Präsidentenpalast, verbrannten Bücher von Oppositionellen, bemalten Wände mit Parolen.
Qualifikationsspiel gegen die Sowjetunion
Auch das Nationalstadion wurde in die Propaganda eingespannt, sagt die Architektin Valentina Rozas-Krause, die darüber ein Buch geschrieben hat: "Die Militärs wollten die Bevölkerung einschüchtern und die Botschaft verbreiten, dass an diesem symbolischen Ort Oppositionelle zum Schweigen gebracht werden." Mehrfach gestattete das Regime Fotograf*innen den Zutritt zum Stadion. Deren Bilder verbreiteten sich weltweit. Nun hängen sie hier in den Katakomben und zeigen, wie bewaffnete Soldaten gebeugte Häftlinge mit erhobenen Händen ins Stadion trieben.
Nach Schätzungen wurden zwischen September und November 1973 bis zu 40.000 Menschen im Stadion gefangen gehalten, viele für Tage, andere über die gesamten zwei Monate. Mindestens 41 Menschen verloren dort ihr Leben.
Doch im November 1973 wurde das Stadion für ein Fußballspiel benötigt, denn das chilenische Fußball-Nationalteam der Männer wollte sich für die WM 1974 in Deutschland qualifizieren. In der Ausscheidungsrunde traf Chile auf die Sowjetunion. Das Hinspiel endete 0:0. Das Rückspiel sollte am 21. November 1973 in Santiago stattfinden. Die Sowjetunion, die den Putsch verurteilte und nicht in einem Stadion spielen wollte, das als Internierungslager diente, verlangte eine Verlegung des Spiels. Daraufhin besichtigte eine Delegation des Weltfußballverbands Fifa das Stadion in Santiago. Gefangene berichteten später, vor der Besichtigung habe man sie mit vorgehaltener Waffe in Kellerräume getrieben. Der Schweizer Helmut Käser, damals Fifa-Generalsekretär, entschied, das Spiel könne in Santiago stattfinden. Seine Begründung: "Wir haben uns nie und können uns auch weiterhin nicht politischen Aktionen anschließen."
Widerstand gegen Pinochet
Die Sowjetunion boykottierte das Spiel. Und so stand die chilenische Mannschaft vor ein paar Tausend geladenen Gästen allein auf dem Rasen. Nach einem Schuss ins leere Tor pfiff der Schiedsrichter das Spiel ab. Bei der WM 1974 in Deutschland bestritt die chilenische Mannschaft dann ihre drei Vorrundenspiele im Olympiastadion in West-Berlin. Gleich im ersten Spiel gegen die DFB-Auswahl schmuggelten linke Gruppen Transparente ins Stadion, die gegen die Diktatur protestierten. Als Paul Breitner für Deutschland den 1:0-Siegtreffer erzielte, jubelten unter den mehr als 80.000 Zuschauer*innen auch etliche Chilen*innen, die nach dem Putsch in die Bundesrepublik geflohen waren.
Damals lebte auch der chilenische Aktivist Jorge Escalante im Exil in Berlin. Er organisierte Kundgebungen und sammelte Spenden für Freund*innen in Santiago. Als der Widerstand gegen Augusto Pinochet Mitte der 1980er Jahre zunahm, kehrte Escalante wie viele andere in seine Heimat zurück. Als Journalist berichtete er über die Rückkehr zur Demokratie und den Sieg des Christdemokraten Patricio Aylwin bei der Präsidentschaftswahl Ende 1989.
Escalante besuchte 1990 ein großes Fest im Nationalstadion von Santiago, Zehntausende Menschen feierten die Rückkehr zur Demokratie, es wurde gesungen und getanzt. Auf dem Spielfeld war eine riesige chilenische Flagge ausgebreitet. "Dieser öffentliche Akt hat dem Nationalstadion eine neue Funktion verliehen", sagt Escalante. "Aus dem Gefangenenlager wurde ein Erinnerungsort." 2003 wurde das Stadion unter Denkmalschutz gestellt. Bald darauf entstand in den Katakomben die Ausstellung.
"Mehr als 1.000 Menschen gelten immer noch als verschwunden"
"Die meisten Orte, an denen die Junta gewütet hat, wurden von Menschenrechtsgruppen aufgedeckt", sagt Escalante. Er wird bald 80 Jahre alt, doch ans Aufhören denkt er nicht. In seinem Büro im Zentrum von Santiago sind viele Akten ausgebreitet. "Mehr als 1.000 Menschen gelten immer noch als verschwunden, sie konnten von ihren Angehörigen nicht begraben werden. Wir müssen die Verbrechen weiterhin aufklären." Man nimmt heute an, dass während der Diktatur mindestens 3.100 Menschen ermordet wurden. Forschungen haben ergeben, dass mehr als 1.100 Orte als Gefangenenlager und Folterstätten genutzt wurden.
Doch gibt es nur wenig Gedenkorte, die staatlich gefördert werden und die Erinnerung wachhalten. "Viele junge Leute wissen heute gar nicht, was während der Diktatur passiert ist", sagt der Überlebende José Méndez Ulloa bei seiner Führung durch das Stadion. Die Besucher*innen nehmen draußen auf einem Teil der Tribüne Platz, der von Zäunen und bröckelndem Putz umgeben ist. Dieser kleine Abschnitt bleibt bei Fußballspielen leer, als Mahnmal für die Opfer der Diktatur. An der Wand ist ein Schriftzug angebracht: "Ein Volk ohne Erinnerung ist ein Volk ohne Zukunft."
Ronny Blaschke ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.