Amnesty Journal Ukraine 28. August 2019

Regierung hat Rechtsextreme nicht unter Kontrolle

Demonstranten mit blau-gelben Fahnen, im Vordergrund ein Vermummter.

Der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigt kein Interesse, rechtsextreme Angriffe auf Roma und zivilgesellschaftliche Akteure stärker zu verfolgen als sein Vorgänger. Es herrscht ein Klima der Straflosigkeit, das Übergriffe befördert.

Von Johannes Rüger, Kiew

Dem Sieg bei der Präsidentenwahl folgte im Juli der Erfolg im Parlament: Mit absoluter Mehrheit sitzen Abgeordnete der Partei des neuen ukrainischen Staatsoberhaupts Wolodymyr Selenskyj nun in der Volksvertretung in Kiew. Die Repräsentanten der Partei Diener des Volkes könnten dafür sorgen, dass die Schlagkraft des einstigen Fernsehkomikers steigt – und bisherige Profiteure des Klimas von Straflosigkeit um ihre Pfründe fürchten müssen. Auch bezüglich der Menschenrechte steht ­einiges auf dem Prüfstand, schließlich liegen rechtlicher Anspruch und Verfassungswirklichkeit weit auseinander.

Selenskyj steht vor großen Aufgaben, denn die Lage in der Ukraine ist hinsichtlich der Menschenrechte alles andere als gut. Neben dem andauernden Krieg im Osten des Landes und der angespannten Lage auf der von Russland besetzen Halbinsel Krim sind es vor allem die unzureichenden Reformen, die das Land nicht vorankommen lassen.

Eugene Krapyvin ist Anwalt und Experte für das Justiz- und Polizeiwesen. Er sieht den Stand der Reformen kritisch: "Egal, ob es um die Meinungsfreiheit geht oder die strafrechtliche Verfolgung von Angriffen auf Akteure der Zivilgesellschaft – die Reformen sind nicht ausreichend. Vieles ist auf den Weg gebracht worden, aber es gibt noch keine systematischen Veränderungen, die vor allem im Bereich der Exekutive nötig wären."

Genug Grund zur Sorge

Bereits im Oktober 2018 hatte Amnesty International Bun­deskanzlerin Angela Merkel aufgefordert, bei ihrem Besuch in Kiew die unzureichende Menschenrechtslage anzusprechen. Grund zur Sorge gaben schon damals Angriffe auf Aktivistinnen und Angehörige schutzbedürftiger Gruppen. Daran hat sich wenig geändert. Das Klima der Straflosigkeit, das solche Angriffe befördert, besteht unverändert.

Dies ist umso tragischer, wenn man bedenkt, dass die Regierung des im April nach fünf Jahren abgewählten Präsidenten ­Petro Poroschenko mit ehrgeizigen Plänen gestartet war. 2015 hatte er angekündigt, einen nationalen Aktionsplan für die Menschenrechte umzusetzen. Getan hat sich bisher aber nur wenig.

"Es ist ein allgemeines Problem in der Ukraine, dass Gesetze nicht umgesetzt werden", sagt Boris Zakharov vom ukrainischen Helsinki-Zentrum für Menschenrechte. Auch er bemängelt das Versagen staatlicher Stellen. "Es gibt regelmäßig Menschenrechtsverletzungen. Die Zahl der Hassverbrechen, die von rechtsextremen Gruppen verübt werden, ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen."

Die Regierung ist offenbar nicht stark genug, um sich rechtsextremen Gruppen entgegenzustellen. Das liegt vor allem da­ran, dass solche Gruppen 2014 bewaffnet wurden, um gegen die Separatisten im Osten des Landes zu kämpfen. Nun hat die Regierung sie nicht mehr vollständig unter Kontrolle.

Zakharovs Aussagen werden durch offizielle Berichte gestützt. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) in der Ukraine konstatiert Straflosigkeit in Hunderten Fällen allein zwischen ­Januar 2018 und Februar 2019. Oftmals kamen die Täter aus dem rechtsextremen Spektrum. Aufgrund der Vielzahl von Angriffen demonstrierten im September 2018 Vertreter von 70 zivilgesellschaftlichen Organisationen gegen die anhaltende Straflosigkeit. Doch trotz der Schaffung einer parlamentarischen Untersuchungskommission verlaufen die Ermittlungen in vielen ­Fällen weiter schleppend.

Neben Aktivisten sind vor allem Roma wie auch Schwule, Lesben, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechliche (LGBTI) Opfer von Gewalt. Im Jahr 2018 verübten rechtsextreme Gruppen wie S14 oder die Miliz Azov National Druzhina in mehreren Städten Angriffe auf Romasiedlungen. Im April 2019 attackierten maskierte Mitglieder von S14 eine Romasiedlung, warfen Steine und attackierten Frauen und Kinder mit Tränengas.

Im Juni zerstörten Mitglieder der Azov National Druzhina die Unterkünfte von Roma mit Äxten und Hämmern. Die Aktion war zuvor im Internet angekündigt worden und wurde von Azov National Druzhina live bei Facebook gestreamt. Ein Sprecher der Kiewer Polizei erklärte später, man habe keine Strafermittlungen eingeleitet.

Für Mitglieder der LGBTI-Community ist die Situation nicht besser. Zwar konnte im Juni 2018 die Pride-Parade in Kiew unter Polizeischutz stattfinden. Eine Vielzahl anderer Veranstaltungen zu LGBTI-Themen wurde von der Polizei jedoch nicht ausreichend geschützt; nach Störungen von Rechtsextremisten muss­ten sie abgebrochen werden.

Fehlende Untersuchungen

Hinzu kommt, dass Angriffe von der Polizei nicht oder nur unzureichend verfolgt werden. Die Ermittlungen verlaufen oft sehr langsam, Zeugen werden nicht befragt und Aussagen nicht oder fehlerhaft aufgenommen. Dies führt dazu, dass Opfer von Übergriffen diese nicht bei der Polizei anzeigen. Sie zweifeln daran, dass es zu unabhängigen und gründlichen Untersuchungen kommen wird.

Ein Grund für die unzureichende Arbeit der Polizei ist, dass es in der Ukraine keinen gesetzlichen Schutz vor Hassverbrechen gibt. Die Polizei wertet Angriffe gegen Roma oder LGBTI meist als Hooliganismus, der mit verhältnismäßig geringen Strafen geahndet wird. "Hassverbrechen sind in unserer Gesetzgebung kein Straftatbestand. Daher gibt es auch keine zuverlässigen Statistiken darüber, wie viele Hassverbrechen in der Ukraine verübt werden, und keinen rechtlichen Schutz für gefährdete Personen", sagt der Rechtsanwalt Krapyvin.

Nach Einschätzung des UNHCR wird die Durchsetzung von Menschenrechten in der Ukraine nicht möglich sein, solange das Problem der Straflosigkeit nicht angegangen wird. Die zentrale Herausforderung für die Ukraine und den neuen Präsidenten Selenskyj besteht darin, eine konsequente Durchsetzung von Menschenrechten zu gewährleisten und die Straflosigkeit zu beenden. Ob diese Aufgaben für Selenskyj Priorität haben, darf allerdings bezweifelt werden. Im Wahlkampf erwähnte er das Thema Menschenrechte praktisch nicht, ein Treffen mit ­Vertretern der Zivilgesellschaft, das fünf Tage vor der Präsidentschaftswahl stattfinden sollte, ließ er platzen.

Letztlich hängen Fortschritte davon ab, ob es Selenskyj gelingt, die nötige Autorität aufzubauen, um die angestoßenen ­Reformen, auch im Bereich Menschenrechte, durchzusetzen – gegen den Widerstand unwilliger Akteure in Politik und Verwaltung. Mit der Auflösung des Parlaments im Mai und der Ankündigung von Neuwahlen für Juli hat er einen ersten Schritt in ­diese Richtung getan.

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