Amnesty Journal Ukraine 11. Mai 2022

„Unsere Kultur wird als ‚katastrophal‘ markiert“

Ein mittelalter Mann in Hemd und Jacket sitzt an einem Tisch, beugt sich vor und stützt dabei seinen rechten Ellenbogen ab, seine Hand geht dabei zu seinem Kinn.

Der ukrainische Psychoanalytiker und Publizist Jurko Prochasko.

Was typisch für die ukrainische Kultur ist und warum auch eine kulturelle Berufung Teil der Landesverteidigung sein kann: Ein Gespräch mit dem ukrainischen Publizisten und Psychoanalytiker Jurko Prochasko.

Interview: Tanja Dückers

Sie leben in Lwiw. Findet dort derzeit noch ein Kulturbetrieb statt?

Ja, sogar mehr als sonst. Da sich so viele Menschen in der Stadt aufhalten, ergeben sich gerade einmalige und produktive kreative Konstellationen. Es entstehen unzählige spannende "Projekte". Naturgemäß stehen die allermeisten davon unter dem Kriegsstern. Zahlreiche Kulturschaffende kämpfen und können nicht ihrer üblichen Tätigkeit nachgehen. Ein Freund von mir, der Chefregisseur eines Puppentheaters, ist gleich am ersten Tag ins Feld gezogen. In seinem Theater leben jetzt Dutzende Flüchtlinge auf der Bühne. Abends werden ihre Matratzen und Habseligkeiten zur Seite geschoben und Lesungen und Diskussionen abgehalten.

Wie ist die Situation der Kulturschaffenden in der Ukraine?

Jungen und Männer zwischen 18 und 60 Jahren haben bis auf wenige Ausnahmen keine Wahl, sie müssen im Land bleiben. Bleiben zu müssen, bringt nicht viel, bleiben zu wollen, dagegen sehr viel. Fast eine halbe Million ukrainischer Menschen, Männer im kampffähigen Alter, aber auch viele Frauen, sind aus sicheren Ländern zurückgekommen, um ihr Heimatland zu verteidigen. Dableiben ist enorm wichtig, als Arzt, Helfer oder Therapeut, viele sehen jetzt auch ihre kulturelle Berufung. So sagt zum Beispiel Evgenia Lopata vom "Meridian"-Festival, die Menschen benötigen die Kultur mehr denn je. Diesen Menschen gilt meine Dankbarkeit und Bewunderung.

Wird der Angriffskrieg schon "kulturell transformiert"? Gibt es Texte, Kompositionen, Bilder über den derzeitigen Ausnahmezustand?

Nicht nur "über", sondern auch darüber hinweg und "trotz" –, alle diese Einstellungen sind momentan vertreten. Auch die Haltung: Wir lassen uns von diesem Krieg unsere Normalität, unsere Freude am Leben, Lieben, Schaffen nicht restlos wegnehmen. Wir sind auch bereit, sie aktiv zu verteidigen.

In vielen westeuropäischen Ländern wurde die ukrainische Kultur bislang kaum als eigenständig wahrgenommen, sie galt als marginal im Vergleich zur russischen. Wo sehen Sie die Gründe dafür?

Nicht in vielen – in allen. Eine große Ausnahme ist Polen, aber wird dieses Land als westeuropäisch wahrgenommen? In den meisten westlichen Ländern fehlt der Blick auf die unzähligen Gemeinsamkeiten und Überschneidungen der ukrainischen und der europäischen Kultur. Und es gibt so gut wie keine Kenntnis über die ukrainische Literatur der vergangenen 200 Jahre. Das liegt an fehlenden Übersetzungen und finanziellen Ängsten westlicher Verlage. In den vergangenen Jahren ist aber viel geschehen. Besonders in Deutschland, Österreich und der Schweiz engagieren sich Literaturübersetzer dafür, dass die ukrainische Kultur bekannter wird. Es leben und wirken dort auch immer mehr Autor_innen, Musiker_innen und Theatermenschen mit ukrainischem Hintergrund.

Hängt das gestiegene Interesse an ukrainischer Kultur mit der Orangenen Revolution zusammen, oder wuchs es erst nach der Krim-Annexion 2014?

Fest steht jedenfalls: Die Interessenwellen decken sich mit den jeweiligen ukrainischen Katastrophen. Unsere Kultur selbst wird als "katastrophal" markiert. Nach wie vor fehlt ein solider Wissenskontext, der erlauben würde, die ukrainische Kultur nicht als Ausnahmezustand, sondern als ebenbürtige europäische Kultur wahrzunehmen.

Gibt es eine spezifische Ästhetik oder Themenpräferenz, die Sie als "typisch" für die Literatur der Ukraine empfinden?

Vor allem ist das die Darstellung der spezifisch ukrainischen Lebenswelten und der zentralen Motive der ukrainischen Geschichte. Beide sind im Ausland weitgehend unbekannt. Während ein großes russisches Motiv das Imperium ist, mit seiner Größe, Pracht und seinem Ruhm, ist das ukrainische Motiv das Gegenstück dazu: die Befreiung von der ungebetenen Größe und dem aufgezwungenen Ruhm, die Emanzipation und Eigenständigkeit auch im Kleinen. Ich halte das für nicht weniger erotisch als das großrussische Narrativ. Und wir thematisieren weniger das abgrundtief Böse, das eine Generaltugend der großrussischen Literatur ist. Nicht, dass wir es nicht wahrhaben wollen – nach allem, was geschehen ist, tun wir das sehr wohl! – aber wir laben uns nicht genüsslich daran. Deshalb fehlt uns vielleicht ein wenig der Blick fürs Absurde.

Haben Sie noch Kontakte zur russischen Kulturbranche oder Austausch mit aus Russland emigrierten Kolleg_innen?

Von den russischen Kolleg_innen, die in Russland oder im Ausland leben, hat sich seit Kriegsbeginn noch kein einziger bei mir gemeldet, um Reue oder Bedauern, Scham oder Schuld, Hilfsbereitschaft oder einfach Interesse zu äußern – von Betroffenheit ganz zu schweigen. Das brauche ich auch nicht unbedingt. Wir sollten abwarten, wer als erster das Eis zu brechen vermag. Einige Schriftsteller_innen, wie Ljudmila Ulizkaja oder Viktor Schenderowitsch, Alexander Newsorow oder Boris Akunin, sind medial präsent, mit scharfen Verurteilungen und klaren, bitteren Analysen der russischen Zustände. Mit ihnen zu kooperieren, finde ich notwendig und ehrenhaft.

Wie beurteilen Sie den von Putin und seinen Anhängern immer wieder beschworenen Mythos der "Kiewer Rus", der "heiligen Dreifaltigkeit" aus "Großrussen", "Kleinrussen" und Belorussen?

Als eine immer schlechter funktionierende Ablenkung von den wirklich relevanten Themen und Thesen.

Sie haben über den "Mitteleuropäer" geschrieben. Was verstehen Sie darunter?

Mitteleuropäer ist heute jeder, dem europäische Belange nicht gleichgültig sind. Und Mitteleuropa ist überall, wo das der Fall ist. Man kann also leicht zum Wahlmitteleuropäer werden, aus Überzeugung und Leidenschaft.

Tanja Dückers ist Autorin und Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

HINTERGRUND

ZUR PERSON: Jurko Prochasko

Geboren 1970 im ostgalizischen Iwano-Frankiwsk ist Übersetzer, Essayist, Publizist und Psychoanalytiker. Er forscht am Iwan-Franko-Institut der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften und lehrt an der Universität Lwiw sowie am dortigen Psychoanalytischen Institut. Er ist Mitglied des ukrainischen PEN-Zentrums. 2011 erschien von ihm: "Der Mitteleuropäer: Abgesang auf den Nachbarn dazwischen und seine Neuerfindung", in Christoph Bartmann: Illusion der Nähe?

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