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"Ich möchte Kinderliteratur dekolonisieren"
Der Schriftsteller Lutz van Dijk betreibt ein Kinderhaus in Kapstadt. In seinen Geschichten für junge Menschen verteidigt der Deutsch-Niederländer das Recht auf Kindheit und Bildung.
Aus Kapstadt Lena Reich
Lutz van Dijk hält sein neues Kinderbuch "Damals hieß ich Rita" in den Händen. Auf dem Cover sind ein Mädchen und eine ältere Dame zu sehen, die ernst blicken. Das Bilderbuch erzählt die Geschichte der heute 81-jährigen Rozette Kats, die als Pflegekind in einer nichtjüdischen Familie die Shoah in Amsterdam überlebt hat. Ihr Bruder und ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Viele Jahrzehnte später hat Rozette Kats dem deutsch-niederländischen Autor, der lange Jahre im Anne-Frank-Haus in Amsterdam gearbeitet hat, aus ihrem Leben erzählt.
"Wenn Kinder fragen, auch nach Krieg oder Holocaust, sollten wir ehrlich und altersgemäß antworten", sagt van Dijk und legt das Buch sanft auf den weißen Bistrotisch zwischen uns. Seit 40 Jahren gibt er jenen Kindern und Jugendlichen eine Stimme, die überhört und schnell vergessen werden. In den 1980er Jahren begann er als Lehrer über seine Schüler*innen aus einem sozialen Brennpunktviertel in Hamburg zu schreiben. Deren Alltag kam nicht in Schulbüchern vor, sagt van Dijk. Dabei seien das die Geschichten, die dringend erzählt werden müssten.
Die Welt in ihrer Gänze erzählen
Van Dijk wuchs im Westberlin der 1960er Jahre in Mauernähe auf und brach, sobald er volljährig war, nach New York auf. Dort begann er mit dem Schreiben, "um die Welt in ihrer Gänze, in ihrer Schönheit und Brutalität zu verstehen". Die Leidenschaft hat sich bis heute gehalten: Mehr als 30 Bücher hat der heute 68-Jährige inzwischen veröffentlicht. Mit klarer, sensibler Sprache widmete er sich auch anderen vernachlässigten Themen wie Rechtsextremismus oder Homosexualität. Seit mehr als 20 Jahren erzählt er Geschichten aus dem südafrikanischen Kapstadt. Gemeinsam mit seinem Mann und Aktivist*innen hat er in Masiphumelele, einer der ärmsten Townships der Stadt, das Wohnhaus HOKISA gegründet für Kinder und Jugendliche, die keine Familie mehr haben.
Im HOKISA fand der 15-jährige Straßenjunge Mbu Maloni ein neues Zuhause. Von van Dijk ermutigt, schrieb er das Buch "Niemand wird mich töten" und erfüllte sich nach Jahren nackter Armut seinen größten Traum: wieder die Schule zu besuchen. Maloni schrieb Begebenheiten aus seinem Leben auf, unter anderem, wie sein bester Freund Atie bei einem Kampf auf der Straße erstochen wurde. Im Nachwort erinnert sich Maloni an Lutz van Dijk: "Als ich ihn fragte, ob er mir helfen könne, meine Geschichte zu schreiben, sagte er: 'Bist du bereit? Ein Buch zu schreiben ist harte Arbeit. Vielleicht wird man nach einer Weile müde. Vielleicht möchtest du lieber die schmerzhaften oder traurigen Erinnerungen vermeiden, die hochkommen werden. Bist du dir sicher, dass du bereit bist, hart zu arbeiten?'"
Eiscreme und Wellblechhütten
Van Dijk begegnet Kindern und Jugendlichen aus den Townships mit Respekt und Vertrauen. Viele trifft er regelmäßig. Einigen hilft er, ihre Geschichten niederzuschreiben. Er motiviert, erinnert an den roten Faden, der die Handlung zusammenhalten soll, diskutiert mit ihnen über Feinheiten der Sprache. Einige der so entstandenen Texte werden veröffentlicht – zum Beispiel als Schulbücher. "Ich bemühe mich um Geschichten aus Afrika, die mit Stereotypen und Vorurteilen brechen", sagt van Dijk in einem Café in der Nähe der Township, in der er bekannt ist wie ein bunter Hund. Seine Kinderhelden sollen kein Mitleid erregen, "eher realistisch arm" dargestellt sein, "dabei voller Ideen". Er überlegt eine Weile, dann erklärt er: "Ich möchte Kinderliteratur dekolonisieren."
Ein Beispiel dafür ist die Kindergeschichte "Thandi gibt nicht auf" von 2023. Darin sucht ein kleines Mädchen vom Dorf gemeinsam mit der Mutter den verschwundenen Vater, der zuletzt in Kapstadt an einer Straßenkreuzung Zeitungen verkauft hat. Van Dijk zeichnet ein widersprüchliches Porträt der Millionenmetropole: der ewig blaue Himmel, der Wind am Tafelberg, Eiscreme, aber auch Menschen, die um ihr tägliches Brot kämpfen und am Abend mit Sammeltaxis in unbeleuchtete Townships fahren, wo sie in Wellblechhütten auf dem Boden schlafen und Hunger und Alkohol zum Alltag gehören.
Die Kinderbuchheldin Thandi stapft tapfer durch die Wirren der Großstadt und hält an ihrem Plan fest, den Vater zu finden. Und sie wird ihn finden. In den Erzählungen van Dijks geht es fast immer um das Recht der Kinder auf eine Familie und eine Kindheit. Zur Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika wurde sein Roman "Themba" über einen HIV-positiven Jungen, der Fußballstar werden will, fürs deutsche und südafrikanische Kino verfilmt. "Ich schreibe für Kinder und Jugendliche, die von meinen Büchern vielleicht ermutigt werden, ihr eigenes Leben besser zu meistern", sagt van Dijk mit einem herzlich breiten Grinsen. Da die wenigsten Heranwachsenden in Südafrika Zugang zu eigenen Büchern haben, gehen er und seine Kolleg*innen mit den Kleinen aus dem Kinderhaus, aber auch mit Nachbarskindern einmal pro Woche in die nahe Bibliothek.
Homophobie noch immer Alltag
Auch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist van Dijk wichtig: In zahlreichen Geschichten widmet er sich der Homosexualität. "Verdammt starke Liebe" erzählte 1991 als erstes Jugendbuch weltweit die wahre Geschichte eines homosexuellen und nach Paragraph 175 verurteilten 17-jährigen Polen während des Zweiten Weltkriegs. Im August diesen Jahres wird sein autobiografischer Roman "Irgendwann die weite Welt" erscheinen, über sein Aufwachsen in Westberlin und die ersten queeren Gefühle, als es dieses Wort noch nicht gab.
Dass Homophobie und genderbasierte Gewalt noch in vielen afrikanischen Ländern zum Alltag gehören, zum Teil wieder verstärkt, ist van Dijk nur zu bewusst. Obwohl in Südafrika seit 2006 die gleichgeschlechtliche Ehe legal ist und auch in der Township Masiphumelele eine queere Jugendgruppe existiert, bleibt Homosexualität im Allgemeinen ein Tabu. Gewalt vor allem gegen lesbische Mädchen und Frauen ist allgegenwärtig. Auch van Dijk, der die Beziehung mit seinem Ehemann stets offen gelebt hat, erfährt in Kapstadt Ablehnung, etwa von fundamentalen Christ*innen. "Da wir mithelfen, wenn es bei uns Brände oder Überschwemmungen gibt, grüßen uns einige inzwischen trotzdem und sagen dann: 'Greetings to your brother!' Ich antworte dann freundlich: 'Richte ich meinem Mann gern aus!'" Wieder dieses breite Grinsen, das seine Augen zum Strahlen bringt.
Aber auch in seinem Alltag gibt es seit einigen Jahren mehr Gewalt, sagt er, und führt das auf die vermehrte extreme Armut zurück. Im Oktober hielt ihm zuletzt einer eine Waffe an die Stirn und wollte sein Handy und Bargeld. Zum Glück kam zufällig einer vorbei, der rief: "Spinnst du? Weißt du nicht, wer das ist? Das ist doch Lutz vom Kinderhaus!"
Lena Reich ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.