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"Die Regierung hat uns sowieso den Krieg erklärt"
Immer mehr kremlkritische Journalist*innen fliehen aus Russland. Aus dem Exil versuchen sie, unabhängig über den Krieg gegen die Ukraine aufzuklären.
Von Tigran Petrosyan
Für die Regierung sind sie Volksverräter*innen, ausländische Agent*innen oder Extremist*innen. Bis zu 15 Jahre Haft droht Journalist*innen in Russland, die nicht ausschließlich das Verteidigungsministerium als Informationsquelle nutzen. Neben den russischen Streitkräften, die seit dem 24. Februar 2022 einen erbarmungslosen Krieg gegen die Ukraine führen, kämpft die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadzor an der Heimatfront. Längst ist die Invasion auch ein Informationskrieg geworden.
Opfer sind vor allem die unabhängigen Medien, die ihre Stimme gegen den Krieg erheben und versuchen, der staatlichen Propaganda und Zensur etwas entgegenzusetzen. Nach Angaben der Initiative Roskomsvoboda haben die russischen Zensurbehörden seit dem 24. Februar mehr als 3.000 Websites gesperrt (Stand 9. Juni). Dazu gehören die größten und bekanntesten Medien wie Echo Moskwy, Meduza, Doschd sowie kleine lokale Medien wie das Studentenmagazin DOXA.
Website blockiert
Auch eine der letzten Bastionen des unabhängigen Journalismus, die Tageszeitung Nowaja Gaseta, ist von diesen Repressionen betroffen. Ihr Chefredakteur, der Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, wurde während einer Zugfahrt mit roter Farbe und Aceton angegriffen. Die Website wurde blockiert. Viele Mitarbeiter*innen haben Russland verlassen.
Die Journalist*innen versuchen nun im Exil, ihre Arbeit fortzusetzen. Im April hat ein Team der Nowaja Gaseta unter dem neuen Namen Nowaja Gaseta Europe einen Ableger in der lettischen Hauptstadt Riga gegründet. Die Beiträge erscheinen zumeist auf Russisch, einige richten sich außerdem an ein englischsprachiges Publikum. Auch der Chefredakteur der Exil-Ausgabe Kirill Martynov hat im Baltikum jüngst Zuflucht gefunden. "Wir ändern weder unsere Politik, noch wollen wir uns von der Nowaja Gaseta abgrenzen. Wir trennen die beiden Medien nur voneinander, damit die russischen Behörden nicht aufgrund dessen, was wir jetzt aus dem Ausland berichten, Regressansprüche an die Nowaja Gaseta in Russland stellen", sagt Martynov.
Um mehr Menschen in Russland zu erreichen, orientiert sich Martynov an den 1980er Jahren. Der Journalist will die bewährten Traditionen aus Sowjetzeiten wiederbeleben, mit denen man damals die Zensur umging. "Vor allem nachts konnten die Sowjetbürger*innen damals Radiokanäle insgeheim und leise hören", erzählt er. Für die Zukunft denkt Martynov auch an Fernsehsender mit Satellitenempfang, denn "der Kampf mit der Kreml-Propaganda wird leider sehr lange dauern".
Doch Roskomnadzor hat auch die neue Website von Nowaja Gaseta Europe gesperrt. Martynovs Exilredaktion will dennoch jede Möglichkeit nutzen, um der russischen Bevölkerung Informationen zu liefern. Dazu gehören auch Piraten-Websites, die in Russland nach wie vor populär sind. Auf möglichst vielen dieser Websites ohne staatliche Lizenz, auf denen man Filme sehen, Bücher lesen sowie Inhalte kostenlos herunterladen kann, will er die politischen Inhalte der Nowaja Gaseta Europe platzieren lassen.
Das Baltikum als russisches Exil
"Wir wollen die internationale Öffentlichkeit erreichen und vor allem den deutschsprachigen Raum", sagt Martynov. Berlin könnte mit der Einrichtung eines weiteren Redaktionsbüros die nächste Station sein. Die erste Kooperation steht bereits. Auf Initiative der taz-Panter-Stiftung hat die Tageszeitung taz eine Sonderbeilage mit Texten der Nowaja Gaseta Europe zum 9. Mai herausgebracht: auf Deutsch, Russisch und Ukrainisch.*
Das Baltikum war immer schon ein Ort russischen Exils. Auch das Onlinemedium Meduza hat nun seinen Hauptsitz in Riga. Und immer mehr Journalist*innen verlassen Russland wegen der drohenden Repressionen. Das Visaproblem im Schengen-Raum bleibt für sie dabei die größte Herausforderung. Viele russische Journalist*innen verfügen nur über ein Touristenvisum, das maximal für 90 Tage gilt.
Es gibt auch kremlkritische Medien, die versuchen, Russ*innen aus Georgien, Armenien und der Türkei zu erreichen. Tichon Dsjadko, der Chefredakteur von Doschd, ist gemeinsam mit seiner Kollegin und Ehefrau Jekaterina Kotrikadse in die georgische Hauptstadt Tiflis geflohen. Die beiden Fernsehjournalist*innen senden nun Streams auf YouTube. Im Gegensatz zu anderen Online-Netzwerken wie Instagram, Facebook und Twitter ist YouTube in Russland noch zugänglich. Die Popularität der Streams nimmt im russischsprachigen Raum der postsowjetischen Länder zu. Das Duo von Doschd berichtet über Repressionen, Menschenrechtsverletzungen in Russland, zeigt die Kriegsbilder aus der Ukraine und antirussische Protestaktionen in Georgien.
Finanzierung große Herausforderung
Als der Krieg in der Ukraine begann, standen auch die Journalist*innen der Internetzeitung Bumaga vor einem Problem, weil sie sich der russischen Propaganda entgegenstellten. Bumaga ist ein Regionalmedium im Raum Sankt Petersburg. Sein Ruf reicht jedoch über die Stadt hinaus, die neben großen Antiregierungskundgebungen für ihre alternative Kulturszene bekannt ist. Tatjana Iwanowa gründete 2012 gemeinsam mit dem Medienunternehmer Kirill Artemenko die Internetzeitung. Heute leitet sie die Redaktion mit 45 Mitarbeiter*innen.
Ihr Team ist derzeit weit verstreut. "Es ist eine vorübergehende Lösung", sagt Iwanowa. Sie selbst sitzt mit einigen Kolleg*innen in der Türkei. Andere haben Schutz in Georgien und im Baltikum gefunden. Doch die Korrespondent*innen von Bumaga berichten immer noch aus St. Petersburg – trotz der Gefahr, inhaftiert zu werden. So arbeitete zum Beispiel die Künstlerin und Videomacherin Sasha Skotschilenko auch für Bumaga; nun drohen ihr bis zu zehn Jahre Haft.
Neben der Visafrage ist die Finanzierung eine der großen Herausforderungen für die russischen Exilmedien. Fundraising klappt derzeit bei fast allen gut. Auch Bumaga profitiert davon. Die Internetzeitung organisiert zusätzlich Veranstaltungen und Festivals, bietet Stadtführungen in St. Petersburg und selbst Kampfkunsttraining an. Wer in den "Friendsclub" bei Telegram eintreten und die Mailingliste abonnieren will, muss umgerechnet rund fünf Euro im Monat zahlen. "Jeder Zehnte zahlt", sagt Iwanowa.
Wie andere Kolleg*innen hat die Journalistin einen eigenen YouTube- und Telegram-Kanal gegründet, sie macht Podcasts, schreibt Newsletter und E-Mails und informiert so über das Geschehen in Russland und der Ukraine. Ihre Seiten werden von Roskomnadzor immer wieder blockiert. Doch lassen sich die Blockaden umgehen. Als die Behörde paperpaper.ru, die Website von Bumaga blockierte, brachte die Redaktion ihre Website vollständig unter einer anderen Domain heraus: paperpaper.online. Seitdem auch diese Seite blockiert wurde, lässt die Redaktion ihre Website unter paperpaper.site aufrufen. "Wir spielen mit den Behörden Katz und Maus – solange es geht", sagt Iwanowa. "Solange wir eine Möglichkeit finden, werden wir unsere Stimmen gegen Lüge und Propaganda erheben. Unsere eigene Regierung hat uns sowieso den Krieg erklärt. Wir müssen kämpfen. Es gibt keinen Weg zurück."
Tigran Petrosyan ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder. * Transparenzhinweis: Der Autor hat das Projekt geleitet.