Amnesty Journal Bangladesch 26. November 2024

Schlafzerstörende Geräusche, Kinder am Strand

Das Bild zeigt eine Person, wie sie vor einem komplett zerstörten Haus sitzt

Eine Angehörige der muslimischen Minderheit der Rohingya sitzt vor ihrem durch den Zyklon Mocha zerstörten Haus im Flüchtlingscamp "Ohn Taw Chay" in Myanmar. Der Zyklon forderte zahlreiche Todesopfer (16. Mai 2023).

In Bangladesch befindet sich das größte Flüchtlingscamp der Welt: Eine Million Rohingya, die aus Myanmar vertrieben wurden, leben dort auf engstem Raum. Kulturschaffende machen den Alltag erträglicher – und global sichtbar.

Von Felix Lill

Das wohl bekannteste Gedicht von Ro Anamul Hasan beginnt mit den Zeilen: "Unter diesem Planenschutz; wohne ich wie Ameisen im Loch; verbringe meinen ­Alltag; durch die Sehnsucht nach Heim und Heimat; wird meine dunkle Nacht nie zu Tageslicht." An anderen Stellen des 39 Zeilen langen Gedichts geht es um das vergessene Gefühl zu lächeln, Angst, lange Warteschlangen vor Toiletten und vage gewordene Hoffnungen. Der Titel lautet: "Mein Flüchtlingsleben".

Der 26-jährige Ro Anamul Hasan gehört zur überwiegend muslimischen Ethnie der Rohingya, kam in Myanmar zur Welt und wuchs dort auf. Seit Menschen wie er ab 2017 aus ihrer Heimat vertrieben wurden, lebt er im westlich gelegenen Nachbarland Bangladesch. "Ich will unser Leben hier dokumentieren", sagt der junge Mann, der sich längst einen ­Namen als Dichter des Flüchtlingscamps gemacht hat. "Hier passieren so viele Dinge, die einfach festgehalten werden müssen."

Gefährlicher Alltag im Camp

Wie fast eine Million weiterer Rohingya wohnt Ro Anamul Hasan in Cox’s ­Bazar, einem Bezirk im Südosten Bang­ladeschs, der durch die Ansammlung mehrerer Siedlungen zum wohl größten Flüchtlingscamp der Welt geworden ist. Und wie schon die ersten Zeilen in "Mein Flüchtlingsleben" andeuten, ist der Alltag dort so prekär und gefährlich wie in kaum einem anderen Camp. Vielen Bewohner*innen mangelt es nicht nur an Arbeitsmöglichkeiten und Privatsphäre, sondern auch an Essen, sauberem Wasser und Sicherheit. Ihre Lage ist in den vergangenen Jahren eher noch ernster geworden. 

Die Diskriminierung der Rohingya in Myanmar begann bereits vor Jahrzehnten. Das Land wurde rund ein halbes Jahrhundert lang von einer buddhistisch-nationalistisch ausgerichteten Militärjunta regiert; 1982 machte ein Gesetz die Rohingya praktisch zu Staatenlosen. Der Zugang zu Krankenhäusern, Bildungsinstitutionen und sogar zu Straßen wurde ­ihnen immer weiter erschwert.

Ab 2017 begann dann eine Säuberungsaktion, die von den USA und UN-Vertreter*innen als Genozid eingestuft wird: Obwohl Myanmar einige Jahre zuvor offiziell eine Demokratie geworden war, vertrieb das Militär eine Dreiviertelmillion Rohingya. In Den Haag läuft seither ein Völkermordprozess. Und in Bang­ladesch, das mit internationalem Geld unterstützt wurde, damit es die Geflüchteten aufnimmt, haben die mittlerweile weit über 900.000 Rohingya kaum Perspektiven. An eine Rückkehr in ihre Heimat ist nicht zu denken.

Ein tiefes Zeichen der Seele;
das ist der Ton, der herauskommt;
aus dem Schrei einer Witwe; die ihren Mann verloren hat;
durch die Hände der Kriegsmonster.

Ro Anamul
Hasan
aus seinem Gedicht "Schlafzerstörende Geräusche"
Ein junger Mann in Flip-Flops, Jeans Polo-Shirt steht vor einem sehr dünnen Baum im Freien, er hält sich an diesem Baum fest, seinen linken Arm hat er in die linke Hüfte gestützt; es ist der Dichter Ro Anamul Hasan im Flüchtlingscamp Cox’s Bazar in Bangladesch.

Kaum Zukunftsperspektiven: Der Dichter Ro Anamul Hasan in Cox’s Bazar

Ro Anamul Hasan hat seine Flucht noch genau vor Augen: "Ende August 2017 arbeitete ich im Gesundheitsbereich in der Malariaprävention, als ich eines Tages von Militärs einfach niedergeprügelt wurde." Als er daraufhin ein Krankenhaus aufsuchte, wurde er enttäuscht: "Ein Arzt sagte mir, ich könne mir doch in Bangladesch eine Behandlung suchen." In den Medien Myanmars werden Rohingya wie Hasan als "Bengalen" bezeichnet. "Das kränkt uns, denn wir sind doch aus Myanmar!"

Es zeigte sich immer deutlicher, dass diejenigen, die im weitgehend buddhistischen Myanmar Einfluss hatten, die überwiegend muslimischen Rohingya nicht dahaben wollten. "Auf dem Weg in mein Heimatdorf hörte ich Schüsse. Überall. Dann ergriff ich mit meinen Eltern und Geschwistern die Flucht." Nach mehreren Stunden Fußmarsch erreichte die Familie die Grenze zu Bangladesch. Und irgendwann dann Cox’s Bazar. Doch die Flucht führte vom Regen in die Traufe. 

Primtive Hütten, überlaufende Latrinen

Inzwischen hat der schmächtige junge Mann, der schon als Jugendlicher Poesie schrieb, als man ihm in Myanmar das Studium verwehrte, bereits mehrere Gedichtbände veröffentlicht. Die Nichtregierungsorganisation Fortify Rights, die auch Kontakte zu ausländischen Verlagen herstellt, unterstützt Hasan.

Seine Gedichte thematisieren, dass im Camp Infektionskrankheiten ausbrechen, weil Latrinen überlaufen, und dass die Bambushütten oft so primitiv gebaut sind, dass sie Regenfällen oder Erdrutschen nicht standhalten. Das Gedicht "Schlafzerstörende Geräusche" erzählt von einer typischen Nacht: "Ein tiefes Zeichen der Seele; das ist der Ton, der herauskommt; aus dem Schrei einer Witwe; die ihren Mann verloren hat; durch die Hände der Kriegsmonster." 

Azimul Hasson nutzt nicht Wörter, sondern Bilder, um den schwierigen Alltag im Camp zu dokumentieren. Von Fortify Rights unterstützt ließ sich der 21-Jährige zum Fotografen ausbilden. "Ich fotografiere alles, was sich sonst niemand vorstellen könnte." Seine Bilder zeigen zum Beispiel einen Mann, der eine Stange auf den Schultern trägt, an der Gaskanister hängen, wie dies in Europa vor Jahrhunderten bei Wasserträgern üblich war. Oder die Hilflosigkeit eines Mädchen, das in der Asche nach Resten seines Zuhauses sucht, nachdem ein Feuer die Siedlung zerstört hat.

Tote durch Bandenkriminalität

Hasson zeigt jedoch nicht nur die erschütternden Seiten. Er nimmt auch Fußballturniere auf, bei denen die Hänge, die in der Regenzeit häufig abrutschen, voll sind mit jubelnden Zuschauer*innen. Andere Bilder zeigen Kinder am Strand, die sich zum Fischen aus dem Camp geschlichen haben und nun im Sonnenuntergang spielen. Hassons Fotografien, die er auf Instagram veröffentlicht, werden gelegentlich in ausländischen Medien ­publiziert und in Ausstellungen im Ausland gezeigt. 

Ein junger Mann mit Kurzhaarschnitt trägt Polo-Shirt und Wickelrock, auf seinen Schultern eine Holzlatte, an deren beiden Enden große Gasflaschen aufgehängt sind.

Der Fotograf Azimul Hasson dokumentiert den prekären Alltag: Ein Campbewohner trägt Gasflaschen

Doch muss er aufpassen, was er abbildet. "Eine französische Journalistin, die ins Camp kam, hat mir mal eine Spiegelreflexkamera geschenkt", sagt der junge Mann. "Aber ich kann sie leider nicht benutzen. Mit so einer großen Kamera würde die lokale Sicherheitspatrouille sofort sehen, dass ich dokumentarische Bilder mache. Und dann würde ich Probleme ­bekommen." Deshalb fotografiert Hasson immer nur mit seinem Smartphone.

Seine Arbeit ist auch aus anderen Gründen gefährlich. Denn das Camp von Cox’s Bazar ist ein heißes Pflaster geworden. Der Großteil der Bewohner*innen lebt dort seit sieben Jahren, ist aber vom ­bangladeschischen Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Überfälle und Schießereien ­haben ­zugenommen. In den vergangenen zwei Jahren starben Dutzende Menschen durch Bandenkriminalität. "In der Gesellschaft hier haben die Rohingya oft den Ruf, gewalttätig und kriminell zu sein", sagt Yusuf Saadat vom unabhängigen Thinktank Centre for Policy Dialogue in Dhaka. "Die Politik sieht sie immer mehr als Last." Gern würde Bangladeschs Regierung sie wieder loswerden.

"Ich wünsche mir nichts mehr, als nach Hause zurückzukehren"

Doch in Myanmar herrscht nach einem erneuten Militärputsch im Februar 2021 einmal mehr Chaos, das mittlerweile zu einem Bürgerkrieg geführt hat. Eine Rückkehr der Rohingya ist seither noch unwahrscheinlicher geworden. Wenn man Azimul Hasson nach der Zukunft fragt, sagt er zwar wie alle: "Ich wünsche mir nichts mehr, als nach Hause zurückzukehren." Allerdings zuckt er dabei mit den Schultern. Doch gibt es für ihn zumindest einen Trost: "Hier im Camp ist ein Traum von mir wahr geworden. Ich kann mich jetzt als Fotograf verwirklichen!" Und ähnlich wie der Dichter Ro Anamul Hasan erreicht Azimul Hasson mit seiner Arbeit durchaus ein großes ­Publikum. "Nicht nur im Camp selbst freuen sich die Menschen über die Fotos. Ich werde mittlerweile auch von Journalisten aus Myanmar kontaktiert, die der Demokratiebewegung ­nahestehen."

Der Fotograf glaubt, dass die Rohingya nach Myanmar zurückkehren können, falls es den demokratisch orientierten Gruppen im Land gelingt, die Militärjunta abzusetzen. Das hofft auch Ro Anamul Hasan: "Unter den Militärs leiden doch alle Menschen in Myanmar. Wir sollten alle zusammenhalten, gegen das Militär. Die Demokratiebewegung hat immerhin versprochen, uns Rohingya schützen zu wollen." Der Dichter will es glauben. Um einen kleinen Beitrag zu leisten, schreibt Ro Anamul Hasan seine Gedichte aus dem Flüchtlingscamp nicht nur auf Rohingyalisch, sondern auch auf Birmanisch – der Sprache der ethnischen Mehrheit in Myanmar.

Felix Lill ist freier Südostasien-Korrespondent. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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