Amnesty Journal Mexiko 11. September 2020

Ausgegrenzt

Menschen sitzen in einem Bus und tragen Mundnasenschutzmasken.

Im Job gefährdet: Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem Weg in eine Maquila

Die Zwillingsstädte El Paso in den USA und Ciudad Juárez in Mexiko sind eng miteinander verbunden. Auf mexikanischer Seite sterben deutlich mehr Menschen an ­Covid-19.

Von Kathrin Zeiske (Text) und Carolina Rosas Heimpel (Fotos)

Yanet* fächelt ihrem Neugeborenen Luft zu. In der mexikanischen Grenzstadt flimmert der Asphalt. In den Sommermonaten herrscht in dem Wüstengebiet kons­tant eine Temperatur von 40 Grad. "Was für eine Hitze", klagt die junge Frau mit den blondgefärbten Haaren. In ihrer Heimatstadt Havanna auf Kuba macht eine Meeresbrise die Temperatur erträglicher. Doch Yanet hat die Karibikinsel vor einigen Jahren verlassen, um gemeinsam mit ihrem Freund ein neues Leben in den Vereinigten Staaten zu beginnen. Die Flucht war abenteuerlich, doch nach ein paar Wochen waren sie hierher gelangt und konnten die rostbraunen Stahlstreben an der Südgrenze der USA sehen.

"Eigentlich genau hier", bemerkt Yanet. Hinter dem Einwohnermeldeamt von Ciudad Juárez liegt der Grenzstreifen: ein Niemandsland mit Zäunen, die mit Natodraht gesichert sind, der Betonkanal eines schmalen Flusses, der hier Río Bravo und jenseits der Grenze Río Grande heißt, und schließlich die Mauer. Diese stellte sich für das Paar als unüberwindbar heraus. Nun sind sie schon so lange hier, dass sie ein Baby in den Armen  halten – ihr in Mexiko geborenes Kind, dessen Geburt sie nun registrieren lassen.

"Corona hat Trump die Möglichkeit gegeben, das Recht auf Asyl vollkommen auszusetzen", beklagt Rosa Mani Arias, die das "Hotel Flamingo" leitet, eine Quarantänestation für Geflüchtete. Schon im Januar 2019 zwang die US-Regierung Mexiko all jene vorübergehend aufzunehmen, die in den USA einen Asylantrag gestellt haben. Zivilgesellschaftliche Initiativen stampften daraufhin Herbergen aus dem Boden. "So wurde eine humanitäre Krise an der Grenze verhindert." Doch dann kam Corona.

Eine junge Frau im Arztkittel mit Brille und weißem Mundschutz sitzt vor einem Laptop in einem Büro.

"Hotel Flamingo": Direktorin Rosa Mani Arias in der Quarantänestation für Migrantinnen und Migranten

 

Am 20. März wurde der Grenzverkehr zwischen den USA und Mexiko weitgehend stillgelegt. Im Mai verschob die Regierung Trump alle Asylangelegenheiten auf die Zeit nach Corona. Seit 1948 ist das Asylrecht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verankert, von einer Verschiebung steht dort nichts.

Und doch wurden Gerichtstermine für Asylbewerber abgesagt, Neuankömmlinge an der Grenze bekamen erst gar keine. Und immer mehr Menschen, die sich notdürftig im Transit in Ciudad Juárez eingerichtet hatten, verloren durch den Lockdown ihre Jobs und konnten ihre Miete nicht mehr bezahlen. "Wieder war es die Zivilgesellschaft, die reagierte und diese Quarantänestation einrichtete, damit die Menschen nicht auf der Straße stehen", berichtet Rosa Mani Arias. Das Projekt wird von UN-Organisationen wie der Internationalen Organisation für Migration und Unicef unterstützt.

Quarantäne im Hotel Flamingo

Die Sozialarbeiterin aus Puebla hat vieles hinter sich. Sie lebte mit ihrem Mann lange ohne Papiere in den USA, bevor sie nach Ciudad Juárez abgeschoben wurde. "Ich habe hier viel Unterstützung erhalten, die ich jetzt zurückgeben möchte." Anfang Mai hat sie ihre Wohnung gekündigt, den Hund bei einer Freundin untergebracht. Seither lebt und arbeitet sie im Hotel Flamingo. Fast das gesamte Team dort hat Migrations- und Fluchterfahrungen gemacht. Kubanische und venezolanische Ärztinnen behandeln die Gäste nicht nur medizinisch, sondern zeigen auch Solidarität und Verständnis.

Weißgetünchte Zimmer gehen von zwei miteinander verbundenen Innenhöfen ab. Vor jeder Tür ist eine kleine Terrasse mit Absperrgittern markiert. Zwei Wochen lang dürfen Klein­familien und Bezugspersonen die ihnen zugewiesenen Räume nicht verlassen. Essen wird gereicht, eine psychologische Betreuung gibt es per Zimmertelefon. Das Areal im zweiten Stock ist Covid-19-Infizierten vorbehalten. Die diensthabende Ärztin bleibt den ganzen Tag dort, um sich dann vollständig zu desinfizieren und umzuziehen. Im Astronautenanzug schwebt sie hinter der Brüstung entlang.

Bianqui* und ihr kleiner Sohn haben ihre wenigen Habseligkeiten zusammengepackt, um für die kommenden Monate in eine Herberge umzuziehen. Als sie unter Applaus ihr Gesundheitszertifikat bekommt und das Team mit Sicherheitsabstand und Atemmaske ein Foto macht, stehen der jungen Frau aus Guatemala-Stadt Tränen in den Augen. "Eigentlich will ich gar nicht gehen", sagt sie leise. Nach den anstrengenden Wochen der Reise durch Mexiko, auf der sie in überfüllten Schlafsälen, klandestinen Häusern oder mitten in der Wildnis schlief und Hunger, Angst und Verzweiflung durchstand, erschien ihr das Hotelzimmer wie eine Oase.

"Ich konnte endlich zur Ruhe kommen", erklärt Bianqui. Sie weiß, dass eine Rückkehr nach Guatemala für sie unmöglich ist. Dass sie dort im Bannkreis der Jugendbanden, die die Städte ­beherrschen, wieder in Lebensgefahr schweben würde. Wie ihr geht es den meisten Geflüchteten. In Herkunftsländern wie Honduras und El Salvador herrschen strikte Ausgangssperren, Polizei und Militär treten auf den Straße nicht als Beschützer, sondern als Aggressoren auf. Doch die Hoffnung auf Asyl in den USA rückt für die rund 6.500 Menschen, die seit Monaten in Ciudad Juárez ausharren, in immer weitere Ferne. Mitte Juli verkündete die US-Regierung, dass die Asylprozesse ausgesetzt blieben.

Zweitgefährlichste Stadt der Welt

Doch die mexikanischen Grenzstädte sind keine sicheren Aufenthaltsorte für Menschen mit Gewalterfahrungen. In Ciudad Juárez schossen die Mordzahlen während der Corona-Pandemie in die Höhe. Grenzschließungen und Störungen im Waren- und Personenverkehr wirkten sich auf den Drogenhandel aus. Eine gewaltsame Neuordnung der Routen und Territorien unter den Kartellen ist zu beobachten.

Nach Tijuana belegt Ciudad Juárez nun den zweiten Platz unter den gefährlichsten Städten der Welt. Die Mordrate ist so hoch wie vor einem Jahrzehnt. Damals war die Stadt militärisch besetzt, es gab soziale Säuberungen, Menschen starben oder wurden gewaltsam verschleppt. Gleichzeitig galt El Paso als eine der sichersten Städte der USA. Dorthin zogen sich die Auftragsmörder nachts zurück, Kartellangehörige brachten ihre Familien in wohlhabenden Vororten unter und kauften dort Waffen ein.

Mit Covid-19 ist nun auch der Friedhof San Rafaél weit vor den Toren von Ciudad Juárez wieder zu einem viel besuchten Ort geworden. Er liegt zwischen Müllhalde, Hochsicherheitsgefängnis und Schrottplätzen mitten in der Wüste. Die Todesursachen der Bestatteten sind vielfältig. Der Vater des toten 19-Jährigen, der heute als Letzter beerdigt wird, hat den Angestellten ein paar Scheine in die Hand gedrückt, damit sie über die viel zu vielen Personen hinwegsehen, die trotz Corona-Auflagen die Trauerfeier besuchen. Eine Polka-Band spielt neben dem frisch aufgeschütteten Grab. Der Betrauerte ist an einer Überdosis ­gestorben. In den Gräbern daneben liegen Gleichaltrige, die ermordet wurden. Über 500 Menschen sind seit der Ausrufung des "sani­tären Ausnahmezustands" Ende März in der Stadt gewaltsam zu Tode gekommen. Knapp 700 starben hier im gleichen Zeitraum am ­Corona-Virus; die meisten von ihnen waren in den Montagefabriken an der Grenze tätig.

Diese Toten hätten verhindert werden müssen.

Susana
Prieto
Arbeitsrechtsanwältin
Drei Personen sitzen in einem Fensterrahmen, im Hintergrund verläuft eine Brücke.

Die USA im Blick: Migranten in Ciudad Juárez

 

"Diese Toten hätten verhindert werden müssen", empört sich Susana Prieto. Die millionenschweren Weltmarktunternehmen seien dafür verantwortlich, ihre Belegschaften zu schützen. Die Arbeitsrechtsanwältin mit den dunkelroten Haaren und der durchdringenden Stimme ist tatsächlich die einzige Frau an der gesamten Nordgrenze, die der Macht der Montagefabriken etwas entgegensetzt.

Im Juni wurde sie deswegen willkürlich festgenommen und saß drei Wochen unter ­fadenscheinigen Beschuldigungen in Unter­suchungshaft – just als die mexikanische Wirtschaft trotz steigender Infektionszahlen wieder angekurbelt wurde. Allein in Ciudad Juárez sind knapp 300.000 Menschen, ein Viertel der Stadtbevölkerung, in rund 300 sogenannten Maquilas angestellt. Die meisten gehören US-Unternehmen, sie stellen Autoelektronik her, Medizin und Robotertechnik.

Prietos populäre Facebook-Videos dokumentierten akribisch, welche Betriebe trotz ­Regierungsdekret niemals die Produktion stoppten. "Nur die Streiks von Arbeitenden ­haben Unternehmen dazu bewegen können, sie bei hundertprozentiger Lohnfortzahlung nach Hause zu schicken." Das habe unzähligen Menschen das Leben gerettet. Andere Betriebe wie DB Schenker schlossen die Fabriktore erst nach Covid-Todesfällen.

Krank? Zurück an den Arbeitsplatz!

Der nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters "wohl schlimmste Ausbruch in einer Fabrik auf dem amerikanischen Kontinent" ereignete sich in der Río Bravo-Produktionsstätte des US-Autozubehörherstellers Lear Corporation. Dort hatte sich Anfang April Covid-19 rasant unter den 3.000 Angestellten verbreitet. Kolleginnen und Kollegen der vielen Verstorbenen berichten, dass diese zuvor mit klaren Symptomen zur Gesundheitsstation des Unternehmens gegangen seien, dort Grippe­mittel erhalten hätten und dann an ihren Arbeitsplatz zurückgeschickt worden seien.

Dreimal soll es Adela García so ergangen sein, eine der Arbeiterinnen, die schließlich am Corona-Virus verstarb. Lear Corporation schaltete eine Kondolenzanzeige in der lokalen Tageszeitung; bestätigt wurden 18 tote Mitarbeiter. Andere Quellen sprechen von bis zu 30 Toten. Das Unternehmen spendete eine Million US-Dollar für die Bekämpfung der Pandemie in Ciudad Juárez. Familien der an Covid-19 verstorbenen Arbeiterinnen und Arbeiter wurde eine Entschädigung von jeweils 2.800 Dollar angeboten. Ein neuer Kleinwagen kostet viermal so viel.

Fabriken als größte Infektionsherde

In den schmalen Vorhöfen der winzigen Reihenhäuser im ausgedehnten Süden der Stadt ist kein Platz für ein Auto vorgesehen. Für die dort wohnende Arbeiterschaft ist ein eigener PKW unerschwinglich. Auch wenn sie täglich die Elektronik für Autobesitzer in anderen Ländern zusammensetzen. Doch die wenigsten lehnen sich auf gegen das Leben in Armut, das sie trotz Arbeit führen müssen. Die Hoffnung auf den sozialen ­Aufstieg bleibt. Genauso wie die Hoffnung, dass die dünnen Bäumchen vor den Häusern den extremen Temperaturen der Wüste standhalten und eines Tages Schatten spenden.

Doch Corona hat die Arbeiterschaft in Angst versetzt. "Zu Recht", sagt Susana Prieto. Die Montagefabriken, wo Hunderte von Menschen zu Schichtbeginn zusammenkommen, sind die größten Infektionsherde in der Stadt. "Gleichzeitig haben Fabrikarbeiter nur Zugang zu öffentlichen Kliniken." Und diese haben sich in der Corona-Krise in Sterbehospize verwandelt. Lange schwankte die Covid-Sterberate in Ciudad Juárez zwischen 20 und 25 Prozent, während die US-Zwillingsstadt El Paso gerade mal zwei Prozent vorwies. Ausschlaggebend sind neben einem ruinösen Gesundheitssystem Wechselwirkungen mit Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck und Übergewicht. "Die Geißeln der Arbeiterschicht Mexikos", seufzt die Juristin, die ihr Studium mit Fabrikarbeit finanzierte.

Wer nicht an Corona stirbt, wird an Hunger sterben.

Susana
Prieto
Arbeitsrechtsanwältin

Angesichts einer marginalisierten Bevölkerung, die in Unter- und Fehlernährung lebt und zu wenig Bewegung bekommt, sind diese Krankheiten überproportional und schon im Kindesalter verbreitet. Und so gehört Mexiko mit rund 70.000 Toten (Stand September 2020) zu den Staaten mit den meisten Covid-Todesopfern weltweit. In Ciudad Juárez hat der Industrieverband Index nun verkündet, dass niemand mehr eingestellt werde, der diese Vorerkrankungen habe. "Wer nicht an Corona stirbt, wird an Hunger sterben." Prieto schüttelt empört den Kopf. "Das sind diskriminierende Maßnahmen."

Während Trailer an den Grenzbrücken Schlange stehen, um die Erzeugnisse der Maquilas termingerecht in die USA zu bringen, bleibt die Grenze für viele Menschen geschlossen. Dort, wo sich sonst die Autos stauen und Fußgänger vor der Passkontrolle Schlange stehen, desinfizieren Reinigungskräfte den Asphalt. Eine harte Probe für die Bevölkerung der Grenzstädte, in denen in fast jeder Familie große Unterschiede bei Staatsangehörigkeit, Aufenthaltsstatus und Besuchsvisa vorherrschen.

Ende März mussten sich so gut wie alle für eine Seite der Grenze entscheiden und zwischen Job, Familie, Gesundheitsvorsorge und Lebenspartner diesseits und jenseits der rostbraunen Mauer abwägen. Dass sich diese hochmilitarisierte Grenze noch dichter schließen lässt, hätte sich hier vor Corona niemand vorstellen können.

*Namen von der Redaktion geändert

Kathrin Zeiske ist freie Journalistin und berichtet aus Mexiko und Mittelamerika.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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