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Die Grenzen Europas
Auf hoher See: Blick von der italienischen Fregatte Grecale, Straße von Sizilien, 2014
© Carlos Spottorno & Guillermo Abril
Die Privilegien der Europäer, die Not der Flüchtlinge und ein brüchiges Fundament: Die Graphic-Novel "Der Riss" untersucht mit ungewöhnlichen Mitteln den Zustand der Europäischen Union – anhand einer Reise zu ihren Außengrenzen.
Von Maik Söhler
Ob der Blick von außen verstehen hilft? Aus der Sicht einer Syrerin, die vor dem Krieg flieht, erscheinen die Länder der Europäischen Union als Horte des Friedens. Aus der Perspektive eines Migranten aus dem Niger wirken die europäischen Staaten wohlhabend und versprechen Möglichkeiten, mit ein wenig Anstrengung und Glück vielleicht am Reichtum teilzuhaben. Zum Blick von außen gehört aber auch das Wissen, dass es gefährlich ist, sich auf den Weg in die EU zu machen: "Im Oktober 2013 ertranken 366 Bootsflüchtlinge vor der Küste von Lampedusa."
Es ist dieser Satz, der den Anfang einer Recherchereise bildet, die die Reporter Guillermo Abril (Text) und Carlos Spottorno (Foto) im Auftrag des spanischen Magazins El País Semanal an diverse Grenzen der Europäischen Union bringen wird. Den Anfang des Buches aber bildet jener Satz nicht. Dort finden sich der große Riss Europas am Ende des Zweiten Weltkriegs und die Hoffnungen der Europäer, diesen Riss mit einer gemeinsamen Vorstellung von der Zukunft kitten zu können. Aus einem Teil dieser Vorstellung entsteht die EU.
Es ist ein pathetischer Einstieg, den Abril und Spottorno für ihr Buch "Der Riss" wählen. Doch vom Pathos wird auf den folgenden Seiten nicht viel übrig bleiben. Risse durchziehen die EU, etwa die ökonomische Spaltung zwischen Ländern des Nordens und Ländern des Südens, auch starke politische Differenzen zwischen autoritär regierten osteuropäischen und liberal verwalteten westeuropäischen Staaten werden deutlich, weiterhin kulturelle und sprachliche Spannungen, die immer wieder zeigen, wie viel Nationalstaat in der vermeintlich supranationalen Europäischen Union steckt.
Wo das Trennende wächst, haben es Gemeinsamkeiten schwer. Und doch gibt es sie, wenn auch im Buch nur in negativer Form. Es gibt sie innerhalb der EU, in Form rechtspopulistischer Parteien, die Ängste schüren und Ressentiments produzieren gegen die Anderen, die Flüchtlinge und Migranten. Und es gibt sie außen, an jeder Grenze, in Form der gemeinsamen Versuche, Flüchtlinge und Migranten abzuwehren, egal ob in Melilla, der spanischen Exklave in Marokko, im türkisch-bulgarischen Grenzgebiet, im Mittelmeer, im Osten Polens oder des Baltikums und auch im Norden, wo Finnland an Russland grenzt.
All das sind Stationen, von denen die beiden Reporter berichten – in einem ungewöhnlichen Format. Spottornos Fotos wurden nachkoloriert, mit knappen beschreibenden Passagen Abrils versehen und als Graphic Novel aufbereitet. In einer klassischen Magazin-Reportage hat der Text meist Vorrang vor den Bildern, in einem Fotoband ist es umgekehrt, die Graphic Novel aber liefere "die perfekte Sprache für uns", sagt Spottorno in einem Interview-Nachwort, weil "Text und Foto gleichberechtigt sind und sich gegenseitig bereichern".
Und noch eine Stärke bietet das Format der Graphic Novel. "Der Riss" erzählt nicht die eine hermetische Geschichte vom europäischen Grenzregime, sondern zeigt die Unterschiede, die verschiedenen Risse, in den jeweiligen Grenzregionen: Die Angst vor dem übermächtigen Nachbarn Russland in Polen, Finnland und im Baltikum; die Angst Italiens, Spaniens und der Balkanstaaten, alleingelassen zu werden mit den Problemen, die eine rigide EU-Flüchtlingspolitik erzeugt; schließlich auch die Angst von Flüchtlingen und Migranten, zum Opfer all jener Europäer zu werden, die wiederum Angst vor ihnen haben. "Der Riss" verbindet Kunst und Journalismus und ist ein hervorragender Ausdruck eines neuen publizistischen Erzählens.
Carlos Spottorno & Guillermo Abril: Der Riss. Aus dem Spanischen von André Höchemer. Avant-Verlag, Berlin 2017. 184 Seiten, vierfarbig, 32 Euro.