Amnesty Journal Indien 26. Juli 2018

Früher Ikone, heute Mensch

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Aus Protest gegen die Notstandsgesetze im Nordosten ­Indiens verbrachte Irom Sharmila mehr als anderthalb Jahrzehnte im Hungerstreik. Vor zwei Jahren ging sie in die Politik – und fand die Liebe.

Julia Wadhawan traf sie in Kodaikanal

Sie hatte diesen Moment jahrelang geplant. Als es endlich so weit war, brach die Schwere der Entscheidung trotzdem über Irom Sharmila herein. Die Ärztin hatte einen Klecks Honig in ihre Handfläche gelöffelt, Sharmila schaute lange darauf, als würde sie darin nach einer Antwort suchen. Dann musste sie weinen. Eine Frau versuchte, ihr gut zuzureden: "Tu es, tu es!"

Sharmila legte kurz den Kopf in den Nacken und schaute ­hilfesuchend in den Himmel. Dann hob sie ihre linke Hand und leckte den Honig vom Zeigefinger. In die Tränen mischte sich Ekel, sie verzog das Gesicht, konnte kaum schlucken.

Zwei Jahre liegt dieser Moment nun zurück, an dem Irom Sharmila ihr Fasten brach, es war der 9. August 2016. Hunderte Journalisten waren gekommen, um dieses Ereignis zu dokumentieren: das Ende des längsten Hungerstreiks der Welt. 16 Jahre lang hatte angeblich kein Nahrungsmittel, nicht mal ein Tropfen Wasser, Sharmilas Gaumen berührt.

Die Frau mit den strähnigen Locken und dem Versorgungsschlauch in der Nase war eine Ikone. Mit ihrem Hungerstreik protestierte sie gegen ein Notstandsgesetz – den Armed Forces Special Power Act (Afspa) – im Bundesstaat Manipur im Nord­osten Indiens. Seit der Unabhängigkeit des Landes 1947 hatten in der Region Separatisten gegen die Zentralregierung in Delhi gekämpft – und auch gegeneinander. Sie forderten Autonomie, eine Abspaltung, manche wollen ihr altes Königreich Nagaland zurück.

Die Gräben verliefen zwischen Nachbarn und Ethnien, zwischen Berg- und Talbewohnern. Die indische Armee sollte die Region befrieden, das Gesetz räumte ihr deshalb zusätzliche Rechte ein. So dürfen die Soldaten ohne Begründung Häuser durchsuchen und Menschen festnehmen – in manchen Teilen der Region seit 60 Jahren. Aber die Soldaten nutzten ihre Macht aus: Menschenrechtler werfen der Armee vor, Frauen vergewaltigt und mehr als 1.500 Menschen ermordet zu haben.

Irom Sharmila wurde damals wegen ihres stillen Kampfs in einem Zug mit Mahatma Gandhi genannt, 2005 war sie Kandidatin für den Friedensnobelpreis. Manche nannten sie Göttin, andere "die eiserne Lady von Manipur". Sie wollte kein Symbol sein, sondern etwas bewirken. Mit dem Ende ihres Streiks verkündete Sharmila den Beginn ihrer politischen Karriere. Aber auch damit scheiterte sie. Die eiserne Lady gab auf, das Notstandsgesetz existiert jedoch nach wie vor. Wie fühlt sich das an?

Sharmila summt und verschwindet barfuß in der Küche. Am Anfang ihres neuen Lebens sei jeder Schluck Wasser eine Qual gewesen. Reis, Linsen, Gemüse, alles schmeckte viel salziger und schärfer als in ihrer Erinnerung. Aber ihr Körper gewöhnte sich schnell um. "Ich bin nur eine einfache Frau, die sich Liebe, Gerechtigkeit und ein normales Leben wünscht."

Sie ist jetzt 46 Jahre alt und wohnt mit ihrem Ehemann am anderen Ende des Landes, in Kodaikanal, einem Bergdorf im Süden. Sharmila hat zum Gespräch auf den Teppichboden gebeten. Die Wangen leicht gerötet, das lockige Haar voll, nichts erinnert an die körperlichen Strapazen der letzten Jahrzehnte. Sie sagt: "Ich habe jetzt mein eigenes Leben."

Sharmila war 28, als ihr Kampf begann. Einen Tag zuvor ­waren zehn Zivilisten, darunter Kinder, an einer Bushaltestelle im Ort Malom von der Armee erschossen worden. Die junge Frau arbeitete damals für die Menschenrechtsorganisation ­Human Rights Alert und fühlte sich hilflos. Sie wollte handeln. Am ­nächsten Tag setzte sie sich im Schneidersitz in den Garten ­einer Kollegin und beschloss, nicht mehr zu essen, bis das Notstandsgesetz Geschichte war.

So eine Weigerung kann machtvoll sein. "Wenn der Körper schwächer wird, kann merkwürdigerweise auch die Obrigkeit schwächer werden", schreibt die US-Wissenschaftsautorin Sharman Apt Russell. Sharmilas Vorbild war Mahatma Gandhi. Er fastete mindestens 14 Mal aus politischen Gründen. Das erste Mal dauerte es zwei Tage, bis seine Forderung erfüllt wurde. Das letzte Mal begannen seine Nieren zu versagen. Dann lenkte die Regierung ein.

Sharmilas Protest duldete der Staat nur  drei Tage, dann nahm man sie fest. Vorwurf: versuchter Selbstmord. Bis 2017 war das in Indien strafbar. Sharmila wurde durch eine Nasensonde zwangsernährt, der Schlauch zum Symbol ihrer Bürde. Ihr Protest wurde verbannt, in einen banalen Rechtsstreit und in den Raum 4A des Jawaharlal-Nehru-Instituts für medizinische Forschung (JNIMS) in Imphal, Manipur. Alle paar Wochen musste sie hier vor Gericht, wo sie immer wieder dieselben Sätze wiederholte: "Dies ist ein friedlicher Protest. Ich liebe das Leben." Ihr Kampf wurde zur absurden Normalität.

Trotzdem hielten ihre Anhänger fast krampfhaft daran fest. Als Sharmila im Juli 2016 das Ende ihres Streiks verkündete, ­protestierten einige. "Sie wollten, dass ich weitermache. Aber was taten sie selbst? Sie wälzten die gesamte Verantwortung auf mich ab", sagt Sharmila leise. Und: "Wie kann eine einzelne Person die Gesellschaft verändern?"

War ihr Kampf umsonst? Natürlich verneint Sharmila: "Durch meinen Protest wurde Afspa weltweit bekannt. Die Armee musste darauf reagieren, an ihrem Image arbeiten. Heute ist die Lage viel besser." Sogar das europäische Parlament appellierte an die indische Regierung, Afspa aufzuheben. Aber das ­Gesetz existiert weiter, bis heute.

"Vielleicht liegt es an meiner fehlenden Intelligenz", sagt Sharmila. "Gandhi und Nelson Mandela waren Juristen. Sie konnten ihr Wissen für ihren Kampf nutzen. Ich weiß nicht viel, ich wollte mit einfachen Methoden kämpfen." Für ihr neues Leben in der Politik hat das nicht gereicht. Bei den Regionalwahlen im März 2017 bekam der Gewinner 10.740 Stimmen, Sharmila gerade mal 90. Sie hatte keine Erfahrung, kein politisches Programm. Sie hatte nur ihre Willenskraft. Gern würde sie davon ­etwas an die heranwachsenden Generationen abgeben. "Die jungen Menschen studieren jahrelang und am Ende wählen sie einfach, was ihre Eltern sagen." Das ärgert Sharmila.

Heute ist sie aber nicht mehr nur Aktivistin, sondern vor ­allem Mensch – und Ehefrau. Das ist die nächste unglaubliche Geschichte in Sharmilas Leben. Mitten in ihrer Isolation fand sie die Liebe. Sie heiratete einen Inder mit irischem Pass. Jahrelang hatte er ihr Briefe geschrieben, war bei Gerichtsterminen aufgetaucht und hatte ihr Bücher geschickt. Vielleicht trieb sie die ­Liebe auch zurück ins Leben, viel erzählt sie nicht darüber. Stattdessen sagt sie: "Ich beneide die Vögel. Sie können überall hinfliegen, ohne dass jemand ihnen befiehlt: Das hier ist dein Ort, deine Kultur, deine Religion." Die Frau, deren Identität 16 Jahre über ein einziges Ziel definiert war, will sich offenbar lösen von jeder Zuschreibung. Sie hat jetzt ihr eigenes Leben. 

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