Amnesty Journal Hongkong 01. November 2019

Hongkongs Dilemma

Menschen von hinten, die Leuchtkörper in die Höhe halten, im Hintergrund Hochhäuser einer nächtlichen Stadt.

Die kommunistische Führung in Peking hoffte, in einer Übergangszeit von 50 Jahren ließe sich Hongkong nicht nur politisch, sondern auch mental einverleiben. Doch im Jahre 22 sind sich die beiden Systeme fremder denn je.

Von Felix Lee

Die rote Fahne nur zerknüllen? Das reichte Tony Chung nicht. Mit großer Wucht zerbrach er auch die Fahnenstange und schmetterte sie zu Boden. Der 18-jährige Schüler hatte sie zuvor einem Demonstranten entrissen, der für die chinesische Zentralregierung in Peking auf die Straße gegangen war. Jemand filmte die Szene auf Video. In der Hongkonger Protestbewegung wurde der Schüler zum Star. Doch hat er seitdem auch Ärger mit der Polizei, die ihn am nächsten Morgen zum Verhör abholte. Ihm droht nun eine Haftstrafe. "Der Kampf lohnt sich", sagt Tony Chung dennoch trotzig: "Schließlich steht unsere Zukunft auf dem Spiel."

Nicht nur ihm geht es um nicht weniger als die Zukunft Hongkongs. Im 22. Jahr nach der Übergabe durch Großbritannien sind sich die südchinesische Sonderverwaltungszone und Festlandchina fremder denn je. Die kommunistische Führung in Peking hoffte lange, in der vereinbarten Übergangszeit von fünfzig Jahren ließe sich die ehemalige britische Kronkolonie nicht nur politisch, sondern auch mental schrittweise einverleiben. Doch inzwischen zeigt sich: Das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" ist gescheitert. Stattdessen eint eine Mehrheit der Hongkonger das Gefühl, an der Frontlinie eines epischen Konflikts zwischen Freiheit und Unterdrückung zu stehen. Und sie sind fest entschlossen, ihn fortzusetzen.

Entzündet hatte sich ihr Protest an einem umstrittenen Auslieferungsgesetz, das die Überstellung mutmaßlicher Straftäter aus dem teilautonomen Hongkong an Chinas Justiz vorsah. Schon ein Verdacht sollte eine Auslieferung möglich machen. Das Gesetz hätte es Hongkongs Behörden erlaubt, Bürger an die autoritär regierte Volksrepublik auszuliefern, in der es kein unabhängiges Rechtssystem gibt. Und das hätte womöglich auch Dissidenten und Kritiker des autoritären Regimes in Peking betroffen.

Der Kampf lohnt sich. Schließlich steht unsere Zukunft auf dem Spiel.

Tony
Chung
18-jähriger Schüler

Dieses Gesetz ist gestoppt. Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam hatte es bereits im Juni für "tot" erklärt und nahm es inzwischen komplett zurück. Die Demonstrationen sind seitdem aber nicht abgeebbt. Im Gegenteil: Zogen anfangs Hunderttausende friedlich und bunt durch Hongkongs enge Straßen, dominiert bei den Demonstrationen nun die Farbe schwarz. Inzwischen kommt es dabei fast täglich zu Gewalt. Längst fordern die Demonstranten nicht mehr nur den Rücktritt von Regierungschefin Lam, sondern wirklich freie Wahlen zur Legislativversammlung. Denn derzeit sitzt im Hongkonger Parlament eine Mehrheit von Scheinabgeordneten, die nicht frei gewählt sind, sondern von Peking ernannt werden. Einige Protestierende gehen sogar noch weiter und fordern Hongkongs Loslösung von der Volksrepublik – für die Führung in Peking ein Tabubruch, den sie als "Separatismus" anprangert.

Damit folgen die Proteste einer Dynamik, wie man sie aus westlichen Demokratien kennt. Je länger diese anhalten, desto radikaler werden die Forderungen. Nur: Hongkong ist keine westliche Demokratie. Das erklärt sich aus der jüngsten Geschichte: Bevor die Briten am 1. Juli 1997 nach 155 Jahren Kolonialherrschaft Hongkong dem chinesischen Staat übergaben, hatte die Volksrepublik nach langen Verhandlungen mit London zugesichert, der Stadt für weitere fünfzig Jahre wirtschaftliche, innenpolitische, soziale und kulturelle Souveränität zuzugestehen. Der damalige starke Mann in Peking, Deng Xiaoping, der kurz vor der Übergabe verstarb, hatte diesen Vertrag ausgehandelt. "Ein Land, zwei Systeme" lautete das Motto. 

Unter den Briten gab es in Hongkong zwar auch keine vollständige Demokratie, da London den Gouverneur bestimmte. ­Jedoch galten rechtsstaatliche Prinzipien, darunter eine unabhängige Justiz, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie eine weitgehend korruptionsfreie Verwaltung. Den Hongkongern wurde zugesichert, dass sie weiter über diese Rechte verfügen dürfen, die den Chinesen in der autoritären Volksrepublik bis heute vorenthalten werden. Deng wollte den Hongkongern die Angst vor dem chinesischen Festland nehmen. Er setzte darauf, dass sich die beiden völlig unterschiedlichen Systeme über die Jahre annähern würden. Tatsächlich verdienten viele Hongkonger zunächst kräftig an der sich öffnenden Volksrepublik. Die Wirtschaftsleistung der Stadt hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren mehr als verdoppelt. Legt man das Pro-Kopf-Einkommen zugrunde, ist Hongkong eine der reichsten Städte der Welt.

Inzwischen lebt dort aber eine Generation, die so selbstverständlich mit demokratischen Werten aufgewachsen ist wie ­junge Menschen in den USA oder Europa. Anders als ihre Elterngeneration profitieren sie auch nicht von Chinas Aufstieg. Im Gegenteil: Sie leiden unter dem Ansturm reicher Festlandchinesen, den exorbitant gestiegenen Immobilienpreisen und den teuren Geschäften und Restaurants, die allesamt auf die kaufkräftigen Touristen aus der Volksrepublik ausgerichtet sind.

Die Kritik an dieser Entwicklung trat bereits 2014 zutage: Hunderttausende zumeist junge Hongkonger gingen damals auf die Straße und forderten eine Wahlrechtsreform, die es ­ermöglicht hätte, auch den Regierungschef der Sonderverwaltungszone frei wählen zu können. Bei der Aktion "Occupy Central" blockierten Aktivisten über Monate hinweg das Hongkonger Regierungsviertel. Dabei blieben sie durchweg friedlich. 

Doch weder die Führung in Peking, noch die Hongkonger ­Regierung gingen auf die Forderungen ein. Im Gegenteil: Die Aktivisten mussten mitansehen, wie ihre Freiheiten noch mehr ausgehöhlt wurden. So waren Ende 2015 plötzlich fünf Hongkonger Buchhändler spurlos verschwunden, die bekannt dafür waren, Peking-kritische Bücher zu verkaufen. Einige Wochen später trat einer der Verschwundenen im chinesischen Staatsfernsehen auf – mit einem Schuldgeständnis. Zudem wurden gewählten Abgeordneten der Pro-Demokraten ihre Sitze im Parlament aberkannt, die Organisatoren der Proteste von 2014 mit Prozessen überhäuft. Einige von ihnen verbüßen immer noch Haftstrafen.

Noch will es Peking nicht darauf ankommen lassen, mit der Volksbefreiungsarmee in die Sonderverwaltungszone einzumarschieren. Die Zentralregierung droht zwar im Staatsfernsehen mit martialischen Bildern, die zeigen, wie die Armee an der Grenze zu Hongkong mit Militärfahrzeugen aufrüstet, angeblich zu "Übungszwecken". Ein Einmarsch der Volksbefreiungsarmee in Hongkong wäre jedoch von Gewaltausbrüchen und Verhaftungen begleitet. Das würde womöglich an die blutige Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juli 1989 in Peking erinnern – und solche Bilder will die Pekinger Führung möglichst vermeiden.

Nach außen hin setzt Xi Jinping daher trotz aller Drohungen darauf, dass es der Hongkonger Regierung selbst gelingt, die Demonstrationen einzudämmen. Sollte ihr dies nicht glücken und sollten sich die Proteste noch weiter radikalisieren, könnte sich Pekings Haltung aber schnell ändern. Denn das Machtmonopol der Kommunistischen Partei darf nicht angezweifelt werden – auch nicht von den Hongkongern mit ihrem Sonderstatus.

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