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Anatolische Stadtmusikant*innen
Derya Yıldırım und der französische Produzent Graham Mushnik haben türkische Wiegenlieder und Folksongs neu eingespielt.
© Buback Records
Mit "Hey Dostum, Çak!" holt die Hamburger Musikerin Derya Yıldırım das musikalische Erbe der ersten Gastarbeiter*innengeneration in die deutsch-türkische Gegenwart.
Von Thomas Winkler
Im Jahr 1981 reiste Barış Manço mit seiner Band nach Bremen. Der türkische Rock-Pionier hatte ein neues Lied mit dem Titel "Arkadaşım Eşek" im Gepäck, übersetzt: "Mein Freund der Esel". Was lag da näher, als in der Heimat der Bremer Stadtmusikanten einen Videoclip zu drehen? Auf YouTube kann man den langhaarigen Manço, seinen beeindruckenden Schnäuzer und seine coolen Mitmusiker*innen sehen, wie sie vor dem Stadtmusikanten-Denkmal zum Playback die Lippen bewegen und mit gespielter Begeisterung durch die pittoresken Gassen der Hansestadt laufen – mit denselben großen Augen, die zur selben Zeit vermutlich deutsche Tourist*innen in Istanbul machten.
Solche interkulturellen Wechselwirkungen und historischen Querbezüge tauchen immer wieder auf, wenn man "Hey Dostum, Çak! – Music for children and other people" hört. Die Hamburger Musikerin Derya Yıldırım und der französische Produzent Graham Mushnik haben türkische Kinderlieder und Folksongs, aber auch Klassiker aus Pop und Rock neu eingespielt – für Kinder und Erwachsene.
Stimme im Einwanderungsdiskurs
Echte Kinderlieder sind auf "Hey Dostum, Çak!" zu hören, wie der Klassiker "Mini Mini Bir Kuş". Ein Chor von Kindern aus Yıldırıms Verwandtschaft singt den ansteckenden Kehrreim. Auch "Atem Tutem Men Seni" kennt in der Türkei jedes Kind. Es ist ein altes Wiegenlied, in dem die Mutter verspricht, das Kind zu streicheln, bis der Vater abends nach Hause kommt. Wenn Yıldırım es singt, wird es zu einer wundervoll melancholischen Ballade in der Tradition des anatolischen Klagelieds.
Yıldırım, die sonst mit ihren Bands Grup Şimşek, in der auch Mushnik aktiv ist, und dem Kammermusikorchester Ensemble Resonanz deutsch-türkische Wirklichkeit in zeitgemäße Musik übersetzt, will mit diesem Projekt jene Lieder bewahren, die sie selbst in ihrer Kindheit begleitet haben. Lieder, die ihre Mutter ihr vorsang, die ihr Vater auf der Bağlama spielte und die sie später selbst auf der Langhalslaute übte. Lieder, mit denen mehrere türkische Immigrantengenerationen aufgewachsen sind. Dieses Erbe droht nun in Vergessenheit zu geraten, weil die dritte und vierte Generation oft kein Türkisch mehr spricht.
So ist "Hey Dostum, Çak!" auch ein Beitrag zum aktuellen Diskurs, wie das Einwanderungsland Deutschland mit den kulturellen Traditionen seiner Immigrant*innen umgeht und was sie unter Integration verstehen. In "Arkadaşım Eşek" fragt jemand, der die Heimat schon so lange verlassen hat, dass er "die Jahre nicht mehr zählen kann", wie es wohl heute in seinem Dorf aussieht: Gibt es den Hahn noch, der mit den Katzen stritt? Nicht erst, als Barış Manço und seine Band sich vor den Bremer Stadtmusikanten filmen ließen, war sein Lied auch eines, mit dem sich die türkischen Arbeiter*innen und ihre Familien in der deutschen Diaspora identifizieren konnten. Wenn Derya Yıldırım nun, mehr als vier Jahrzehnte später, wieder von Trennung und Einsamkeit singt, dann ist das auch ein Kommentar zur aktuellen Lage – und "Hey Dostum, Çak!" ein Angebot an die deutsche Mehrheitsgesellschaft.
Derya Yıldırım & Graham Mushnik: "Hey Dostum, Çak! – Music for children and other people" (Buback)
Thomas Winkler ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.
MEHR MUSIK
von Thomas WInkler
Die Babyboomer haben es nicht leicht. Von allen Seiten werden sie angegriffen – und von Schrottgrenze besonders laut. Über einem scharfkantigen Wave-Gitarrenriff fragt sich die Hamburger Band, warum so viele "Boomer-Tränen" fließen. Die Antwort: Diese Generation glaube immer noch, "der Planet gehört ihnen, denn sie hätten ihn bezahlt", aber nun begehrten die Nachkommen endlich auf.
Die Erklärung mag etwas kurz greifen, aber schließlich sind wir nicht im Soziologieseminar, sondern im Punkrock. Schrottgrenze gehören zu dessen Veteranen, oder exakter gesagt: Veteran*innen. Denn seit Alex Tsitsigias die Band 1994 gründete, hat er eine Transformation zur Sängerin*, Texterin* und Gitarristin* Saskia Lavaux durchlaufen. Das neue Album "Das Universum ist nicht binär" ist das zehnte der Bandhistorie und der Abschluss einer "queeren Trilogie". Ausgehend von der eigenen Geschichte entwickelt Lavaux eine Erzählung, die zwischen gesellschaftlicher Bestandsaufnahme und politischem Pamphlet schwankt, die Liebeslieder ebenso kennt wie Agit-Prop. Im Titelsong wird programmatisch die Utopie, "ein Leben ganz ohne binären Zwang", beschrieben: "Stell dir vor wir wachen auf, und alle so: Yeah! / Und es wär’ der allerschönste Morgen, denn das Patriarchat wäre gestorben."
Man muss nicht Klaus Theweleit gelesen haben, um den Song "Männerphantasien" zu verstehen, denn Lavaux kann sperrige Phrasen wie "toxische Schablonen" singen, ohne dass die Songs ihren Pop-Charakter einbüßen. Schrottgrenze wehren sich zwar seit Jahrzehnten tapfer, vom Mainstream umarmt zu werden. Aber mit diesem Album und seinem unheimlich eingängigen Pop-Rock könnten sich die Ex-Punks womöglich doch als U-Boot in den Mainstream schmuggeln, um dort queere Positionen zu verankern, die im deutschen Pop – im Gegensatz zur internationalen Konkurrenz – immer noch ins Minderheitenghetto verbannt sind.
Schrottgrenze: "Das Universum ist nicht binär" (Tapete / Indigo)