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Stammgast Alexey Tikhomirov schätzt besonders die Dystopien von Vladimir Sorokin.
© Nicoló Lanfranchi
Natalia Smirnovas Berliner Buchhandlung Babel Books ist spezialisiert auf regierungskritische Bücher. Zwischen den Regalen begegnen sich Exil-Russ*innen und Autor*innen.
Von Tigran Petrosyan (Text) und Nicoló Lanfranchi (Fotos)
Alexej Nawalnys Tod hat die Hoffnungen vieler Exilruss*innen auf ein Ende der Repression in Russland schrumpfen lassen. Was den Tausenden, die ihr Land verlassen mussten, noch bleibt? Lesen. Darum kümmert sich Natalia Smirnova in Berlin. Im Stadtbezirk Prenzlauer Berg eröffnete sie im Herbst 2023 eine kleine Buchhandlung samt einladender Terrasse. Ihr Ziel: mit Literatur einen Raum für oppositionelles Denken zu schaffen. "Babel Books Berlin" ist auf kritische russischsprachige Literatur spezialisiert.
An einem regnerischen Samstagvormittag packt Natalia Smirnova Bücher aus Kisten und sortiert sie, bevor die ersten Kund*innen kommen. Die 45-Jährige trägt ein schwarzes T-Shirt, auf dem in weißer Schrift "Publishers" steht. Schon seit fast neun Jahren wohnt sie mit ihrem Ehemann und drei Kindern in Berlin. In Sankt Petersburg betrieb sie eine Literaturagentur, ihr Mann arbeitete als Architekt. "Wir bemühen uns, die Antikriegs- und Antiregime-Autor*innen möglichst sichtbar zu machen", sagt sie und drapiert Bücherstapel auf die Vitrine neben der Kasse.
"LGBT-Propagandisten" und "ausländische Agenten"
Die allermeisten der Bücher wurden von vermeintlich gefährlichen Leuten verfasst: "Terroristen und Extremisten", "LGBT-Propagandisten" und "ausländischen Agenten" – so nennt der Kreml Autor*innen, deren Werke aus den Buchhandlungen und Bibliotheken in Russland verbannt sind. Die Schriftsteller*innen selbst leben längst im Exil. Zum Beispiel der Krimiautor Boris Akunin, der Poet und Menschenrechtsaktivist Alexander Delfinov, der Schriftsteller und Journalist Dmitri Gluchowski, allesamt Feinde von Wladimir Putin und seinem politischen System.
Als Smirnova einen Freund in Tel Aviv besuchte, gefiel ihr dessen Buchhandlung "Babel Books Tel Aviv" so sehr, dass sie zusammen mit ihrem Ehemann einen ähnlichen Laden in Berlin eröffnete. Etwa 4.500 Kund*innen haben bis jetzt etwa 10.000 Bücher gekauft. Doch die Buchhandlung ist auch ein Ort, an dem sich Autor*innen und Leser*innen begegnen. Bei Lesungen und Buchvorstellungen geht es um Themen wie russische Kriegsverbrechen und deren Folgen in der Ukraine, die Situation der politischen Gefangenen in Russland und die Frage, wie man dramatische Zeiten überwindet und eine gerechtere Justiz erreicht.
Will einen Raum für oppositionelles Denken schaffen: Natalia Smirnova in ihrem Buchladen Babel Books
© Nicoló Lanfranchi
"Schon lange vor dem russischen Großangriff auf die Ukraine 2022 hatten wir geplant, Russland zu verlassen. Wir konnten uns nicht mehr wie wir selbst fühlen. Vor allem wollten wir unsere Kinder von den Kreml-Ideologien fernhalten und suchten die Freiheit außerhalb Russlands", sagt Smirnova. Sie macht eine lange Pause, sucht nach den passenden Worten. "Es war ein Irrtum, zu glauben, man könne in Russland unabhängig und fern vom Staat leben", fährt sie schließlich fort. Nach dem Zerfall der Sowjetunion, von 1990 bis Anfang 2010, als das zivilgesellschaftliche Engagement erstarkte, das kulturelle Leben aufblühte und es in Großstädten wie Moskau und Sankt Petersburg eine gute Infrastruktur gab, hätten viele Menschen diese Hoffnung geteilt, meint sie. Doch die Träume hätten sich nicht erfüllt.
Zwischen Protest und Kooperation
Wie es mit Russland weitergeht, beschäftigt sie heute weniger. Sie glaubt nicht, dass sich in absehbarer Zeit etwas zum Besseren wenden wird. "Die Menschen in Russland haben die Frage nach der Zukunft auf unterschiedliche Weise beantwortet", sagt sie. Einige haben das Land bereits verlassen, andere haben Wege gefunden, zu protestieren. Wieder andere haben sich entschieden, mit der Regierung zu kooperieren. "Mein größter Wunsch ist, dass der Krieg in der Ukraine endlich aufhört und das Sterben der Menschen ein Ende hat."
Als ein Mann mit seinem Kind hereinkommt, lässt der kleine Junge sofort die Hand seines Vaters los und läuft zu den Spielzeugkisten am Fenster. Er weiß, wo die kleinen Autos versteckt sind, und holt sie heraus, während sein Vater in den Büchern blättert. Ein Stammkunde.
Alexey Tikhomirov ist 45 Jahre alt und hat Russland nach dem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 mit seiner Familie verlassen. "Im Exil kann man nicht viel mehr tun, als zu lesen", sagt der IT-Spezialist halb ernst, halb scherzend. Er hat für sich, seine Frau und sein Kind schon ein Bündel neuer Bücher gepackt.
"Zeitgenössische Autor*innen, die noch in Russland leben, spiegeln die Realität heute leider nicht wider. Aus den bekannten Gründen", sagt er. Er meint die Zensur. Eine kritische Reflexion findet er deshalb nur bei den bereits aus ihrer Heimat geflohenen Autor*innen. Gezielt greift Tikhomirov nach dem jüngsten Roman von Vladimir Sorokin. "Man braucht Zivilcourage, um die Werke dieses Autors zu lesen", sagt er. "Das Erbe" ist der dritte und letzte Teil der Trilogie des Kremlkritikers, der heute ebenfalls in Berlin lebt. "Vielleicht habe ich eines Tages das Glück, ihn zu treffen", meint Tikhomirov.
Postapokalyptische Visionen
Sorokin gilt als einer der Hauptvertreter der russischen Postmoderne. In seinen literarischen Werken versucht er, politische Systeme und moralische Tabus zu durchbrechen. Im Jahr 2002 warfen Vertreter*innen der kremlnahen Jugendorganisation Exemplare seiner Bücher in eine Toilettenattrappe. 2023 wiesen die staatlichen Behörden russische Buchhandlungen und Bibliotheken an, Sorokins Werke aus dem Sortiment zu nehmen. Sein jüngster Roman "Das Erbe" spielt in einer postapokalyptischen Zukunftswelt, in der Riesen und Zwerge, Orgien, Rituale, Zeremonien, Gentechnik und das Atomzeitalter koexistieren. Sorokin lässt Russland sowie die russische Sprache zerfallen. "18Plus" seht auf dem Buchcover. "Ich bin gespannt", sagt Tikhomirov.
Seine Bibliothek zu Hause besteht nicht nur aus verbannten russischen Büchern. Er interessiert sich ebenso für den Nationalsozialismus und die Mobilisierung der deutschen Gesellschaft zur damaligen Zeit und hofft, aus der Vergangenheit Europas auch für die Zukunft Russlands Lehren ziehen zu können. "Es geht um das totalitäre Regime und wie es seine Macht ausübt. Mich interessiert dabei, wie die Bürger*innen in kurzer Zeit ihre Meinungen und Handlungen verändern. Wie kann es sein, dass Menschen, die sich vor Kurzem noch die Hand gegeben und einander zugelächelt haben, sich jetzt nur noch hassen?" Dann verabschiedet er sich von Smirnova und eilt zum Ausgang, wo sein Sohn bereits auf ihn wartet.
"Haben Sie Mandelstam?", fragt eine ältere Frau laut. Ein Mann, der schon seit über einer halben Stunde an einem Tisch in ein Buch versunken ist, hebt kurz den Kopf, bevor er weiterliest. Smirnova schiebt die Leiter an die Bücherwand und klettert hinauf. 4.000 Bücher vom Klassiker bis zum Kinderbuch hat sie im Angebot. Ein Mädchen muss sie jedoch enttäuschen: Es gibt keine Fantasybücher in den Regalen. Von einem Jungen nimmt sie eine Bestellung entgegen – eine Liste mit Fachliteratur. Sie drückt einer Kundin einen Geburtstagsgutschein in die Hand. Die möchte ihn aber noch in einen Umschlag verpackt haben.
Jenia und Andrei sind zum ersten Mal in der Buchhandlung. Rund 600 Kilometer haben sie dafür zurückgelegt. Das junge Paar, Mitte 20, will seine Nachnamen aus politischen Gründen nicht nennen, die beiden flohen vor knapp zwei Jahren aus Russland nach Polen.
"Bücher werden Krieg und Unterdrückung nicht stoppen, aber sie helfen uns, unsere Gedanken als Dissidenten zu sortieren, was unser Leben ein wenig leichter macht", sagt Jenia, und Andrei ergänzt: "Fern von unserer Heimat und mit Angst um die in Russland zurückgebliebenen Familien."
Jenia drückt ein Buch fest an ihre Brust. "Mein Lieblingsland" ist eine Sammlung von Reportagen der russischen Journalistin und LGBTI-Aktivistin Jelena Kostjutschenko, die 17 Jahre lang für die unabhängige Zeitung Nowaja Gaseta arbeitete. Kostjutschenko berichtet, wie Russland langsam in den Krieg schlitterte und versammelt Geschichten von Menschen aus der Vorkriegs-und Kriegszeit. Herausgebracht wurde das Buch vom Verlag des größten Oppositionsmediums Meduza.
"Ich teile ihre Meinung und ich will solidarisch mit ihr sein. Mit meinem Kauf will ich auch die Verbreitung vor Anti-Kriegsliteratur unterstützen", sagt Jenia und schlägt die letzte Seite des Buchs auf: "Kann ein Wort einer bewaffneten Tyrannei standhalten? (nein) Kann ein Wort einen Krieg beenden? (nein) Kann ein Wort ein Land retten? (nein) Kann ein Wort denjenigen retten, der es spricht? Es hat mich gerettet. Aber nur mich." Ein Lächeln huscht über Jenias Gesicht. Sie sagt leise, als dürfe es niemand hören: "Es hat auch mich gerettet."
Website von Babel Books Berlin: https://babelbooksberlin.com/
Tigran Petrosyan ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.