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Gegen den Totalitarismus der guten Laune
Philosoph Wilhelm Schmid
© Privat
Hat selbst die Corona-Krise ihr Gutes? Ja, sagt der Philosoph Wilhelm Schmid und fordert ein Menschenrecht auf schlechte Laune.
Interview: Lea De Gregorio
Herr Schmid, wie ist Ihre Laune heute?
Meine Laune ist meistens relativ gut.
Hat die Corona-Situation Ihre Laune verschlechtert?
Im ersten Moment, als meine Frau und ich in Spanien den totalen Lockdown miterleben mussten, war das ein Absturz, weil wir nicht im Geringsten darauf gefasst waren. Aber dann haben wir uns schnell um das Naheliegende gekümmert. Ich bin heilfroh darüber, dass ein Großteil der Bevölkerung ohne weitere Dramatisierung einfach tut, was zu tun ist.
Also hielt Ihre schlechte Laune nicht lange an?
Ich komme mit sehr vielen Menschen zusammen und treffe niemanden, der wegen Corona dauerhaft schlechte Laune hat. Bei den Schlechtgelaunten handelt es sich um die paar Prozent, die ihre Theorien zu Corona aus dem Internet beziehen und sich davon schlechte Laune machen lassen.
Könnte Corona vielleicht sogar positive Auswirkungen haben?
Corona bringt die Welt auf Touren. Und historisch war es bei fast allen negativen Geschehnissen so, dass etwas Positives dabei herauskam. Insofern nehme ich an, dass es bei Corona genauso sein wird. Aber das lässt sich immer erst im Nachhinein sagen.
Was könnte das Positive sein?
Dass wir lernen, das Leben als etwas sehr Verletzliches zu sehen und dass wir alles tun sollten, um uns Ähnliches für die nähere Zukunft zu ersparen. Die weit größere Krise ist die Klimakrise. Sie steht schon seit langem am Horizont und wurde von sehr vielen Menschen nicht ernst genommen. Ich hoffe sehr, dass sich das nach Corona ändern wird.
Was raten Sie Menschen, denen Corona schlechte Laune bereitet?
Entscheidend ist die eigene Haltung. Sind wir darüber böse? Dann macht das noch mehr schlechte Laune. Oder sagen wir: Es hat auch einen Sinn, zum Beispiel, dass ich mal etwas "runterfahren" kann und nicht ständig darauf achten muss, unbedingt positiv drauf zu sein. Denn das ist sehr, sehr anstrengend, wenn das nicht von selbst so ist. Eine schlechte Laune wird vor allem dann schlechter, wenn wir sie nicht akzeptieren können.
Wenn Sie selbst meistens gute Laune haben, was hat Sie dann dazu motiviert, über schlechte Laune zu schreiben?
Dass ich diesen Totalitarismus der guten Laune nicht ertrage. Alles was total wird, ist schlecht, und seit etlichen Jahren wird den Menschen von vielen Medien weisgemacht, sie müssten permanent gut gelaunt sein und immer alles positiv sehen.
Sie fordern sogar ein Menschenrecht auf schlechte Laune.
Ich plädiere für ein Menschenrecht auf schlechte Laune, weil die nun mal wie die gute Laune ein Teil des Menschseins ist. Ich glaube nicht, dass es allein von der bewussten Entscheidung eines Menschen abhängt, ob er gute oder schlechte Laune hat. Sie können heute Abend beschließen, dass Sie morgen gute Laune haben. Und was geschieht, wenn Sie aufwachen und keine haben? Machen Sie sich dann gute Laune, und wenn ja, mit welchen Mitteln? Sie können alle möglichen Tricks anwenden, positive Musik oder positive Botschaften im Radio hören, alle negativen Anrufe abblocken. Aber das kostet Sie so viel Kraft, dass sie definitiv schlechte Laune haben werden.
In Ihrem Buch "Unglücklich sein. Eine Ermutigung" schreiben Sie von der drohenden Diktatur des Glücks. Werden wir zum Glücklichsein gezwungen?
Gezwungen wird niemand. Aber keiner kann diesem Trommelfeuer entkommen, dass positives Denken das Tollste auf der Welt sei und dass man unbedingt glücklich sein müsse, weil sich das Leben sonst nicht lohne. Die Tatsache, dass einige Menschen so furchtbar unter den Bewegungseinschränkungen im Rahmen der Corona-Krise leiden und bestreiten, dass es überhaupt Corona gibt, führe ich darauf zurück, dass diese Diktatur des Glücks total geworden ist. Das unbedingte Streben nach Glück hat zur Folge, eine unglückliche Situation nicht akzeptieren zu können.
Wie wirkt die "Diktatur des Glücks" auf Menschen, die in Armut leben oder benachteiligt sind?
Wenn Sie damit Menschen in armen südlichen Ländern meinen: Die müssen glauben, dass die Menschen im globalen Norden und Westen alle glücklich sind. Um nicht missverstanden zu werden: Ich trete jederzeit für die Verbesserung von Lebensbedingungen ein. Aber auch dann unterliegen alle Menschen ungefähr den gleichen Bedingungen, was das Leben angeht. Und diese Bedingungen des Lebens sorgen leider dafür, dass kein Mensch im totalen Glück lebt.
Welche Bedingungen meinen Sie?
Viele Menschen haben Ärger zu Hause, haben Probleme bei der Kindererziehung, erleben Trennungen und Entlassungen. Die Frage ist nur, auf welchem materiellen Niveau.
Es gibt ja auch in unserer Gesellschaft Menschen, die in materieller Armut leben. Wie erleben sie die "Diktatur des Glücks"?
Sie glauben meiner Erfahrung nach oft, dass das Leben ein Selbstläufer wäre, wenn sie so viel Einkommen hätten wie die oberen zehn Prozent der Gesellschaft. Das ist leider ein Irrtum. So lange Menschen materiell benachteiligt sind, können sie all ihre Probleme darauf projizieren, dass das Leben besser wäre, wenn sie bessergestellt wären. Diejenigen, die materiell bessergestellt sind, können nicht mehr projizieren, das kann sehr unglücklich machen.
Und denken Sie, dass Corona auch solch eine Projektionsfläche ist?
Das könnte sein. Es ist sehr beliebt, Lebensprobleme auf Verhältnisse und auf bestimmte Menschen zu projizieren und zu glauben, es liefe mit dem eigenen Leben besser, wenn die erstmal weg wären. Aber das Problem ist immer das eigene Leben.
Und Corona lenkt davon ab?
Nicht mehr lange.
Sie schreiben in Ihrem Buch von der Melancholie, die uns alle erst noch einholen wird.
Die Melancholie wird die vorherrschende Stimmung in den kommenden Jahrzehnten sein. Es kann schlimm werden, was auf uns wartet. Corona ist eine Episode von ein paar Monaten. In ein paar Jahren wird man weitgehend vergessen haben, was da mal war. Aber der Klimawandel ist keine Episode, er wird uns das ganze Jahrhundert beschäftigen.
Lea De Gregorio ist Volontärin des Amnesty Journals. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.
ZUR PERSON
Lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrte bis zur Altersgrenze Philosophie an der Universität Erfurt.
Neben seinem Buch "Unglücklich sein. Eine Ermutigung" erschienen von ihm unter anderem die Bücher "Das Leben verstehen" und "Selbstfreundschaft. Wie das Leben reicher wird" im Suhrkamp und Insel Verlag.
Anfang März 2021 erscheint neu: Heimat finden. Vom Leben in einer ungewissen Welt, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 480 Seiten, gebunden, 24 Euro.
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